Kapitel 2
TW: Manipulation durch Selbstverletzung!
Die Zwillinge saßen sich auf den kühlen Fliesen des Badezimmers gegenüber. Es war still. Eine erdrückende Hitze wog über dem Land, obwohl es bereits Ende Oktober war. Die letzten Sonnenstrahlen des Tages fielen durch die Schlitze der Jalousie und trafen auf das Glas der makellosen Duschwände. Gerda überschlug ihre Beine mit denen ihres Zwillings und legte ihre Strin behutsam gegen Geshas. Neben ihnen auf dem Boden rollte klirrend eine leere Flasche Wein. Neben Gerda stand eine Zweite, von der kaum getrunken wurde.
"Ich... ich will das nisch, Gigi", lallte Gesha. Gerda reagierte nicht, sondern strich dem Mädchen schweigend die weißen Braids über die Schultern. "Du bist wunderschön", flüsterte Gerda dann.
Eine lange Zeit sahen beide einander an. Schweißperlen glitzerten auf Gerdas Stirn, Tränen in Geshas Augen. "Versprisch mir, dass du mich niemaaals allein lässt", Geshas Stimme war so leise, dass sie nicht wusste, ob sie die Worte überhaupt sprach oder lediglich dachte. Doch Gerda verstand sie trotzdem und verschränkte ihre Finger mit denen der Anderen, bevor sie kaum merklich nickte.
Die Zwillinge spürten, wie sie von einer Schwere überwältigt worden, die sie wabernd umschloss wie vor zwanzig Jahren die Uterus ihrer Mutter. Eine emotionale Zerschlagenheit, ausgelöst durch die jahrelange Gewissheit, dass nicht sie beide würden leben können. Ein verzweifelter Kampf gegen ein totalitäres System. Sie wussten es beide. Auch wenn nur eine der beiden es aussprach.
Gesha betrachtete ihre Schwester. Kichernd strich sie ihr über das kurz geschorene Haar und legte dann beide Hände behutsam auf ihre Wangen. Sie beugte sich vor und küsste ihren Zwilling auf die Wangen, auf die Stirn. "Ich lieb dich. Ich lieb dich so sehr."
Silberne Stecker glänzten in Gerdas Ohren, die ein schwarzes Korsett trug, dessen aufwendige florale Stickereien ihren Unterbauch und die Dehnungsstreifen kaschierte. Außerdem das Bauchnabelpiercing, das Gesha ihrer Schwester vor wenigen Monaten gestochen hatte.
"Jetzt mach schon und heul nicht."
"Ich will dir nicht wehtun", jammert Gesha, die mit zitternden Händen die Piercingzange hält. Gerda liegt entspannt auf dem Rücken, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und sieht ihre Schwester durch die dunkelbraunen Augen auffordernd an. "Darling, du könntest mir das Herz eigenhändig ausreißen und es wäre mir egal. Jetzt schieb nicht so ein Drama. Es ist ein Piercing und kein Maschinengewehr." Mit sanfterer Stimme setzt sie hinzu: "Ich vertraue dir, Gigi."
Gesha betrachtet das silberne Bauchnabelpiercing, an dem glitzernde Sterne und ein Mond hängen. Sie schluckt schwer und schraubt die Kugel ab, bevor sie mit feuchten Händen nach der spitzen Nadel greift und sie zum vierten Mal mit Desinfektionsmittel besprüht. Sie zögert.
"Nein, ich mach das nicht! Was denkst du dir überhaupt dabei? Wahrscheinlich absolut gar nichts! Wie immer! Oh, du bist so unreif und fanatisch und verdammt fahrlässig, Gerda!" Beim Aussprechen ihres Namens weicht Gerda dem Blick ihrer Schwester aus und betrachtet stattdessen die Zimmerdecke, an der so viele elektrische Sterne leuchten, dass sie die ganze Nacht damit beschäftigt sein könnte, alle in diesem simulierten Sternenhimmel zu zählen. "Mach es einfach, bitte."
"Wenn Ma das rausfindet, dann - "
"Wenn du es nicht tust, mach ich es selbst", unterbricht Gerda und richtet sich genervt auf.
"Schon gut, schon gut", murmelt Gesha.
Die Andere legt sich wieder zurück und schließt die Augen. "Denk dran, dass du die Nadel nicht komplett durchziehst", erinnert Gerda.
Gesha antwortet nicht. Sie greift die Haut über dem Bauchnabel ihrer Schwester mit der Zange, holt tief Luft und sticht dann die Nadel durch. Konzentriert fädelt sie das Piercing ins Ende der Nadel und - "Sehr gut, du machst das toll. Ich bin stolz auf -"
"Halt die Klappe, Gerda!" Gerda beißt sich auf die Zunge und schweigt.
