42. Gruppentherapie
Linda weist auf die Uhr an der hinteren Wand und lockt die Kleine zu den Treppen. Gemeinsam kommen sie uns entgegen.
„Am besten, wir machen uns bereit. Nicht, dass wir noch zu spät sind", meint Linda. Aisha nickt einverstanden.
Nur ich verstehe den Kontext nicht. „Zu spät wofür?", möchte ich wissen.
Ein Grinsen taucht auf Lindas Lippen auf. „Das wirst du früh genug erfahren." Ob ich von dieser Antwort auf ein freudiges oder ein deprimierendes Ereignis hoffen kann, weiß ich nicht. Auch nicht, als die anderen sich umziehen, ihre Sachen einsammeln und mich in den zweiten Stock begleiten.
Bald schon finden wir uns in einem Sitzkreis wieder. Langsam blüht mir, was hier vor sich geht.
„Muss sich jemand vorstellen und dann echoen wir alle hallo und ihren oder seinen Namen?", frage ich scherzhalber.
Aisha lächelt milde. „Nein, wir haben dagegen gestimmt. Das wäre uns allen zu blöd gewesen."
„Also wird das so eine Gruppentherapie, oder?" Ich hebe eine Braue an. Es scheint das einzig Logische. Neben einem spontanen Prank von Linda und Ivana, selbstverständlich. Wobei ich sie nicht für Menschen erachte, die an solch unnötigen Späßen Gefallen finden.
„Mann, Aisha! Jetzt hast du es ihr indirekt verraten!" Linda stößt frustriert die Knie seitlich aneinander. Sie lehnt sich zu mir. „Na, hast du jetzt Angst?"
Ich seufze. „Über Gefühle und diesen ganzen rührseligen Quatsch zu reden, ist zwar nicht ganz meins, aber neben dir..." Ich stupse Aisha zu meiner Linken, dann Linda zu meiner Rechten mit dem Ellenbogen an. „... und dir überlebe ich das bestimmt."
Aisha lacht auf. „Ja, das glaube ich auch."
Dann wendet sie sich ihrer anderen Nachbarin zu. Liebevoll drückt sie die Hand der Kleinen, die die Beine hochnimmt und an ihren eigenen Körper presst. Nach und nach treten weitere Jugendliche ein, darunter einige, die ich lieber nicht sehen würde. Denn Freizeit ist freie Zeit und die sollte auch bei Problemen mit dem Namen Jace gelten.
Dennoch winke ich ihm zu, als er sich mit dem Schlaksigen und Ivana mir gegenüber niederlässt. Mein eigenes Schauspiel widert mich an. Fast so sehr wie Jace selbst, der Ivana gerade einen Kuss auf die Wange drückt. Ich meine, warum mich dazu zwingen, Interesse zu faken, wenn er sich selbst auf jemand anderen stürzt? Das ist doch völlig unlogisch.
Nebenbei bemerkt: ,Frauen sind kompliziert' – bitte was? ,Menschen sind kompliziert' trifft es wohl eher.
Die Psychologin, von der ich annehme, dass sie Quinn Viridi heißt, setzt sich auf einen Platz, den bisher niemand nutzt, und klatscht in die Hände. Damit beendet sie die lästigen Small-Talk-Gespräche der Anderen. Nach einem Sonntagmorgen getrennt, scheinen sie sich eine Menge erzählen zu können.
Leicht verzögert kehrt Ruhe ein.
Quinn Viridi wendet sich mir zu. „Du bist Gianna, oder?"
Ich erhalte nicht genug Zeit für eine Antwort. Natürlich nicht. Auf dem Blatt vor ihr sieht sie uns auf einem – in meinem Fall – veralteten Foto mit Bezeichnung darunter.
„Willkommen bei der Sonntagnachmittagsgruppe. Fühl dich wie Zuhause." Sie lächelt, rutscht leicht vor und drückt den Rücken durch.
Den folgenden Satz äußert sie lauter, sodass ihn alle mitkriegen. „Wir wollen uns heute mit Dingen beschäftigen, vor denen ihr euch fürchtet. Dabei kann es sich um kleine oder große handeln, längst abgelegte und solche, die noch immer frisch sind. Die Entscheidung liegt ganz bei euch. Selbstverständlich müsst ihr nur etwas sagen, wenn ihr es wollt."
Nach einem Moment der Stille fügt sie hinzu. „Linda, du fängst an."
Die Angesprochene runzelt die Stirn. Ich tue es ihr gleich. Was von ,wenn ihr es wollt', ergibt hier eine Entscheidung ohne Druck? Vielleicht möchte Linda gar nicht reden.
Die Psychologin erkennt erst jetzt ihren Fehler und räuspert sich. „Natürlich musst du nicht. Aber normalerweise machst du gerne den ersten Schritt."
Lächelnd schlägt sie die Fußknöchel übereinander. Innerhalb weniger Sekunden wendet sie die seltsame Situation mit ihrem freudigen Verhalten ab. „Ja, das stimmt. Lustig, dass sie sich das gemerkt haben."
Nachdenklich verzieht sie ihren Mund. „Früher hatte ich Angst vor so ziemlich allem. Vor Spinnen, vor Würmern, vor Mücken." Linda überlegt kurz, vier Finger bereits ausgestreckt. „Oh, vor Bienen auch. Aber mittlerweile bin ich aus diesem Alter rausgewachsen."
Stolz schaut sie in die Runde. Die meisten Gesichter sind ausdruckslos. Nur Ivana tanzt mal wieder aus der Reihe.
„Was? Kannst du dir nicht mal merken, vor was du Angst hast?" Wegen ihrem abfälligen Kommentar presse ich wütend die Kiefer aufeinander.
„Klar, kann sie das", verteidige ich meine Instruktorin aufgebracht. Ivanas ständige, miese Laune macht mich rasend. Niemand trägt mehr Schuld daran, als sie selbst. Trotzdem wirkt am Ende wir wie die Dummen. Weil wir zu geschockt sind, um ihr mal richtig die Meinung zu geigen. Vielleicht hätte ich bei unserem ersten Streit doch um einiges mehr Gas geben sollen.
Kleinlaut erwidert Linda: „Das mit den Phobien ist schon Jahre her", und fährt sich durch die schwarzen, glatten Haare, um sie erneut zusammenzubinden.
Quinn Viridis träges Schnauben durchbricht das Gespräch. Endlich finde ich in ihr die Kompetenz, die ich nach dem holprigen Anfang bereits nicht mehr erwartet habe.
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