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Mira

18.07.2022 --- 4235 Worte

»Hallo! Mira Jansen mein Name. Mir wurde hier eine Expeditionsleitung zugeteilt«, stelle ich mich an der Rezeption vor.
»Einen Moment bitte«, antwortet die Frau mit den weißen Haaren, deren Namensschild sie als A. Lebateau ausweist. Sie trägt eine kunstvoll verzierte Brille mit hölzernem Gestell und einen teuer aussehenden Blazer.
Während Frau Lebateau in einem Hinterzimmer verschwindet, schaue ich mich etwas um. Es ist ein etwas unwirkliches Gefühl, in diesem Gebäude zu stehen. Hier drinnen hat man ein Gefühl von alten Zeiten, von Wohlstand und Luxus für alle – oder zumindest die meisten. Heute ist die Universität Hamburg eines der wenigen Gebäude, die hier stehen. Genaugenommen steht außer der Universität nur der Stadtverwaltungsbau und ein kleiner Kreis von unterkellerten Wohnungsbauten. Im ganzen Verwaltungsbezirk Hamburg gibt es vielleicht Wohnraum für 20.000 Menschen. Und hier leben über 100-Mal so viele.

»So!«, reißt mich Frau Labateau aus meinen Gedanken, »Hier sind Ihre Unterlagen. Seien Sie vorsichtig und weisen Sie Ihre Mitarbeiter nochmals darauf hin, dass das zu untersuchende Gebiet erst vor wenigen Tagen großflächig ausgepumpt wurde. Sie könnten in alten Kellern noch auf Wasserblasen oder größere Pfützen stoßen. Diese sind selbstverständlich zu katalogisieren, damit sie in den nächsten Wochen beseitigt werden können. Sie kennen Ihre Mitarbeiter bereits?« Sie spricht so gelangweilt, dass ich stutze, als sie aufhört zu sprechen. Was hat sie gesagt?
»Nein, ich kenne meine Mitarbeiter noch nicht«, antworte ich knapp.
»Nun, der Bus fährt in etwa ... 20 Minuten ab. Er müsste schon bereitstehen, einfach durch die Tür, 200 Meter links. Ihre Mitarbeiter, die heute dabei sind, werden dort sein. Wer nicht auf der Liste steht, kommt nicht mit. Noch Fragen?«
Frau Labateau klingt, als ob sie mich an Ort und Stelle erschießen würde, wenn ich jetzt noch eine Frage stellte, also verneine ich und drehe mich um. Eine junge, blonde Frau mit hölzerner Brille, etwa in meinem Alter schaut mich mitleidig an. Als ich an ihr vorbeigehe, meint sie: »Keine Sorge, die ist immer so.«
Wir lächeln uns kurz an, bevor ich nach draußen gehe und mich nach dem Bus mit meinen Mitarbeitern umsehe.

Der Anblick von dem, was heute Hamburg ist, ist für mich noch immer ungewohnt. Als Kind hörte ich von großen Wahrzeichen, wie der Elbphilharmonie, dem ›Michel‹, oder dem NATO-Tower, architektonischen Meisterleistungen der letzten Jahrhunderte und kulturell hochbedeutsamen Bauwerken. Heute steht keines davon mehr. In der Ferne, nahe der Nordsee kann man noch die Reste des NATO-Towers ausmachen, doch viel ist nicht mehr davon übrig. Der Grund dafür ist der Krieg, der vor sechs Jahren ausbrach. Heute weiß eigentlich niemand mehr, warum der Krieg ausbrach. Alles was wir wissen, ist dass der Krieg unsere Kultur ausgelöscht hat. Chinesen und Afrikaner sind über Europa geflogen und haben Stadt für Stadt alles ausgelöscht, was hier einst stand. Natürlich haben wir uns dafür in gleichem Maße gerächt, aber auch gegen die Amerikaner mussten wir uns wehren, die ihrerseits Australien überfallen hatten. Was auch immer genau passiert ist – heute stehen wir vor dem Trümmerhaufen, den wir Europa nennen und den wir seit vier Jahren wiederaufbauen.