Mit ruhigen Fingern zieht Gesha die Nadel komplett aus der Haut, nachdem sie sichergestellt hat, dass der Schmuck richtig sitzt und schraubt die Kugel auf den Kopf des Piercings. "Fertig", sagt sie dann und atmet geräuschvoll aus.
"Danke. Danke, danke, danke", erwidert Gerda überschwänglich, doch Gesha drückt sie zurück in die Kissen. "Nicht bewegen. Ich muss es desinfizieren."
"Ich kann das nisch, Gigi... ich kann dich... mich nich entscheiden. Ich kann dich nich verliern!" Ein Kichern durchzuckte Geshas Körper und Gerda musste ihre Schwester festhalten, damit sie in ihrer Impulsivität nicht mit dem Schädel auf die harten Fliesen knallte und verblutete, bevor überhaupt irgendjemand von ihnen eine Entscheidung hätte treffen können. Bevor sie, einen Weg hätte finden können, wie es für sie beide möglich wäre, zu leben.
"Du verlierst mich nicht, Liebling", murmelte Gerda. Ihre Stimme fest und klar im Vergleich zu Geshas betäubtem Flüsterton. "Wir sind eins. Niemand existiert ohne den anderen und niemand kann uns auseinanderreißen. Ich verspreche dir... egal, was passiert, wir bleiben zusammen."
"Aber was, wenn... wenn wir's nich schaff'n?"
"Ich werde dich beschützen, hab keine Angst." Gerda holte tief Luft, bevor sie mit gebrochener Stimme fortfuhr: "Das ist anders, als es bei Annie war. Diesmal bin ich da." Sie wiederholte den letzten Satz, ohne dass Gesha ihr zuhörte; und vielleicht waren die Worte ohnehin für niemanden bestimmt außer ihr selbst.
Gerda griff nach der Nagelschere, die im Waschbecken lag.
Gesha lachte und warf den Kopf dabei überschwänglich in den Nacken. "Maniküre? Jetzt?"
Gerda packte grob den Arm ihrer Zwillingsschwester und sah ihr tief in die braunen Augen. "Wir schaffen das zusammen", sagte sie eindringlich.
Dann setzte sie die Klinge der Schere an ihrem Unterarm an. Mit den Fingern griff sie so fest zu, dass sie spürte, wie sich die zweite Schneide in ihre Haut bohrte, sodass sie von einem pulsierenden Schmerz überwältigt wurde, den sie ignorierte.
"Sieh her, Gigi. Sieh auf meinen Arm. Ich zeige dir, wie sehr wir eins sind."
"Gerda!", schrie Gesha und stürzte sich auf die Andere, doch Gerda stieß sie unsanft von sich.
"Sieh her hab ich gesagt!", brüllte sie zurück. Sie zog die Klinge behutsam entlang ihres Unterarms und sog hörbar die Luft ein. Heißes Blut floss aus der Wunde. Geshas Schrei zerriss die Stille und Gerda presste ihr panisch die Hand auf den Mund. "Sei still", zischte sie und Gesha schwieg. Tränen rannen dem Mädchen über die Wangen. "Warum tust du das? Warum verletzt du dich?", wisperte sie mit tränenerstickter Stimme. Gerda biss sich auf die Lippe und blinzelte mehrmals, um ihre eigenen Tränen zurückzuhalten.
"Nichts, Gigi. Gar nichts steht zwischen uns, wird jemals zwischen uns stehen. Keine Angst, kein Schmerz. Es gibt nur uns."
"Ich... ich will nich. Ich hab Angst."
"Shh", beschwichtigte Gerda mit ruhiger Stimme. "Alles ist gut. Ich bin hier, du bist in Sicherheit." Sie griff sanft nach Geshas Arm und führte sie zu ihrem eigenen Arm. "Du musst es nicht alleine tun, wir machen es zusammen. So wie immer", flüsterte Gerda.
Zitternd hielt Gesha die Klinge an ihren eigenen Arm, während Gerda ihre Hand behutsam führte. Sie schloss die Augen, damit sie nicht zusehen musste. Der schneidende Schmerz pulsierte in ihrem Unterarm, sie spürte Blut über die Wunde laufen, so heiß, wie die Tränen über ihren Wangen. Gesha kniff die Augen fester zusammen, doch dann war es bereits vorbei. Sie keuchte und wimmerte leise.
"Das hast du toll gemacht. Ich bin so stolz auf dich, Liebes. Siehst du, alles ist gut. Es tut doch gar nicht weh. Ich liebe dich", beruhigte Gerda. Gesha ließ die Klinge fallen und klammerte sich an ihre Schwester. Sie hatte recht, das Fastertrinken war viel schlimmer.
"Das ist unser Pakt. Gigi. Für immer zusammen", flüsterte Gerda ihrem Zwilling ins Ohr. Dann brach auch sie in Tränen aus und sie weinten beide, während sie einander behutsam hin- und herwiegten.
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