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Sarah

24.04.2022 / 06.07.2020 --- 1909 Wörter


Du kommst gerade aus der Einfahrt zur  Dependance und dein Ziel ist der Hintereingang des Hauptgebäudes. In der  nächsten Stunde haben wir zusammen Physik – eine der wenigen  regelmäßigen Gelegenheiten für mich, dich zu sehen. Du kommst auf deinem  Fahrrad die Einbahnstraße gegen die Fahrtrichtung entlang. Auf der  Straße ist mehr als genug Platz dafür, vor allem an der Mündung zur  Kreuzung, wo die beiden Konsulate stehen. Ich stehe gerade direkt vor  dem U-Bahn Aufgang, direkt neben dem Algerischen Konsulat, als du mit  hohem Tempo auf die Kreuzung zufährst.

Ich würde dich grüßen, wenn du  mich nur ansehen würdest aber du schaust direkt an mir vorbei. Ich  überlege noch, was ich sagen soll, wenn wir uns vor dem Physikraum  sehen, als plötzlich ein SUV mit viel zu hoher Geschwindigkeit über die  Kreuzung brettert und frontal auf dich zuhält. Zwei Sekunden später  liegst du zehn Schritte von mir entfernt auf der Bordsteinkante und der  schwarze BMW X5er mit dem Kennzeichen F – CK 757 war schon die halbe  Straße hinuntergefahren.

Noch  nie habe ich so schnell reagiert. Während ich dem Wagen  hinterherstarre, um mir das Nummernschild einzuprägen, renne ich schon  zu dir. Dein Helm ist zerbrochen und dein Kopf blutet stark. Du bist mit  der Schläfe auf den Bordstein aufgeschlagen. Hinter mir höre ich  jemanden den Straßennamen und den Namen der U-Bahnstation nennen. Es  muss einer der Bänker sein, denn er kennt deinen Namen nicht. Ich  versuche dich derweil in eine stabile Position zu bringen und  kontrolliere Atmung und Puls.

Deine Atmung ist flach – viel zu flach –  doch nach ein paar Sekunden flackern deine Augenlider. Deine grünlich  schimmernden, braunen Augen sehen mich an und du versuchst irgendwas zu  sagen. Ich beuge meinen Kopf wieder zu deinem Gesicht, um hören zu  können, was du sagen willst, doch anstatt etwas zu sagen – oder zu  flüstern oder zu hauchen – hebst du plötzlich deinen Kopf und deine  Lippen berühren meine Wange.

Dein  Kopf sinkt zurück und ich sehe dir nochmal in die Augen, bevor sie leer  werden. Entfernt höre ich die Sirenen der Einsatzwagen, während dein  Körper erschlafft. Als die Notärzte da sind, bist du tot. Ich halte so  lange wie möglich deine Hand, bevor die Ärzte dich mitnehmen und ich in  einem schwarzen Strudel versinke.

Schweißgebadet  wachte ich auf. Seit Wochen hatte ich diese Art Träume – die immer mit  deinem Tod enden...  Es tut jedes Mal so weh.

Wir  sehen uns nicht mehr seit du Physik und Musik abgewählt hast. Dein  gutes Recht, immerhin müssen wir uns dieses Halbjahr alle auf unsere  Prüfungsfächer konzentrieren. Trotzdem hätte ich alles für dich getan,  damit du zumindest in Musik bleibst. Mit dir ist es immer etwas anderes,  wenn du da bist, geht es mir irgendwie besser. Und vor allem war es  leichter, zu vergessen dass ich von deinem Tod geträumt hatte.

Aber  jetzt kann ich das nicht und muss die ganze Zeit an dich denken, immer  in Sorge, wie es dir wohl geht, aber in den nächsten sechs Tagen haben  wir unsere mündlichen Prüfungen. Bis dahin will ich dich lieber nicht  stören, nicht unterbrechen. Und außerdem ist es ja komplett lächerlich:  Wie würdest du wohl reagieren, wenn ich dir einfach schreibe? Ich  schreibe eigentlich niemandem ohne dass es vorher abgemacht worden wäre.  Und ich bin für dich ja nicht gerade ein Freund, nur ein ehemaliger  Klassenkamerad. Du weißt ja nicht, was ich für dich empfinde – und seit  wann...

Schlafen  kann ich nicht mehr. Sollte ich es schaffen, wieder einzuschlafen, so  wäre ein weiterer Traum von deinem Tod gewiss und wenn das passiert, bin  ich heute nicht mehr zu gebrauchen. Daher stehe ich auf und mache mich  für einen Lerntag fertig. Für Physik muss ich definitiv noch lernen,  sonst schießt mir das in die Kniekehlen...
Im  Moment ist jeder Gedanke recht, der dich aus meinen vertreibt, aber es  scheint vollkommen aussichtslos. Seufzend stehe ich vor meinem  Schreibtisch, starre mein Physikbuch an und greife dann nach meinem  Handy. Unser Chatverlauf ist immer noch offen, seit Tagen schon – es  schreibt mir ja niemand.