»Frau Doktor Jansen?«, fragt mich eine Stimme direkt neben meinem rechten Ohr. Ich fahre herum. Die junge Frau von eben strahlt mich an: »Ich bin Isabelle Schumann und Ihrem Bezirk zugeteilt.«
Ich muss lächeln bei so viel Freude und scheinbarem Arbeitseifer. »Wie schön. Dann sind wir ja schon mal zu zweit. Aber ich kenne mich hier überhaupt nicht aus. Ich komme aus Frankfurt. Können Sie mir den Weg zum Bus zeigen?«
»Klar«, antwortet sie und geht sofort voraus. »Sie waren also in Frankfurt? Haben Sie da ihren Doktor gemacht?«
»Ja, genau.«
»Und ist es schön in Frankfurt?«
»Naja. Es ist im Grunde wie hier in Hamburg. Zu viel Verwaltung, zu wenig Wohnraum und ein riesiger Finanzierungsposten fließt in die Universität.«

»Hm. Stimmt. Wenn man studiert und ein Dach über dem Kopf hat, denkt man nicht oft über die Millionen Obdachlosen. Eigentlich ist es eine Schweinerei, wie das Geld investiert wird.«
»Naja. Dahinter steckt ja eine gute Idee, immerhin sind 98% der Wohnflächen in Europa zerstört worden. Wenn man die Ruinen der großen Städte wieder bewohnbar machen könnte, könnte man ohne großen Neubauaufwand schnell vielen Leuten wenigstens eine Übergangsunterkunft geben.«
»Aber hier in Hamburg wird das eher nichts. Ich meine bei der Sturmflut vor drei Jahren ist die gesamte Stadt unter Wasser gesetzt worden und außerdem ist der Meeresspiegel früher mindestens 2 Meter niedriger gewesen. Das alte Hamburg schwimmt im Grunde. Da wird nie wieder jemand wohnen können.«

»Und das ist der zweite Punkt. Wir versuchen, die Kultur zu retten. Alles, was wir an Gegenständen finden können, wollen wir archivieren.«
»Alles?«
»Hoffentlich, ja. Die Idee ist noch jung und kommt auch aus Frankfurt. Da will man in den Kellern der Wohngebäude ein großes Archivnetz errichten.«
»Und Sie sind hier, um das in Hamburg auch umzusetzen?«

»Inoffiziell ja.«
»Und offiziell?«
»Offiziell leite ich die Grabungen in Hamburg. Im Auftrag von Prof. Dr. Gunnarsson.«
»Zum Zwecke der Wiederherstellung von Wohnflächen.«
»Ganz genau. Ist das der Bus?«

»Das müsste unser Bus sein, ja. Und da sind auch schon Jonas und Tabea.«
»Kennen Sie alle Namen auf meiner Liste?«
»Wahrscheinlich. Unser Fachbereich hat nur etwa 50 Studierende, da hat man einen recht guten Überblick. Zeigen Sie doch mal her.«

»Hier.« Ich reiche Isabelle die Liste und sehe mich kurz um. Wir haben das Universitätsgebäude weit hinter uns gelassen und stehen nun im Nirgendwo. Der Bus vor uns steht auf einer kleinen, befestigten Fläche, gerade so groß, dass er darauf wenden kann. An diese Fläche anschließend liegt eine hier und da asphaltierte Straße, die, wie es scheint, notdürftig aufgeschüttet wurde. Links und rechts von dieser Straße ist weit und breit nichts zu sehen außer Gras und Bäumen, Allerdings scheint in etwa anderthalb Kilometer Entfernung eine Baumreihe eine kleine Hüttensiedlung zu umgeben.

»Ja, ich kenne die alle. Da haben sie sich ja wirklich die Besten der Besten ausgesucht«, unterbricht Isabelle meine Gedanken.
»Wirklich? Nun, ich habe die Liste nicht gemacht, die ist von Herrn Dr. Stephan, Ihrem Dozenten. Sagen Sie, was liegt da hinter der Baumreihe?«
»Da hinten? Das ist quasi das Reichen-Viertel des VB Hamburg. Da stehen etwa 100 Hütten mit Steinfundament und Zugang zu fließendem Wasser. Außerdem wohnen die neben einer alten Obstwiese, das heißt, die haben hier die geringsten Probleme mit Hunger.«

»Und wie viele Menschen leben da?«
»Man kann sagen vier bis fünf pro Haus, damit wären wir dann bei etwa 500 Bewohnern.«
»Hm.« Mehr kann ich nicht antworten. Im nach Frankfurt zweitgrößten Verwaltungsbezirks von Europa, was die Einwohnerzahlen angeht, leben die oberen 0,025% in Blechhütten auf Steinsockeln, so wie in Frankfurt die unteren 50%.

