Kapitel 3
Die Jalousie öffnete sich mit einem gleichmäßigen Klacken. Mit apathischem Blick starrte Gerda auf die ausgedorrte Landschaft, die hinter den riesigen Panoramafenstern lag und in wenigen Wochen unter einer harten Eis- und Schneeschicht begraben liegen würde. Eine Eis- und Schneeschicht, die so undurchdringlich wäre, dass ihre Mutter im Haus gefangen wäre und hoffen müsste, dass die lächerlichen Vorräte, die sie in ihrem schäbigen Gewächshaus anbaute, ausreichen würden.
Aber da war sie selber schuld, dachte Gerda verbittert. Wie oft hatte sie Ma gesagt, dass sie anstatt in den verfluchten, von der Regierung propagierten, intelligenten Schlafroboter, der angeblich mit seinen sanften Berührungen und menschlichen Atemgeräuschen zu einem ruhigeren Schlaf beitragen könne, stattdessen in die Erneuerung der Kälteschutzverkleidung investieren solle, sodass der extreme Frost ihr nicht zum vierten Jahr in Folge die überholte Isolierung zerfraß?
Vertrocknete Bäume streckten ihre kahlen Äste wie Arme zum Himmel, als würden sie den Gott höchstpersönlich anflehen, ihnen gegenüber Gnade zu zeigen und Gerda wandte abrupt ihren Blick ab und schaute über die Schulter zu ihrer Schwester hinüber, die ihr Gesicht murrend in den Kissen vergrub. "Ich hab dir gesagt, du sollst nicht so viel trinken. Du weißt doch, dass du Alkohol nicht gut verträgst, Schatz", belehrte Gerda und bekam als Antwort nur ein frustriertes Stöhnen. Sie lächelte leicht, dabei war ihr gar nicht zum Lächeln zumute.
"Gigi!", rief ihre Mutter und hämmerte mit der flachen Hand mehrmals gegen die geschlossene Tür. "Vin Demoux hat die diesjährigen Tredecim Dies eröffnet!" Ihre Stimme klang beinahe hysterisch.
Jetzt schrie Gesha auf und verfiel gleich darauf in ein verzweifeltes Schluchzen.
Gerda presste sich beide Hände auf die Ohren und kniff die Augen zusammen. Nur für eine Sekunde. Dann atmete sie tief durch und trat zu ihrer Schwester ans Bett, die sich in den Kissen zusammenkauerte wie ein verletztes Tier.
"Hey... Liebes. Es ist alles gut", flüsterte Gerda und strich der Anderen behutsam über den zuckenden Rücken. Gesha richtete sich zitternd auf und sah ihre Schwester mit verweinten Augen an. "Zwanzig Jahre sind nicht genug! Zwanzig Jahre sind viel zu schnell vorbei! Ich will nicht sterben! Ich will nicht sterben! Das ist doch nicht fair!", kreischte sie und vergrub das Gesicht in den Händen.
"Du wirst nicht sterben." Gerda zog ihr grob die Hände von den Augen. "Wie oft soll ich es dir noch sagen? Jetzt reiß dich zusammen. Es sind noch vierzehn Tage bis zur Entscheidung. Scheiße, reiß dich zusammen!"
Gerda blinzelte die Tränen weg, die in ihren Augen brannten.
"Steh auf und zieh dich an", kommandierte Gerda mit erstickter, aber harter Stimme. "Und reiß dich zusammen! Keine einzelne Träne. Ich will keine einzige Träne sehen, Gesha!"
Gesha nickte orientierungslos und ihr Zwilling wischte ihr behutsam mit den Daumen die Tränen von den Wangen, bevor Gesha in ihrer Unterwäsche zum Kleiderschrank stolperte.
Schweigend griff sie nach dem weißen Kleid und zog den Reißverschluss auf. Das Kleid war wunderschön. Sie hatte Ma wochenlang angebettelt, ihr dieses und kein anderes Kleid zu kaufen. Schließlich hatte Gesha sie mit dem Argument überzeugen können, dass es ohnehin das letzte Mal sein würde, dass sie irgendetwas für sie kaufen müsste.
Sie setzte sich mit hängenden Schultern zurück auf die Bettkante und strich über das glatte Satin. "Ich kann das nicht", murmelte sie schwach und sah ihren Zwilling an. Die Reste des Alkohols der vergangenen Nacht zerrten von innen an ihren Augäpfeln und am liebsten hätte sie sich die Augen eigenhändig ausgerissen, um diesem ständigen Schmerz ein Ende zu bereiten. Doch sie konnte sich gar nicht bewegen.
Gerda seufzte und befahl mit liebevoller Stimme: "Heb die Arme hoch, Liebes."
Schweigend tat Gesha, was von ihr verlangt wurde, während ihre Schwester ihr das weite Kleid über den Kopf zog. Der Stoff schmiegte sich angenehm kühl an ihre Haut, auf der Schweißperlen glitzerten. Gerda zog das Mädchen leicht am Arm und Gesha folgte der Bewegung widerstandslos, bis sie wieder auf den Füßen stand. "Dreh dich um", sagte Gerda und legte beide Hände sanft um die Taille ihrer Zwillingsschwester, um sie zu drehen.
Ein leises Rascheln begleitete das Schließen des Reißverschlusses, das nur Sekunden später in einem unauffälligen Klicken endete. Anschließend drückte Gerda die Andere sanft zurück auf das Bett, nahm ihren Fuß in die Hand und zog ihr die schwarzen Heels an. Dabei warf sie einen skeptischen Blick auf ihre Schwester und fragte: "Bist du sicher, dass du die tragen willst?" Gesha nickte kaum merklich.
