Kapitel 19: Antworten
Auf dem Weg zum Geisterflur begegne ich keinen anderen Menschen.
Die Zeit ist perfekt. Entweder, sie sitzen im Unterricht, oder in ihren Zimmern, oder in irgendwelchen Workshops, aber die wenigstens haben um diese Zeit Lust dazu, durch die Flure zu stromern.
Einige Dinge sind wirklich in allen Internaten gleich.
Die Klinge des Messers schneidet leicht in meinen Unterarm, aber es ist zu riskant, es im offenen Flur aus dem Ärmel zu ziehen und es in eine bessere Position zu bringen.
Stattdessen laufe ich einfach schneller, bis ich den Geisterflur erreiche.
An der Tür hängt ein ausgeblichenes Schild, auf dem in roten Filzstiftbuchstaben „Geisterflur" steht.
Okay, wenn das gruselig aussehen soll, weiß ich wirklich nicht, wieso meine Tante mich unbedingt warnen wollte.
Ich ziehe die Tür langsam auf, die glücklicherweise laut knarzt.
Anscheinend wird sie nicht mehr regelmäßig geölt, also scheint dieser Flur wirklich nicht mehr besonders oft genutzt zu werden, was mich ziemlich beruhigt.
Ich gehe bis ans Ende des Ganges. Durch ein paar geöffnete Türen fällt Licht hinein, die Lampen an den Wänden sind alle ausgeschaltet.
Ein paar der Glühbirnen sind zersprungen, auf dem Boden liegen winzig kleine Glassplitter. Unwillkürlich muss ich an den Autounfall denken.
Meine Erinnerung daran wird jetzt schon rissig, und bleibt doch in gewissen Teilen glasklar. Das Zersplittern der Frontscheibe, der Druck des Autogurtes an meiner Schulter, das ohrenbetäubende Quietschen der Reifen – Moment, haben die Reifen überhaupt gequietscht?!
Ich erreiche die hintere Wand, drücke mich dort in die linke Ecke, ziehe endlich das Messer aus meinem Ärmel und schiebe den Stoff nach oben.
Ein feines Rinnsal Blut fließt über meine in dem bleichen Licht gespenstisch wirkende Haut und ich wische es notdürftig mit der anderen Hand weg.
Jetzt heißt es warten.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass William mindestens fünfzehn Minuten früher kommen wird, zumindest, wenn er wirklich etwas von der ganzen „Aufpassersache" versteht.
Trotzdem ziehen sich die Minuten wie Kaugummi, und weil ich aber jeden Moment damit rechnen muss, dass sich die Tür wieder knarzend öffnet, muss ich dort hinten bleiben, versteckt im Schatten der Wand.
Um halb fünf betritt William den Flur. Er geht langsam, seine Schritte sind leise und zögernd.
Ich presse mich so fest gegen die Wand, dass mir die Steine unangenehm in den Rücken schneiden, umklammere das Messer fester.
Ich habe nicht vor, ihn abzuschlachten - im Gegenteil: Lebendig hat er mir viel mehr zu erzählen, als seine tote Version.
William dreht sich um, läuft jetzt rückwärts, um die Türen in den Wänden und natürlich die Eingangstür selbst, im Auge zu behalten.
An sich ist das keine schlechte Idee, er hätte nur früher sichergehen sollen, dass im hinteren Teil des Flures niemand mehr auf ihn wartet.
Ich warte, bis er nur noch knapp zwei Meter vor mir steht, dann mache ich einen Schritt vorwärts und presse die Klinge des Messers an seinen Hals.
Er schreit nicht auf, keucht nur erschrocken und dreht sich dann ruckartig nach hinten. Damit ich ihm nicht versehentlich den Hals aufschlitze, ziehe ich das Messer weg, während er nach mir ausschlägt, mein Gesicht aber verfehlt.
William stolpert zurück, hebt den Kopf, seine Augen weiten sich überrascht, und ich halte das Messer vor ihn, berühre mit der Klinge sanft seinen Hals.
„Was soll das?", zischt er, nicht wirklich wütend, eher verwirrt.
„Was weißt du über den Bund?"
„Was?", fragt er, ich drehe das Messer ein wenig und er verzieht das Gesicht.
„Nochmal: Was weißt du über den Bund?"
„Können wir das Gespräch hier nicht anders führen. Zum Beispiel, ich weiß nicht ... ohne, dass du kurz davor bist, mich zu erstechen?!"
„Nein."