»Aber was ist mit den 20.000 in den Wohnblocks?«, frage ich. »Warum sind die nicht die Reichen?«
»Weil kein Reicher da hinziehen wollen würde. Die Familien da hinten sind früher alle sehr wohlhabend gewesen. Keiner von denen würde in ein Haus ziehen, in dem 1000-2000 Menschen auf jeweils vier Quadratmetern leben. Zumal die großen Blöcke nicht mal fließend Wasser haben. Wer da oben im 13. Stock wohnt, hat sowieso nicht viel zu lachen. Jeden Abend komplett erschöpft 13 Stockwerke nach oben und am Morgen zu spät bei der Arbeit, weil man über die Menschen drüberklettern muss, die im Treppenhaus schlafen, weil sie keine Wohnung und kein richtiges Bett haben.«

Wieder schweige ich. Ich hatte gedacht, in Frankfurt sei es nicht so toll, aber gegen Hamburg ist Frankfurt wahrlich der Himmel auf Erden. Statt einer Antwort begrüße ich Jonas und Tabea, die mich freundlich zurückgrüßen.
Wir unterhalten uns noch 20 Minuten lang mit dem Busfahrer und den hinzukommenden Studierenden, bis Isabelle sagt: »So. Nun sind alle da.«

Nachdem auch ich noch einmal die Anwesenheitsliste durchgegangen bin, steigen wir alle in den Bus ein und fahren los über die holprige Straße ins alte Hamburg hinein.

Man fühlt sich hier wie auf einer der Stadtführungen, die es vor dem Krieg gab. ›Zur linken Seite sehen Sie nun die Ruinen des Hamburger Hafens. Inzwischen größtenteils überflutet halten die Stahlkonstruktionen, die früher dem Be- und Entladen der Schiffe dienten, noch immer den Naturgewalten stand‹, höre ich eine automatische Ansage in meinem inneren Ohr.

Ein Blick aus dem Fenster auf der anderen Seite fällt genau auf die größer werdenden Ruinen des NATO-Towers. Der Bus kämpft sich eine Steigung hinauf auf einen großen Hügel, der wohl als notdürftiger Deich aufgeschüttet worden ist. Eine Brücke führt über die Elbe und dahinter fahren wir wieder vom Deich herunter und in die Straßen von Hamburg.

In den Ruinen einer solchen Stadt zu sein ist immer wieder etwas Besonderes. Ich war auf sieben Exkursionen in die Frankfurter Ruinen, und trotzdem haut es einen immer wieder um. Die verkohlten Ruinen, die Trümmer auf den Straßen, die zerklüfteten Gebäudefronten, all das lässt nur entfernt erahnen, wie das Leben hier früher gewesen sein könnte.

In Frankfurt war ich aufgewachsen. Als ich dort durch die Ruinen ging, war das wie eine Therapie – irgendwann konnte ich akzeptieren, was geschehen war und mich darauf einstellen. In Hamburg zu sein ist etwas anderes. Hier kenne ich nichts, hier bin ich bis heute nie gewesen. Ein Großteil meiner Mitarbeiter aber scheinbar schon. Schräg gegenüber von mir sitzt eine junge Frau – Gudrun, glaube ich –, die das hier sehr mitzunehmen scheint. Sie wird von einer Freundin getröstet, aber ich beginne doch so langsam, zu zweifeln, ob das hier wirklich so eine gute Idee ist.

Schließlich hält der Bus. Der Busfahrer macht einen Scherz über den Zustand der Straße, doch niemand lacht mehr. Im Bus ist es stickig, dabei hat es draußen beim Einsteigen kaum 20°C gehabt. Schweigen hüllt uns ein.
Dann stehe ich auf. »Los geht's. Alle Mann raus aus dem Bus!«, kommandiere ich und gehe voran.