Mit leerem Blick sah Gesha zu Gerda hoch. "Du solltest High Waist tragen, damit Ma dein Piercing nicht sieht", krächzte sie. Gerda schlug sich übertrieben gegen die Stirn. "Daran hab ich gar nicht gedacht!" In aufgesetzter Überschwänglichkeit fügte sie hinzu: "Danke, Gigi. Ich weiß wirklich nicht, was ich ohne dich tun würde!" und begann, im Kleiderschrank nach ihrer Lederhose, zu wühlen. "Ich will gar nicht an diesen scheiß Tredecim Dies teilnehmen. Wir sollten unsere letzten Tage in Freiheit verbringen dürfen und nicht in irgendeinem Glashaus", schimpfte Gerda. "Was ist das eigentlich für ein menschenverachtendes Konzept? Mörder sind das, alle zusammen. Die leben auch nur, weil sie jemanden umgebracht haben!"
"Na ja, eigentlich hat die Regierung sie ja umgebracht", warf Gesha mit schwacher Stimme ein.
"Aber sie haben sich dafür entschieden! Das ist doch das Gleiche", erwiderte die Andere trotzig und schnürte ihre schwarzen Springerstiefel.
"Mädchen! Wir fahren. Jetzt!" Ein letztes eindeutiges Hämmern begleitete diese Aufforderung. Gerda holte tief Luft und fuhr sich angespannt durch das kurzgeschorene Haar, als sie mit zitternden Händen versuchte, die silbernen Ohrringe dazu zu bringen, nicht bei der nächsten ruckartigen Kopfbewegung klirrend auf dem Boden zu landen. "Gerda!", brüllte ihre Mutter.
"Wir kommen, Ma!", schrie sie zurück und warf Gesha einen einzelnen schwarzen Lederhandschuh zu.
Ihre Schwester fing den Handschuh ungeschickt auf. "Was soll ich damit?", fragte sie stumpf. "Trag den immer an deinem linken Arm. Ich will nicht, dass jemand sieht, dass du dich geschnitten hast."
Gerda zog sich den zweiten Lederhandschuh des Paars über den rechten Arm. Dann griff sie nach der Hand ihrer Schwester und zog sie unruhig hinter sich aus dem Zimmer.
Ruckartig riss Gesha den dunkelgrauen Mantel vom Haken, bevor die Tür mit einem dumpfen Krach ins Schloss fiel.
Gemeinsam stiegen die Zwillinge die Stufen hinauf, liefen ein letztes Mal durch den schmalen Flur und traten hinaus ins Freie. Feine Sandkörner schlugen ihnen ins Gesicht.
Wegen der unvorhersehbaren Wetterverhältnisse waren die meisten Häuser tief in die Erde eingelassen und von einer steinernen Mauer umgeben, die vor extremen Stürmen schützen sollte. Die Schwestern schlossen zu ihrer Mutter auf, die ihnen ein verunsichertes Lächeln schenkte. Gerda fand trotzdem, dass es besser gelungen war, als all ihre heutigen Versuche zusammen.
Gesha drehte sich noch einmal zu dem markanten Gebäude um, das sich wie eine futuristische Festung aus der kargen Landschaft erhob. Mit großen, panoramischen Fenstern entlang seiner Fassade bot es einen atemberaubenden Blick auf die umliegende Einöde. Die massive Struktur des Hauses, die aus einer doppelten Hauswand bestand, schützte es vor dem Einfluss der Elemente. Stein und Glas, dachte Gesha. Stein und Glas. Stein und Glas. Stein und - Der Zwilling wand sich aus dem Griff ihrer Schwester und stürzte auf die Mutter zu, um sie fest in ihre Arme zu schließen und sich an sie zu klammern.
"Bitte, bitte, bitte", flehte sie und schon rannen ihr wieder Tränen über die Wangen. "Bitte, beschütz uns. Bitte, lass uns nicht gehen. Bitte, Ma. Ich flehe dich an. Hilf uns!" Sie sah ihre Mutter durch weit aufgerissene Augen an. In den grauen Augen der Frau glänzten ebenfalls Tränen und sie zog ihre Tochter zurück in eine feste Umarmung, damit sie die Verzweiflung in den Augen ihres Kindes nicht ertragen musste. "Oh, mein Baby. Mein armes, kleines Baby. Ich wünschte, ich könnte etwas tun. Aber ich kann nichts tun." Jetzt schluchzten sie beide.
"Und es ist das Schlimmste... dass ich nichts tun kann... ich konnte bei Anneliese nichts tun und jetzt ist sie... jetzt ist sie... weg."
"Es ist nicht deine Schuld, Ma. Es ist nicht deine Schuld", beschwichtigte das Mädchen mit den vielen weißen Zöpfen.
Gerda zerrte an ihrer Schwester. "Keine Tränen, Gigi. Schon vergessen?"
Gesha wirbelte herum und keifte zurück: "Ich verabschiede mich von Ma!"
"Jetzt doch noch nicht."
"Doch, jetzt. Also lass mich in Ruhe, Gerda!"
Gerda zog den Kopf ein und stolperte verunsichert zurück, während sie eine undeutliche Entschuldigung stammelte.
"Shh, streitet euch nicht. Bitte", flüsterte Ma an Geshas Haar.
"Ich weiß, tut mir leid. Tut mir leid."
"Tu mir einen Gefallen und pass auf Gerda auf, Liebes. Egal, was passiert. Ihr müsst zusammenhalten. Versprich mir, dass ihr zusammenhaltet."
"Immer, Ma. Immer."
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