Rebecca
24.04.2022 / 08.04.2021 --- 1993 Wörter
Ein Engel.
Du musst ein Engel sein.
Mein Schutzengel.
Warum bist du überhaupt hier?
Dein Problem bin ich nicht. Du könntest dich um was anderes kümmern, du könntest mich hier einfach liegen lassen.
Was machst du hier? Warum hilfst du mir?
Ich habe kaum Freunde und hier schon gar nicht. Ich bin dazu prädestiniert, hier zu verrecken. Warum bist du da?
Ich kenne dich. Aber ich weiß nicht mehr woher.
Langsam kommen noch andere Menschen, die mir helfen, mich halten, meine Beine ausstrecken. Er hat sie gerufen, er, der mit dir herkam. Eine Flasche wird mir an die Lippen gesetzt. Wo bin ich eigentlich?
Draußen, hinter einer Glastür leuchten blaue Lichter. Gesichter laufen an mir vorbei, Gesichter, die ich kenne, nur weiß ich nicht, woher. Der Typ, der dich geholt hat, und dann die anderen, kommt wieder in mein Blickfeld. Er scheint mich auch zu kennen, jedenfalls scheint er irgendwie besorgt.
Jetzt kommen zwei Männer und eine Frau. Wahrscheinlich Sanitäter, nach ihrer Kleidung zu urteilen. Wer ruft denn für mich einen Krankenwagen? Ich sterbe doch nicht. Ich habe doch dich. Meinen Schutzengel.
Dein Gesicht schiebt sich wieder in mein Blickfeld. Du schaust besorgt, während mir die Sanitäterin irgendetwas um den Arm bindet. Du bewegst den Mund, doch ich höre dich nicht sprechen. Ohnehin ist alles was ich höre fremde, leise Musik zum Rhythmus meines Pulsschlags. Ich schaue angestrengt auf deinen Mund, um wenigstens einen Anhaltspunkt zu haben, was du sagst, doch ich verstehe absolut gar nichts.
Ich lasse den Kopf wieder nach hinten fallen und schließe meine Augen. Im gleichen Moment wird mir klar, dass man jetzt versuchen wird, mit mir zu kommunizieren. Ich spüre schon beinahe, wie die Sanitäterin nach meinem Namen fragt, während sie an meinem Arm rüttelt. Doch ich höre sie nicht. Und ich öffne auch nicht die Augen, denn alles, was ich sähe, wäre dein Gesicht, das spricht und das ich nicht verstehe. Mein Arm wird jetzt stärker geschüttelt und plötzlich spüre ich Hände, die mein Gesicht umfassen. Widerwillig öffne ich ein Auge und schaue direkt in dein Gesicht. Eine Strähne deiner blonden Haare hängt mir ins Gesicht, so nah bist du mir.
Deine Lippen buchstabieren meinen Namen und langsam fange ich an, Geräusche wahrzunehmen. Inzwischen habe ich wieder beide Augen geöffnet, sehe in dein Gesicht. Ich wünschte, ich wüsste, woher du meinen Namen kennst. Ich kenne deinen nämlich nicht. Ich kann mich zumindest nicht mehr daran erinnern, aber ganz hinten in meinem Kopf entsteht ein Bild. Ich kenne dich, da bin ich mir inzwischen sicher. Zumindest kannte ich dich mal.
Die Sanitäterin schiebt dich aus meinem Blickfeld und beginnt auf mich einzureden, doch ich verstehe sie nicht. Alles was ich höre, ist mein Pulsschlag in meinen Ohren, quälend langsam. Meine Augenlider flattern. Ich kann nichts dagegen tun. Ich spüre deine Hand, die meine hält. Warum bist du hier? Wer bist du? Wo sind wir? Und warum kann ich mich nicht an dich erinnern?
Rebecca. Das ist dein Name. Becky für deine Freunde. Aber ich habe nie dazugehört. Du hast mich damals nie beachtet. Ich war Außenseiter, uninteressant. Die Erinnerungen strömen auf mich ein. Du bist noch schöner, als ich dich in Erinnerung hatte, wenn das überhaupt möglich ist.
Ich konzentriere mich auf deine Hand und versuche, sie zu drücken, aber ich weiß nicht, ob ich es schaffe, oder mir nur einbilde, dass du meine Hand zurückdrückst. Plötzlich wird mir schlecht, ich fühle mich, als würde ich durch die Gegend geschleudert, während sich meine Innereien auf die Reise machen, den Rest meines Körpers zu erkunden. Nach ein paar Sekunden sind die Turbulenzen wieder vorbei und ich bin wieder in der Lage, meine Augen langsam zu öffnen, doch ich schließe sie gleich wieder, ob des Blaulichtterrors, der mich erwartet.