Hier auf der Straße zu stehen, ist auch nicht viel besser, hier gibt es kein Leben, keinen Antrieb für uns und die Luft ist mindestens so stickig, wie im Bus, auch wenn ein Lüftchen geht und uns den Geruch von Fisch und Salzwasser in die Nasen treibt.

»Ihr kennt die Kleingruppeneinteilung«, stelle ich fest, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren. »Fünf Gruppen, fünf Häuser. Geht rein und seht euch um. Bewegt nicht zu viel. Macht die Arbeit, die ihr in der Theorie gelernt habt und schreibt zunächst nur eine Inventur der größeren Gegenstände, die abzutransportieren wären. Anschließend werde ich sie selbst begutachten und die Situation bewerten. Und seid vorsichtig! Es könnten noch Wasserblasen da sein, die wir melden müssen und in den oberen Stockwerken – da, wo die Flut nicht hingekommen ist – könnten verweste menschliche Überreste sein. Da sie seit vier Jahren da liegen müssten, dürfte nicht viel mehr als das Skelett übrig sein, aber seid trotzdem vorsichtig und bewegt eventuelle Skelette so wenig wie möglich. Ich möchte mich dafür einsetzen, dass sie in Würde bestattet werden.«

Ich schaue in die Runde und sehe in ernste, gefasste Gesichter. »Also los. Gruppe 1 in das Haus da, Gruppe 2 in das. Gruppe 3 da drüben und Gruppe 4 hier. Gruppe 5 begleite ich. Viel Erfolg.«
Die Studierenden nicken und schultern ihre Taschen. Dann gehen wir zu den Gebäuden, während der Busfahrer sich in seine Bustür setzt.

Ich führe die fünfte Gruppe in ein Haus, in dessen Erdgeschoss wohl ein kleiner Laden gewesen sein muss. Reste einer Wand zeugen von einer Trennung zwischen Verkaufsbereich und Treppenhaus, die durch eine Granate aufgehoben worden zu sein scheint. Auch von der Treppe ist nicht mehr viel übrig, also helfen wir uns mit allem, was wir finden können, um die Reste der Treppe abzustützen.

Tatsächlich findet sich im hinteren Teil des Ladens eine Stahlkasse, die überlebt hat. Nach kurzer Suche findet sich der Schlüssel unter den verkohlten Überresten eines Holzregals. Isabelle reicht mir den Schlüssel und ich schließe die Kasse auf.

In der Kasse liegt Geld im Wert von mindestens 300.000€. Diverse 2.000€ und 5.000€-Scheine liegen ganz oben. Ich hatte damals nie so viel Geld in der Hand. Der größte Schein, den ich je besessen hatte, was ein gelb-bräunlicher 500€-Schein, von dem ich mir damals drei Bücher auf einmal hatte kaufen können. Eins davon besitze ich noch: Eine Antiquariatsausgabe von Hectors Reise. Eine, in der noch die Rede von China und Afrika ist.

Ganz unten in der Kasse finde ich einen Zettel. In leicht unleserlicher Schrift sind darauf einige Namen gekritzelt und daneben Beträge.
»Das werden wohl die Mitarbeiter gewesen sein«, vermutet Johanna, eine junge Brünette mit einer einfachen Plastikbrille, die bisher nicht viel gesagt hat. »Und auf der Liste wurde Buch darüber geführt, wer seinen Lohn bekommen hat.«

»Das ist auf jeden Fall möglich«, erwidere ich. »Aber jetzt packt alles wieder hier rein, ich schließe das Ding ab und wir nehmen das nachher direkt mit.«

Gesagt getan. Danach suchen wir das Hinterzimmer weiter ab. Es ist ausgebrannt, aber das Mauerwerk steht noch. Scheinbar war hier nicht so viel brennbares Material drin. Gerade, als wir uns entschließen, weiter nach oben zu gehen, stolpert Fabian über etwas und stützt sich an einer Wand ab, die daraufhin nachgibt.

In Schockstarre beobachten wir, wie Fabian stürzt und unter samt Wand zu Boden geht. Während in meinem Kopf schon ein Film abgeht, in dem ich tausenden Menschen mein Beileid zum Tod von Fabian Rörsch bekunden muss, steht besagter Mitarbeiter hustend und keuchend wieder auf.