„Okay, aber wenn du das Messer nicht wegnimmst, werde ich garantiert keine einzige deiner Fragen beantworten.", sagt er und fängt langsam an zu lächeln. „Und ich weiß nicht, was du aus einer Leiche alles -"
„Okay, okay!", unterbreche ich ihn und ziehe das Messer ruckartig nach unten, ohne seinen Hals dabei zu streifen.
„Leg es weg. Bitte."
„Nein."
„Genieve, ich werde dich nicht angreifen!"
„Ernsthaft?! Erwartest du wirklich, dass ich dir das so einfach glaube?! Hm, mal überlegen: Warst du nicht derjenige, der gestern mit einem Seil in der Hand auf Angreifer gewartet hat?!", fauche ich.
„Woher weißt du das überhaupt?!", fragt William laut.
„Ich weiß alles.", entgegne ich.
„Außer, was der Bund ist.", bemerkt er grinsend.
„Fast alles.", korrigiere ich mich genervt.
„Genieve; ich verspreche dir, dass ich dich nicht angreifen werde, aber ich werde nur auf deine Fragen antworten, wenn du das Messer auf den Boden legst. Und zwar genau zwischen uns. Du willst mir vielleicht nicht vertrauen, aber um die Fragen ehrlich beantworten zu können, muss ich dir vertrauen können, und das ist schwierig, wenn du kurz davor bist, mir ein Messer in den Hals zu rammen."
„Du kannst mir vertrauen."
„Und wieso kannst du mir dann nicht vertrauen?"
Ich unterdrücke ein Seufzen und lege das Messer dann langsam auf den Boden zwischen uns. Ich weiß, wann ich aufgeben muss. Außerdem war sein Schlag eben schon nicht besonders gut, also glaube ich nicht, dass er mich ernsthaft verletzten könnte – es sei denn, er würde zuerst nach dem Messer greifen, und -
William lächelt so leicht, dass ich es fast übersehen hätte. Seine Mundwinkel sind höchstens einen Millimeter hochgezogen, zu erkennen ist das Lächeln nur in seinen Augen.
„Also: Was ist der Bund?", wiederhole ich und verschränke die Arme.
„Der Bund ist genau das, was der Name verrät. Ein Bund, zwischen den zwei reichsten Familien mit den dreckigsten Geheimnissen. Ein Bund, zwischen den Engels und den Detroyts."
Es ist, als hätte mir jemand Eiswasser in die Kehle gekippt.
„Der Bund sorgt für vieles, ursprünglich ging es vor allem darum, das Geld miteinander zu teilen, und so die andere Familie vor dem Ruin zu bewahren.
Aber dann haben die Detroyts den Engels plötzlich den Geldhahn zu gedreht, als die am Boden lagen, also wirklich ganz am Boden!
Sie haben ihre ursprünglichen Verbündeten in den Ruin getrieben, um als einziger auf dem Markt bestehen zu bleiben.
Seitdem sind eigentlich nur noch die Detroyts im Bund – aber die haben sich Verbündete gesucht, und zwar die kleinen Familie, die zu viel Geld geerbt haben. Sie traten dem Bund bei, damit sie niemals anfangen müssen, zu arbeiten und sich weiterhin darüber aufregen können, dass all die anderen Versager viel zu wenig arbeiten.
Die Detroyts stehen ganz oben, sammeln ruhig Teile des Geldes der anderen ein, und sichern ihnen trotzdem das Überleben im Glanz.
Die Sache ist nur die: Die Engels waren zwar am Boden, aber jetzt sie haben es irgendwie geschafft, sich zurückzukämpfen. Es dauerte eine Weile, bis sie herausgefunden haben, dass die Detroyts wieder mit dergleichen Masche arbeiten, und auf dem Weg sind, noch reicher, noch mächtiger zu werden.
Das fanden sie nicht ganz so lustig und, na ja ... sie haben eine Art Organisation gegründet, um den Bund zu zerstören und all die kleinen Familien zu retten und die Detroyts und all ihr erkauftes Reichtum, auf den Boden zu stoßen.
Denn all das Geld, das die Detroyts anpreisen: Das haben die nicht verdient. Sie haben so lang getan, als wären sie reich, bis sie reich waren. Sie haben eine Rolle so perfekt vorgespielt, dass die Rolle zur Realität wurde."
„Beeindruckend.", würge ich heraus, während in meinem Kopf in Endlosschleife „Genievedetroyt" wiederholt wird.
„Die Detroyts sind falsch und absolut toxisch.
Es ist ekelhaft, was sie den Leuten alles angetan haben!