Du hast mir vor etwa einem Monat zum Geburtstag  gratuliert und du kannst dir im Leben nicht vorstellen, wie glücklich  ich war. Natürlich hatte ich dir zu deinem letzten Geburtstag auch  gratuliert, wahrscheinlich hast du mir nur deswegen geschrieben – um  dich zu revanchieren. Und hinter deinem letzten Satz „Ich denke an dich"  steckte wahrscheinlich auch nicht mehr als hinter jeder anderen  freundlichen Floskel. Und trotzdem war es so frustrierend schwer, sich  keine Hoffnungen zu machen, Hoffnungen, die ich seit Jahren begraben  habe, die erst vor einem dreiviertel Jahr aus dem Nichts wieder  aufgetaucht sind, als du auf dem Geburtstag einer Freundin mit mir  Federball gespielt hast.

Der Wind hat Probleme gemacht und als Regen  aufkam waren wir ziemlich schnell ziemlich durchnässt, aber ich habe nur  schweren Herzens aufgehört und in deinem Blick glaubte ich zu sehen,  dass du genauso gerne wie ich einfach im Regen weitergespielt hättest.  Auf der anderen Seite wäre es rücksichtslos dir gegenüber gewesen, wenn  ich dir das vorgeschlagen hätte. Ich hab dir am Abend ein Dankeschön für  das Spiel geschrieben. Dein Halbsatz von Antwort hat mich gefreut,  obwohl er mich hätte niederschmettern sollen...

Mir  schwirrt der Kopf von Photonen und Elektronen, Energieniveaus und  Spektrallinien und ich nehme mir eine Pause. Ich habe nicht  gefrühstückt, das mache ich seit Monaten nicht mehr. Meine Eltern waren  zwar zuerst besorgt, aber sie haben beschlossen es als Akt der Rebellion  auszulegen, dass ihr Mittagessen mein Frühstück ist. Statt aus Brot  oder Müsli ziehe ich meine Energie für den Vormittag aus dem Klavier.  Eine Viertelstunde Klavier zu spielen gibt mir die nötige Kraft für  Selbstdisziplin trotz Hungers und hoffentlich auch, dich zu verdrängen...

Ich  lasse meine Finger über die Tasten gleiten, es ist ein schönes,  vertrautes Gefühl, ein Glissando vom viergestrichenen c bis zum großen F  und von dort aus einen arpeggierten Akkord, die linke Hand greift über,  die rechte geht noch weiter, bis ich am fünfgestrichenen c angekommen  bin. F-Dur also, ja? Naja, vielleicht auch G – mein kleiner Finger  wandert vom großen F auf das große Fis – Dominantseptakkord in D über  der Terz – da bin ich in G-Dur – oder doch a-Moll? Ehe ich mich versehe  spielen meine Finger eine Kadenz, der ich zu folgen versuche, doch  nachdem ich von C-Dur über f-Moll nach as-Moll gewandert bin, lasse ich  meinen Fingern freien Lauf, versuche gar nicht mehr ihnen zu folgen, bin  froh über die Ablenkung, lasse meine Hände spielen und versuche mich zu  erinnern, welche Stücke zu den Melodiesequenzen gehören, die ich  anspiele. Meine Finger sind nicht zu bremsen, doch plötzlich halte ich  inne.

Diese Melodie hatte ich lange nicht mehr gespielt. Außer dir und  mir kennt sie ja auch niemand und um ehrlich zu sein ist es mir fast ein  wenig peinlich: Ich habe das Stück damals Violinsonate genannt, ohne  überhaupt zu wissen, was genau eine Sonate ausmacht. Ich hab mich von  dir inspirieren lassen – im Unterricht, in den Pausen – das war in der  achten Klasse gewesen. Irgendwann während des ersten Halbjahrs muss ich  mich in dich verliebt haben, denn ich habe dich in den Weihnachtsferien  schrecklich vermisst und auf der Skifahrt im Januar habe ich so viel  Zeit in deiner Nähe verbracht, wie möglich. Ich habe damals nicht genau  verstanden, warum, aber irgendwie schien es dir nicht gut zu gehen und  ich habe versucht, angemessen darauf zu reagieren, doch ich habe  kläglich versagt...