»Alles gut. Es geht mir gut. Alles OK«, keucht er, während seine Kommilitoninnen auf ihn zustürmen.
»Vorsicht!«, rufe ich. »Das hier könnte gleich runterkommen! Wir wissen nicht, ob die Statik das Gebäude noch trägt.«

Sofort frieren alle in ihrer Bewegung ein.
»Fabian?«, frage ich, »was ist da?«
»Eine Kellertreppe. Zumindest sieht es so aus. Ich bin wohl gegen eine Tür gefallen«, antwortet er.
»Dann sehen wir uns das mal an. Hat jeder eine Taschenlampe dabei? Ja? Dann gehen wir jetzt gemeinsam runter. Ich mache meine Lampe zuerst an. Ihr anderen erst, wenn wir unten sind, in Ordnung?«

Auf das zustimmende Nicken hin mache ich mich auf den Weg. Ich gehe an den anderen vorbei und dann die Kellertreppe hinunter. Unten angekommen leuchte ich zunächst in die Ecken des Kellers.
»Schaut mal, seht ihr das?«, frage ich die anderen, in die rechte, hintere Ecke des Flures deutend.
»Das ist Wasser, oder?«, fragt Isabelle, die direkt hinter mir steht.
»Ja, genau. Das ist Wasser. Dort scheint der tiefste Punkt des Kellers zu liegen.«
»Und was machen wir jetzt?«, fragt Johanna vorsichtig.

»Wir teilen uns auf«, antworte ich nach kurzem Überlegen. »Tamara und Fabian, ihr geht hier vorne links in den ersten Raum und Isabelle und Johanna, ihr begleitet mich nach hinten. Wir schauen, wie das mit dem Wasser aussieht. In Ordnung?« Die anderen murmeln bestätigend. »Dann los. Und immer nur eine Taschenlampe!«

Vorsichtig nähern wir uns der hinteren rechten Kellerecke. Das Licht, das von der Wasseroberfläche am Boden reflektiert wird, erzeugt eine gespenstische Stimmung.
»Sind Sie sicher, das das ungefährlich ist, Frau Jansen?«, fragt Johanna unsicher.
»Es wird schon nichts passieren«, erwidere ich mit beruhigender Stimme, obwohl ich selber gerade zweifle. »Das Wasser wurde abgepumpt und ist höchstwahrscheinlich in irgendwelchen Ritzen versickert, wenn man an diesen Keller nicht herangekommen ist.«

Je näher wir an den Raum herantreten, desto muffiger wird der Geruch, der uns entgegenschlägt. Schließlich sind wir an der Tür angekommen und ich öffne sie vorsichtig. Sofort empfängt uns der Geruch von Verwesung und nur ein kurzes Zucken mit der Lampe durch den Raum zeigt zwanzig halb verweste Leichen, die hier wohl einige Zeit im Wasser herumgelegen hatten. Die Holzmöbel in diesem Raum sind ebenfalls verfault und nicht mehr zu gebrauchen, weshalb ich die Tür schnell wieder schließe.

»Hier finden wir so schnell nichts«, stelle ich fest und schaue prüfend in die Gesichter meiner Mitarbeiterinnen, die beide leicht grünlich geworden sind. »Kommt. Wir schauen in den anderen Räumen nach.«

In den anderen Räumen erwarten uns ähnliche Bilder, so gehen wir schließlich zu Tamara und Fabian, die noch immer im selben Raum sind. In diesem Raum ist keine Leiche und neben ein paar Holzmöbeln stehen hier Stahlregale, deren Inhalt in aufgeplatzten Plastikbehältern auf dem Boden herumliegt und ein großer, stählerner Tresor.

»Wow!«, staunt Johanna. »Der Tresor ist mindestens 150 Jahre alt!«
»Baujahr 1878«, bestätigt Tamara, die mit Fabian am Boden sitzt und die Plastikkisten durchsieht.
»Kommen Sie her, das hier ist echt beeindruckend. Einige Kisten haben dem Wasserdruck standgehalten und manche Zettel hier sind noch lesbar.«

»Sind da nur Zettel drin gewesen?«
»Nein, hier sind auch ein paar Dosen mit Einmachobst von 2042«, antwortet Fabian grinsend. »Falls wir nachher Hunger bekommen.«
»Dann geht bloß nicht in die anderen Kellerräume«, warnt Isabelle, »hier sind an die 50 Menschen im Keller verreckt.«