Ich spüre deine Hand, und wie deine andere Hand nun auch nach meiner greift. Ich spüre, dass ich bewegt werde. Etwas klickt, unter mir kreischen Rollen auf Schienen. Ich höre sie nicht, aber ich spüre den Widerstand und mein Verstand projiziert das Geräusch, das die Straßenbahn immer machte, auf dem Weg zur letzten Station vor zu Hause.
Dann halten wir an und ich öffne langsam die Augen. Durch Milchglasscheiben flackert blaues Licht und zwei Männer in orangefarbenen Jacken hängen über meinem Gesicht. Einer hält mir eine Lampe ins Gesicht, der andere macht sich an meiner Jacke zu schaffen. Dann erscheint dein Gesicht wieder. Eine deiner Hände lässt meine los, während ich durchgeschüttelt werde. Dann liegt deine Hand plötzlich an meiner Wange und mich erfüllt ein Gefühl von Vollkommenheit. Ich höre dein Flüstern. Meine Augen fallen zu, doch langsam verstehe ich einzelne Worte. Worte des Flehens, Bittens, Weinens. Du kämpfst mit den Tränen, das höre ich in deiner Stimme, auch wenn du nur flüsterst. Und wieder kommt mir die Frage in den Kopf: Warum bist du hier? Was machst du hier? Warum hilfst du mir? Und noch eine weitere: Wer bin ich für dich?
Dann bewegt sich wieder alles um mich herum. Mit flatternden Augenlidern sehe ich verschiedene Deckenleuchten. Muster für Muster prägt sich in meinen Kopf ein, Flur um Flur, zwischendurch ein Fahrstuhl, immer weiter geht die Reise, während Menschen um mich herum dazukommen und weggehen, aber du bleibst bei mir. Das letzte, was ich spüre, ist, wie deine Hand meine loslässt.
Ich erwache vom Duft der Veilchen, die auf einem Tisch in der Nähe stehen. Erinnerungen strömen auf mich ein: Ich hatte meine Großeltern im Hotel besuchen wollen. Sie wollten in die Lobby kommen, deshalb hatte ich dort gewartet. Und ganz nach meiner Art war ich an der Fensterfront auf- und abgelaufen, als ich eine seltsame Silhouette in einem der Fenster eines benachbarten Gebäudes gesehen hatte. Ich hatte sie nicht aus den Augen gelassen, obwohl die Vorstellung, dort könnte ein Scharfschütze sitzen sogar für meine paranoide Seite unrealistisch erschienen war. Offenbar hatte ich wohl doch recht gehabt. Und dann hast du dich um mich gekümmert. Du warst da, die ganze Zeit über, bis ich ohnmächtig geworden bin. Trotzdem kann ich mir immer noch nicht erklären, warum man auf mich geschossen hat.
Ich grüble noch über dieser letzten Frage, als sich die Tür öffnet und eine schmächtige, brünette Schwester hereinkommt. Sie scheint überrascht, dass ich wach bin, aber sie grüßt mich und eilt dann aus dem Raum, um mein Erwachen zu melden.
-----------
Die nächste halbe Stunde zog sich ewig. Ich erfuhr vom behandelnden Arzt, dass ich zwei Tage lang bewusstlos gewesen war und von einem einzelnen Projektil getroffen worden war, dass meine Leber nur um einen Zentimeter verfehlt hatte. Dann erklärte er mir noch, welche Schmerzmittel er mir gab, wie lange ich wahrscheinlich noch bleiben musste und, dass meine Eltern und Großeltern kontaktiert worden waren. Dich erwähnte er mit keinem Wort und ich fragte nicht nach dir.
Dann kamen zwei Polizisten mit grimmigen Gesichtern in den Raum. Ich erzählte ihnen, woran ich mich erinnern konnte, beschrieb ihnen genau, in welchem Fenster ich den Schützen gesehen hatte, fragte mich zwischendurch plötzlich, wieso er so blöd gewesen war, das Licht hinter sich anzulassen und erfuhr schließlich noch, dass sowohl Geschoss als auch das zugehörige Gewehr mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entwendetes Militärgerät waren. Die Polizisten verabschiedeten sich mit dem Versprechen, das Gebäude auf den Kopf zu stellen und dann war ich wieder alleine. Ich sah aus dem Fenster und wartete darauf, dass noch irgendetwas passierte.
Dann kamen meine Eltern und meine Großeltern. Ich wurde umarmt, gestreichelt, bemitleidet und rundum versorgt mit allem, was meine Großmutter über das Wochenende hatte auftreiben können. Sudoku, Schwedenrätsel, Schreibpapier, Bleistifte, Radiergummi und Anspitzer mit Klaviaturen legte sie mit einem Grinsen und einer Tafel Schokolade in eine Schublade neben meinem Bett. Mein Vater legte seine Ausgaben der FAZ der letzten Tage auf meine Decke, und schon von außen konnte ich sehen, dass der Lokal- und der Sportteil so zerlesen waren, wie früher.