Im Februar habe ich dann diese „Violinsonate" für dich  geschrieben. Ich habe sie dir zu deinem nächsten Geburtstag geschenkt –  deinem fünfzehnten. Damals habe ich dir auch per WhatsApp gratuliert.  Meine Finger stocken, sie suchen nach etwas mit weniger Erinnerung. Fast  verzweifelt spiele ich den „Entertainer", dann „Lily Queen" und  schließlich spielen meine Finger ohne dass ich es beeinflussen könnte  „Sarah dear". Erst summe ich leicht mit, bevor ich den Text laut zu  meinem Klavierspiel singe. Ich verstehe nicht jedes Wort, aber ich weiß  dass in dem Lied eine andere Situation geschildert wird. Immerhin macht  das Lyrische Ich gegen Ende der zweiten Strophe seiner „Sarah dear"  einen Heiratsantrag.

Abends  nach den Nachrichten sitze ich noch an meinem Schreibtisch und probiere  verschiedene Satzweisen aus. Das Stück, an dem ich aktuell arbeite, ist  ein Violinkonzert – natürlich von dir inspiriert und für dich  geschrieben, egal ob du es irgendwann spielen wirst... Eine Fanfare im  zweiten Satz wird von Horn und Trompete vorgestellt. Greifen nun zuerst  die Holzbläser oder doch die Streicher auf und wer begleitet danach die  Sologeige? Wie hätte Mozart es gemacht?

Mozart hätte nie so ein Stück  geschrieben. Meine Musik ist einfach zu weit von ihm entfernt, um sich  an ihm zu orientieren. Dabei ist mein Klavierkonzert an drei seiner  Konzerte angelehnt... Ich entscheide mich für die Streicherantwort, die  Holzbläser accompagnieren also die Solovioline... mit Pauken oder ohne?  Besser ohne, du bist nicht so brutal. Ein bisschen verziert klingt das  Motiv auch nicht mehr nach Fanfare. Ich husche hinüber zum Klavier und  spiele die Takte leise an. So schlecht wie das ist, werde ich nie  fertig. Die ganze Zeit über bist du bei mir. Aber du hilfst mir nicht.  Kannst du nicht wenigstens versuchen, mir zu helfen?

Vielleicht sollte  ich dir einfach schreiben und dich fragen, wie es dir geht. Die  Nachricht ist schnell getippt, doch ich schicke sie nicht ab. Aus  irgendeinem Grund kommt mir der Gedanke, es hätte etwas beruhigendes an  sich, wenn ich wüsste, was du denkst, wo du bist und ob ich in deinem  Leben überhaupt existiere. Ich wüsste auch gerne, was du eigentlich von  den Kompositionen gehalten hast, die ich schon für dich gemacht habe...

Aber  du lebst dein Leben – ohne mich. Du lebst und vielleicht liebst du –  aber ganz bestimmt ohne mich. Wer weiß, was du nach dem Abitur machst –  wie groß ist wohl die Wahrscheinlichkeit, dass du hier bleibst und hier  studierst, genau wie ich? Dafür helfen mir meine 14 Punkte im Mathe-LK  auch nichts... Ich werde dich nach dem Abitur wahrscheinlich nie  wiedersehen, aber ich möchte, dass du weißt, dass ich dich nicht  vergessen werde.

Du bist der Grund dafür, dass ich gelitten habe, unter  der Liebe und unter mir selbst. Du bist der Grund dafür, dass ich  gewachsen bin, an meinen Kompositionen, an meinen Auftritten – immer und  immer wieder vor allem für dich. Du bist der Grund für viele  Entwicklungen in meinem Leben, ohne dass du irgendetwas davon  mitbekommen hast. Und trotz allem glaube ich – hoffe ich – dass du dich  zumindest auf Fotos und bei Klassentreffen an mich erinnern kannst.

Wie  oft habe ich tagsüber davon geträumt, dass wir beide eine glückliche  Zukunft haben. Jetzt liege ich in meinem Bett und habe Angst  einzuschlafen, aus Angst vor den Träumen, die kommen werden. Aus Angst,  wenn du noch einmal in meinem Traum stirbst, dass du dann wirklich  stirbst und sei es nur in meiner Welt.

Das  Konzert steht in d-Moll. Genau wie Beethovens neunte und Mozarts  Requiem. d-Moll ist eine Tonart der Trauer, der Schwere und des tiefen  Schmerzes. Aber das Strahlen von D-Dur wird nur vom Es-Dur der Es-Hörner  geschlagen und von d-Moll nach D-Dur ist es nicht allzu weit, wie  Beethoven uns bewiesen hat.

Aber  auch a-Moll ist nicht weit weg und in a-Moll ist alles möglich:  leichte, etwas melancholische Stücke stehen genauso in a-Moll, wie das  ungebändigte Höllenfeuer aus Mozarts „Confutatis". Und irgendwie  existiert in meinem Kopf noch immer die Hoffnung, ich könnte mit dem  letzten Akkord meines Konzerts den Lauf der Welt verändern.
Mit wirren Gedanken schlafe ich ein, doch Morpheus hat heute Gnade mit mir, denn die Nacht ist zwar kurz, dafür aber traumlos.

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