»Scheiße«, flucht Fabian und ich grinse.
»Meine Herrschaften!«, ermahne ich die anderen, »bitte behalten sie Ihre Kraftausdrücke für sich.«
»Klar doch«, murmelt Fabian und schließt die Augen.
»Ist was?«, frage ich sicherheitshalber.
»Nein, mir ist grad nur ein bisschen schlecht«, kommt die Antwort und ich nicke. Dann mache ich mich mit den anderen an die Arbeit, die Zettel in den aufgegangenen Plastikkisten zu sortieren.

Nach 2 Stunden stellt Johanna die letzte Kiste in eines der Regale. Wir haben zwar sicher nicht die alte Struktur wiederhergestellt, aber immerhin hat der Raum jetzt etwas Struktur und der Aufwand, diesen Kellerraum zu archivieren wird nicht sehr groß sein.
Dann sehen wir alle zum Tresor hinüber.
»Ich nehme an, keiner hier kann einen Tresor knacken?«, fragt Isabelle und beäugt das Gerät kritisch.
Alle anderen schütteln die Köpfe.

»Nun, so schwer kann das doch nicht sein«, meint Isabelle, legt ein Ohr an die Tresorwand und dreht vorsichtig an dem großen Rad.

Eine halbe Stunde später hat dann Tamara schließlich den Tresor bezwungen. Jubelnd fallen die anderen sich in die Arme, während ich mir sofort den Inhalt des Tresors ansehe. Einige Kassetten fallen mir zuerst ins Auge, doch unter einer der Kassetten auf dem mittleren Trennbrett liegt ein Stapel Papier, der sich als Briefsammlung herausstellt. Es sind handgeschriebene Briefe einer Tochter an ihre Mutter. Die erste Zeile und die letzten drei Zeilen sind immer gleich: ›Liebe Mama,‹ und ›Liebe Grüße und tausend Küsse, // natürlich auch an Oma, // Deine Greta‹

Ich überfliege die Briefe. Greta war Mutter. In den ersten Briefen schrieb sie von ihrem Freund und späteren Verlobten, dann von ihrer Schwangerschaft und schließlich von der Geburt und der Inhaftierung ihres Mannes. Ihr letzter Brief war der kürzeste:

Liebe Mama,

ich muss hier weg. Gestern München, heute Mainz und morgen munkelt man von Straßburg.
Ich werde fliehen. Ich komme zu euch. Hannes hat mir einen Brief geschrieben, dass Frankfurt auch bald beschossen wird, also muss ich hier weg. Ich hoffe, dass ich ihn nach dem Krieg wiedersehen kann. Und ich hoffe, dass Frauke ihren Vater kennenlernen kann. Aber jetzt kann Frauke erstmal ihre Großmutter und ihre Urgroßmutter kennenlernen.

Ich liebe dich Mama. Falls wir nicht mehr bei dir ankommen sollten, dann merk dir das. Ich liebe dich. Wir lieben dich. Und sag das auch Hannes, solltest du ihn nochmal sehen.

Ich hab Angst, Mama. Nicht um mein Leben, sondern um Frauke. Diese Schweine haben ihr zwei Jahre mit ihrem Vater genommen. Und jetzt wollen sie sie umbringen. Du weißt, wie dieser Krieg geführt wird. Nicht mal unserer eigenen Regierung haben wir etwas bedeutet. Und jetzt sitzen wir hier in Angst und warten darauf, abgeschossen zu werden.

Aber Frauke darf nicht sterben. Frauke muss leben. Das hat sie verdient.
Ich hab Angst, Mama. Morgen früh gehen wir los. Vielleicht können wir ja in einem Auto mitfahren. Aber ein Auto würde wahrscheinlich abgeschossen, also müssen wir zu Fuß laufen und durch Wälder und Büsche, so gut es geht. Ich bete, dass wir immer genug zu Essen haben werden. Und trotzdem habe ich Angst. Vor allem habe ich Angst, dass ich etwas nicht bedacht habe. Dass ich etwas mitnehmen müsste, das ich morgen früh vergesse und das dann am Ende uns beide das Leben kostet.