Also, ich weiß nicht, wie schlimm ihre aktuelle Generation ist, vielleicht sind das privat ja total nette Leute, denen ihre Familie total wichtig ist -"
„Nope.", unterbreche ich ihn dumpf und starre wie hypnotisiert auf das Messer.
„- aber in dieser Welt sind sie skrupellos, und wir müssen sie aufhalten.
Diese Schule hier?!
Die Tenarc Academy wurde lange von ihnen kontrolliert. Sie zogen die Jugendliche hinab in ihre Keller, zwangen sie freundlich dazu, dem Bund ebenfalls beizutreten. Doch die Engels kehrten zurück, nahmen ihren alten Platz ein, und beschlossen, sie zu bekämpfen.
Tja, und seitdem herrscht Krieg.
Engels gegen Detroyts."
Ich nicke.
Meine Gedanken drehen sich.
Meine Familie, der pure Zucker und ihre falschen Kronenleuchter.
„Geh auf dein Zimmer, Genieve, wir bekommen Gäste."
„Lass die Messer in der Küche, Genieve."
„Ignorier sie einfach, dann geht sie schon."
„Du bist eine Schande für diese Familie! Du gehörst nicht zu uns!"
Ich höre ihre Schreie, schmecke das Salz meiner Tränen, spüre, wie Gänsehaut meine zitternden Arme überzieht.
„Mum, sie hat sie umgebracht! Genieve hat sie umgebracht!"
„Du bist eine Mörderin!"
„Wie kannst du deinem Spiegelbild noch in die Augen sehen?!"
„Du und deine seltsamen Angewohnheiten! Es ist, als wäre töten dein Hobby!
Hör auf uns zu quälen, du Missgeburt!"
„Du bist keine von uns, du bist keine Detroyt!"
Sie lagen so falsch.
Ich lag so falsch.
Die Detroyts?! Die freundliche Familie, die immer lachend auf den Covern der Zeitschriften prangt, Geld an Waisenkinder verschenkt und die schönsten Lippenstiftfarben verkauft?!
Kein Zucker. Absolut kein Zucker.
„Genieve?"
Ich habe immer angenommen, dass meine Familie ihr Geld durch nicht so ganz saubere Geschäfte verdient hat, aber das?!
„Hey, Genieve!"
Ich weiß nicht, wann es passiert, aber irgendwann bemerke ich, dass ich auf dem Boden sitze, und dass mein Mund langsam austrocknet, weil er nämlich offen steht.
William kniet vor mir, mustert mich besorgt: „Alles okay?"
Ich atme langsam aus.
„Ich hätte dir das gar nicht erzählen dürfen, ich weiß nicht, wieso –„
„Mir geht es gut.", unterbreche ich ihn tonlos. „Es ist nur ... du hast Recht. Die Detroyts sind absolut falsch und toxisch.
Und du kämpfst also für die Engels?"
William nickt langsam.
„Ich möchte teilnehmen. Ich möchte ein Teil der Organisation werden.", antworte ich fest und rappel mich auf, klopfe mir reflexartig Staub von der Jacke.
„Ernsthaft?!", fragt William lächelnd. „Also, ich meine -"
„Ja. Ernsthaft."
„Dann ... ich frage heute nach. Du kannst dann vielleicht morgen zum Treffen mitkommen, oder so ... ich frage nach.", sagt er langsam.
„Dankeschön.", sage ich und nehme mein Messer wieder in die Hand, schiebe es zurück in meinen Ärmel.
William beobachtet meine Aktion zwar verwirrt, sagt aber nichts dazu.
„Wir sehen uns.", verabschiede ich mich und gehe an ihm vorbei.
Natürlich könnte er mich jetzt erstechen, und ich bilde mir ehrlich gesagt auch schon ein, dass ich spüre, wie irgendeine Klinge sich in meinen Rücken drängt, aber ich habe keine Zeit dazu, darauf zu warten, dass er verschwindet.
Ich muss hier raus.
Ich muss nachdenken.
Außerdem habe ich nicht vor, für die Engels zu kämpfen. Ich glaube nämlich nicht, dass sie wirklich so unschuldig sind, wie William sie dargestellt hat.
Mein einziges Zeil ist es, gegen die Detroyts zu kämpfen.
Vielleicht ist es pure Rachsucht, die mich dazu drängt – aber vielleicht ist es ja auch nur der Sinn nach Gerechtigkeit.
Doch egal, was es letztendlich ist: Ich will meine Familie fallen sehen.
[-1737 Wörter-]
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