36. Kleider-Wechsel-Montage
Ich springe hoch, dann strecke ich ihm meine Hand hin. „Kommst du auch mit? Wir machen einen kleinen Ausflug für Frischlinge."
Seine Verwunderung bringt mich zum Grinsen. Langsam, als würde er auf die Aufdeckung eines Witzes warten, umschließt er mein Gelenk. Ich ziehe ihn auf die Beine.
„Nach den bisherigen Infos wird es vermutlich ziemlich kalt. Jedenfalls würde ich einen Spaziergang in dieser Weise interpretieren." Mit angespanntem Kiefer schiele ich zu der breiten Fensterfront, von der aus helles Licht ins Innere strömt. Wenigsten eignet sich das Wetter für diese Art von Aktivität.
Ivana kommt mit einer besorgt dreinschauenden Betreuerin um die Ecke. Völlig gelassen schiebt Aisha der Frau im mittleren Alter den Rollstuhl zu. „Den brauchen wir jetzt nicht mehr, also danke Marta."
Perplex nimmt die Angesprochene das Fortbewegungsmittel entgegen, starrt uns einen Moment lang entgeistert an, ehe sie sich in Bewegung setzt.
Zu fünft begeben wir uns zum Raum neben der Wäscherei. Zuerst gehe ich davon aus, dass wir die Zahnradbahn ins Dorf nehmen, doch diese scheint am Samstag nicht bedient zu werden. Stattdessen holt Linda mehrere pastellfarbene Overalls aus einem Schrank und drückt sie uns entgegen.
„Anfangs wollte man uns solche Allzweckdinger andrehen. Am Ende hat man sich für individuelle Kleidung entschieden. Das soll näher an das Leben außerhalb heranreichen." Sie schnaubt. „Da waren die aber bereits gekauft."
Ivana steigt in einen lachsfarbenen Anzug. Die vielen Schichten sorgen bestimmt für ein angenehmes Wärmegefühl. Nur an den Ohren bleibt es frostig.
„Und Mützen und Schals findet man auch hier?", vergewissere ich mich in eisiger Vorahnung. Ohne mache ich in dieser Höhe keinen einzigen Schritt mehr nach draußen. Da hat mir die Kälte des ersten Abends vollständig für die ganzen drei Monate gereicht.
„Jap." Aisha wirft mir ohne Vorwarnung ein Modell aus kratziger Wolle zu. Ich fange es gerade noch so. Lachend ziehe ich es mir über. Der Stoff schmiegt sich an mich, bereits nach wenigen Sekunden elektrisch geladen. Na das kann ja was werden.
„Das mit dem Schießen musst du besser üben", necke ich sie. Aisha streckt mir frech die Zunge raus, die leuchtend gelben Ärmel um den Bauch gebunden. „Wer nicht schnell genug reagiert, ist selbst schuld."
Schon nach kurzer Zeit sehen wir alle wie gebleichte Teletubbies aus. Mit Winterzusatz – versteht sich. Halbwegs durchgeschwitzt zwängen wir uns in den nächstbesten Aufzug, der uns ins Erdgeschoss manövriert. Die Tür zum „Leben außerhalb" wie Linda sie so schön beschrieben hat, erreichen wir ohne langes Wandern.
Sonnenschein begrüßt uns in der rauen, schneebedeckten Natur. Seine Strahlen spiegeln sich zu tausendfach am weißen Glitzer, blenden uns in stummem Schabernack. Wir waten den einzigen steilen Hang hinauf, der uns noch vom Panoramablick abhält.
Anstrengung zieht sich durch meine Muskeln. Ich atme schwer unter der dicken Ausrüstung. Eine viertel Stunde dauert das Stapfen durch die unberührte Decke, die jeder neuer Sturm auf seinen Anfangszustand zurückkurbelt.
Dann erreichen wir das Plateau, den höchsten Gipfel. Ich habe unabsichtlich gelogen, als ich Silvano Quispes Sprechzimmer zum Ort mit der besten Aussicht auserkoren habe. Er ist nichts im Vergleich zu der Wucht dieses Eindruckes.
Selbst der Wind versucht sich nur an einem leisen Säuseln, kaum stark genug für ein Rauschen im Hintergrund. Das ganze Tal liegt vor uns, Bergketten bis weit in alle Himmelsrichtungen tummeln sich am Horizont. Ich erkenne umliegende Dörfer, die Einkaufsmeile, den Laden des Försters. Weiter rechts eine Ansiedlung mit der Bäckerei, dem störrischen Kirchturm, dem Bahnhof, der mich vor einer Woche von der Stadt ins Land geführt hat.
Doch am meisten fasziniert mich die Gegend hinter dem Institut, bisher verborgen durch die letzten, nun bezwungenen Felsen. Eine Bucht mit Sandstrand blickt uns entgegen. Sie verbindet das Meer mit dem Gebirge, erklärt, weshalb Aisha, Linda und Ivana am Dienstag zur Fischerin verschwinden. Bei einer solchen Wassermenge gibt es bestimmt etliches zu tun. Ich kann den salzigen Geruch in der Nase riechen, obwohl er sich kilometerweit entfernt befindet.
„Warum habt ihr mich nicht schon viel früher mitgenommen?", will Ivana wissen und legt ihre dick verpackten Arme auf dem rostigen Geländer ab, das uns vor einem Sturz in die Tiefe bewahrt. Eigentlich ist das hier wie eine Uno-Reverse-Card mit dem Gelände aus „Löcher". Statt Wüste, Hitze und Gefahr arbeiten wir bei unterkühlter Einöde, Raureif und Gefahr. Also das mit der Gefahr ist in diesem Fall gleich, falls das wegen meiner verwirrenden Sprache noch nicht deutlich genug
Sollten wir uns zu einer Flucht entscheiden, kommen wir nicht weit. Ab da heißt es entweder zurückkehren oder jämmerlich im Nichts feststecken.
„Normalerweise tun wir das auch. Aber die letzten Tage war das Wetter so schlecht und wir haben uns diesen Wow-Effekt gewünscht, den ich jetzt in euren versteckten Gesichtern finde", sagt Linda. Das Grinsen in ihrer Stimme ist nicht zu überhören. Ich umarme sie, den unförmigen Anzug im Weg und sie lacht auf. Als nächstes hole ich Aisha heran, dann Ivana und zum Schluss den Namenlosen – den ich jetzt doch im Stillen Hans Gustav Konrad getauft habe, denn je mehr Namen ich ihm gebe, je höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich am Ende sogar recht haben könnte. Nahe nebeneinander bestaunen wir die weite Welt, die sich uns zu Füssen legt.
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