Dann kam die unvermeidliche Frage aus dem Mund meiner Mutter: Von wem waren die Blumen? Ich wusste schon, dass sie von dir waren. Nicht, weil das irgendjemand angedeutet hätte, oder eine Karte oder etwas Vergleichbares beigelegen hätte. Ich wusste es einfach.
Meine Eltern und Großeltern blieben den ganzen Tag. Am Abend kam dann noch meine kleine Schwester, die vor acht Monaten ihr Studium in der Landeshauptstadt begonnen hatte. Sie stürzte sich auf mich, lachte, weinte und stellte Fragen, die niemand beantworten konnte. Wer dahintersteckte, warum ich getroffen worden war, wie Militärgerät abhandenkommen konnte und wann es mir wieder gut gehen würde. Zwischendurch kam die Krankenschwester einige Male herein und las Zahlen von den Geräten ab, an die ich angeschlossen war.
Schließlich wurde es spät und meine Verwandten verabschiedeten sich. Ich lag noch ein paar Stunden wach und dachte an dich, an dein trauriges Lächeln, deine langen, blonden Haare, die dich gegen das Licht wie einen Engel aussehen ließen und deine Hand, die meine gehalten hat. Mit geschlossenen Augen versuchte ich mich zu erinnern, wie es sich angefühlt hatte, als du meine Hand gedrückt hast. Ich lächelte, als jemand leise die Tür öffnete.
-----------
Deine Umarmung ist noch viel erfüllender, als dein Lächeln es ist. Wir brauchen keine Worte, um uns zu verstehen, aber schließlich benutzen wir sie doch. Du erzählst mir, dass du als Schwester in einem anderen Teil dieses Krankenhauses arbeitest und deine Schicht gerade angefangen hatte, als ich aufgewacht war. Schließlich setzt du dich zu mir auf die Bettkante und wir blättern im Lokalteil von Vorgestern. Auf Seite drei ist von einem Anschlag auf Hotelgäste die Rede. Es ist seltsam, die eigenen Initialen in diesem Kontext in der Zeitung zu lesen.
Du merkst das und legst bloß einen Arm um mich, was mich so glücklich wie nie macht. Wir reden und dann schweigen wir. Immer im Wechsel. Ich bedanke mich für die Blumen und du winkst ab. Du erzählst mir, welche Angst du um mich gehabt hast und fragst nach meinen Schmerzen und ich winke ab. Schließlich beginnen wir, ganz zögerlich, damit, Stück für Stück das Gespräch auf früher zu lenken. Du siehst mich nicht mehr an, als du von der Schulzeit sprichst. Irgendetwas schiebt sich zwischen uns, bis du schließlich aufstehst.
Ich weiß nicht im Ansatz, was gerade in deinem Kopf vorgeht, aber aus einem Impuls heraus stelle ich die Frage, die mir an jenem Abend immer wieder durch den Kopf gegangen war. Warum warst du da? Warum hast du mir geholfen?
Ich werde dein rot schimmerndes Gesicht niemals vergessen, mit dem du mich anschaust, während du mir flüsternd erzählst, dass du mich zufällig in der Hotellobby gesehen hast, dass du eigentlich mit deiner Freundin im Restaurant des Hotels verabredet gewesen warst. Ich erinnere mich auch an Hannah, aber der Gedanke an sie verschwindet fast sofort, als du mir beichtest, du wärest in der zehnten Klasse über beide Ohren in mich verknallt gewesen. Dazu schaust du mich mit einem Blick an, der eindeutig sagt, dass sich das seit der zehnten Klasse nicht großartig geändert hat.
Du wendest dich ab und schaust aus dem Fenster. Ich fühle mich wie im Film, als ich deinen Namen flüstere.
„Becky? Darf ich dich Becky nennen?"
Du schweigst zur Antwort und reagierst kaum. Also versuche ich es wieder und wieder. Als du dich dann doch umdrehst, weinst du. Auf deinen Wangen sind ein paar salzglasierte Streifen zu sehen und ein kleiner Tropfen hängt dir unter der Nase. Ich breite stumm meine Arme aus und komme mir wieder vor, wie in einem Film, während du mich auf der Bettkante sitzend umarmst. Wir sitzen nur da und umarmen uns und das reicht für uns beide.
Es ist halb zehn, als du dich verabschiedest. Du hast deine Jacke schon an und den Türgriff in der Hand, als du dich nochmal umdrehst. Du kommst noch einmal zu mir und legst eine Hand an meine Wange. Wir lächeln uns an und dann küsst du mich auf die andere Wange. Du versprichst noch flüsternd, dass du morgen wiederkommst, bevor du so leise durch die Tür verschwindest, wie du gekommen bist.
Warum warst du da? Niemand wird je sagen können, ob es bloß Zufall oder irgendein größerer Plan des Universums war, der unsere Begegnung an dem Tag herbeiführte, doch am Ende war es wahrscheinlich der wichtigste Tag meines Lebens.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro