55. Wenn es kein Halten mehr gibt
Ich gähne ausgelassen. Schon wieder lenkt mich mein eigener Gedankengang vom eigentlichen Gespräch ab, weswegen ich mein Ausklinken für eine stumme Betrachtung in der Runde nutze.
Aisha sitzt links neben mir, daneben die Kleine, die sich mit geschlossenen Lidern an ihr Vorbild lehnt. Ich springe mental auf die andere Seite des Tisches. Hier kaut Ivana genüsslich an ihrer Kartoffel, während sie sich den schweren Kopf auf der freien Hand abstützt. Als nächstes folgt Linda. Sie scheint voll und ganz von Hans Gustav Konrad abgelenkt worden zu sein, studiert sie doch mehr als genau seine Züge und formt unbewusst die gleiche Mimik wie er. Vielleicht fragt sie sich, ob die beiden in etwa gleich groß wären – ich plädiere übrigens zu ja. Denn so wie ich sie kenne, sucht sie in jedem männlichen Wesen dieser Erde nach einem Partner, der bis zu ihrem tragischen Ende mit ihr zusammen bleiben möchte. Hach, die geborene Romantikerin unter uns.
Kleine Randnotiz: Boah bin ich froh, dass nicht ich diesen Part übernehmen muss. Diese ganzen Anforderungen der Gesellschaft würden mich restlos überanstrengen. Und ein verfrühtes „Ins-Gras-Beißen" ist nicht gerade mein höchstes Ziel.
Ich drehe mich nach rechts, werfe einen kurzen Seitenblick auf Jace. Dieser starrt diagonal rüber zu Ivana. Dessen bin ich mir so sicher, dass ich nicht mal genauer hinsehe.
Langsam lehne ich mich zu ihm vor. „Das muss aufhören", flüstere ich möglichst unauffällig. „Ich möchte nicht länger dein Alibianhängsel sein, um Ivana eifersüchtig zu machen."
Als er nicht reagiert, wage ich mich ein weiteres Stück vor. Ein besserer Zeitpunkt bietet sich vermutlich nicht, Lindas Plan endgültig ins Rollen zu bringen.
„Ich gebe dir eine Nacht. Die morgige. Gleich nach dem Feierabend treffen wir uns in deinem Zimmer. Danach löscht du das Foto und jegliche Kopien."
Nach meinen eigenen Worten schluckte ich schwer. Der Druck, der sich in den letzten Tagen auf meine Schultern gelegt hat, vergrößert sich urplötzlich, droht mich in die Knie zu zwingen. Eigentlich bin ich ein sozialer Mensch. Ich genieße die Anwesenheit anderer, gehe regelrecht in Diskussionen auf, spüre, wie mich die unbändige Kraft namens Lebensenergie erfüllt. Doch in diesem Moment, dem Moment, in dem ich mich zu der Sorte von Frau erköre, die ihren Körper wegen einer Drohung erscheinen lässt wie ein Wetteinsatz, da wünsche ich mir nichts mehr, als allein zu sein.
Jace schaut mich überrascht an. Ein undefinierbarer Ausdruck zeigt sich in seinem Gesicht. Ich versuche gar nicht erst, in zu deuten. Als er kaum bemerkbar nickt, steigt in mir die Galle hoch.
Schnell stehe ich auf, nehme mein Tablett mit und gehe. Grundlos eile ich durch die Korridore. Nun ja, nicht grundlos für mich. Der Gang und die Geschwindigkeit, in der ich mich in ihm bewege, haben nichts damit zu tun. Alles andere jedoch schon. Mein Kreis an Vertrauten, das Gebäude und Jace. Er natürlich am meisten.
Aber da ist noch jemand, der mir im Nacken brennt: Ich selbst, wie ich die naive Vorstellung eines heilen Daseins ein weiteres Mal abwerfe. Mit rasselndem Atem erreiche ich unseren Schlaftrakt. Ich mache mir nicht mal die Mühe, das Licht anzumachen, obwohl die Sonne jede Sekunde hinter den Bergen verschwinden wird.
Normalerweise überkommt mich die Einsamkeit viel zu schnell in der Stille, doch jetzt nehme ich sie dankbar an. Meine Naseninnenhöhlen kribbeln wie verrückt, die Tränen treten unaufhaltsam an die Oberfläche. Sie rinnen der Wange entlang bis zum Mund, von wo aus sie einen salzigen Geschmack hinterlassen. Ich halte meine Hände schützend vor mich. Einzelne Tropfen landen auf meiner Haut. Kaltherzig ignoriere ich die Nässe, spüre nur den Schleim, der sich bewegt, als ich ein Taschentuch hervorhole und hineinrotze.
Was bin ich nur für eine erbärmliche Person!
Ich schluchze lauter, ziehe meine zitternden Beine näher an mich heran. Die ganze Anspannung, die sich angesammelt hat, verwandelt sich zu einer Vielzahl von Emotionen. Vorne heraus Trauer, Schrecken, Angst. Weiter hinten diese gnadenlose Enttäuschung. Eine Wucht der Wut erschlägt mich förmlich. Wie ein Lauffeuer verbreitet sie sich in meinem Geist, entflammt, was auch immer sich ihm in den Weg stellt. Dass ich damit nur mich selbst erwische, realisiere ich viel zu spät. Ein Japser entflieht meinen trockenen Lippen. Schluckauf. Wundervoll. Der hat mir gerade noch gefehlt. Schnaubend verdrehe ich die Augen. Ein entscheidender Vorteil bringt die Fehlfunktion meines Zwerchfelles trotz meiner entnervten Reaktion. Sie hilft mir aus der blinden Hast heraus, hinein in die Ruhe. Immer länger werden die Abstände zwischen dem Luftholen und dem Luftausstoßen.
Meine Brust hebt und senkt sich, während die Schmerzen langsam nachlassen. Der Stich verschwindet, ein unwohles Gefühl in meiner Magengegend bleibt.
Mir entweicht ein schwaches Seufzen. Ich wische über die Verkrustungen, kann meinen Weinanfall damit jedoch nicht ungeschehen machen. Das würde ich auch nicht wollen. Denn endlich breitete sie sich eine stoische Gleichgültigkeit in mir aus. Ich weiß genau, dass sie nach meinem Treffen mit Jace durch Erleichterung ersetzt werden kann.
Denn noch habe ich nicht meine gesamte Würde an Jace verloren. Ich habe lediglich eine Ankündigung verlauten lassen. Und diese ist im Grunde genommen vage genug, um von mir nach Belieben hin und her geschoben zu werden. Das hoffe ich jedenfalls.
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