Wir kommen zu dir, Mama. Frauke und ich kommen zu dir und gemeinsam überstehen wir das, ok?

Liebe Grüße und tausend Küsse,
natürlich auch an Oma,
Deine Greta

Das Datum in der oberen rechten Ecke datiert den Brief auf den 13. Oktober 2046, den Tag vor der Zerstörung Frankfurts. Wortlos reiche ich den Brief an Johanna weiter und setze mich neben dem Tresor auf den Boden. Womit auch immer ich am Morgen gerechnet hatte, das war es nicht.

Der Brief wandert weiter und wer ihn gelesen hat, setzt sich auf den Boden. Jeder hängt seinen Gedanken nach, alle schweigen. Dann ergreift Johanna das Wort.
»Aber warum?«
»Warum was?«, fragt Isabelle müde.
»Warum war ihr Mann verhaftet? Was kann er verbrochen haben?«
»Wer weiß. Ist das denn wichtig?«

»Viel wichtiger ist doch der Kommentar über die Kriegsführung«, widerspricht Fabian. »Kriegsführung direkt gegen die Zivilbevölkerung.«
»Aber hast du das woanders schon gehört?«, fragt Tamara.
»Ne.«
»Das wirft ein ganz anderes Licht auf die Geschichte.«

»Tut es das?«
»Natürlich.«
»Aber das ist nur eine Quelle.«
»Na und?«
»Wir sind Wissenschaftler, Leute. Eine Quelle sagt erst mal gar nichts.«

»Ich finde schon. Jede Quelle sollte Beachtung finden.«
»Aber wir haben genug offizielle Regierungserklärungen, die dagegensprechen.«
»Und das ist im Grunde auch nur eine Quelle.«
»Jetzt werden wir hier aber zu Verschwörungstheoretikern.«
»Findest du?«

»Leute!«, unterbreche ich die Diskussion. »Diese Briefe gehen uns erstmal nichts an. Das Ganze hier muss ins Lager und gesichtet werden. Das können wir hier jetzt nicht leisten. Bevor wir voreilige Schlüsse ziehen, lasst uns lieber aufschreiben, wie viele Kisten noch hier sind. Machen wir unsere Arbeit.«
Schweigen ist die Antwort.
»Kommt, Leute. Wir haben schon genug getrödelt.«

Abends sitzen wir alle im Bus auf dem Weg zurück zur Universität. Als wir über die Brücke fahren, flimmert die untergehende Sonne rot über die sich kräuselnde Elbe. Die Flut kommt. In zwei Stunden ist Hochwasser. Auf der anderen Seite sehen wir die Ruinen des NATO-Towers vor dem violett-blauen Nachthimmel. Ich habe an diesem Tag noch viel nachgedacht, auch über meine eigene Flucht. Ich war mit meiner ganzen Familie aus Frankfurt in den Taunus geflüchtet und dort hatten wir ausgeharrt.

Dass ich Greta hätte kennen können, macht die ganze Geschichte nur noch schlimmer, denn jetzt weiß ich mit Sicherheit, dass sie tot ist. In Frankfurt konnte sie keinen Tag länger bleiben. Die Bomber kamen um elf Uhr. Sie hätte mit ihrer Tochter schon sehr früh aufbrechen müssen, um zu überleben. Und wenn sie es bis Hamburg geschafft hatte, dann gehörte sie zu den Menschen, die in diesem Keller ihr Leben gelassen hatten.

Ich bin Archäologin. Dr. Mira Jansen. Ich bin Archäologin, weil ich entdecken möchte. Ich möchte unsere Vergangenheit entdecken. Ich möchte in der Vergangenheit unsere Zukunft entdecken. Aber heute habe ich etwas ganz anderes entdeckt: Meine Verletzlichkeit. Meine Angst. Mein Bedürfnis nach Sicherheit und mir wohlgesonnenen Menschen. Meine eigene Grausamkeit. Meine Furcht.

Johanna hat vorhin gesagt, wir seien Wissenschaftler. Prof. Dr. Gunnarsson hat mich an die Wissenschaften herangeführt und mir eins beigebracht: Vor dem Krieg hatte Wissenschaft Ideale. Die Wissenschaft konnte dem Staat Paroli bieten, sie konnte dem Staat diktieren, was er zu tun hatte.
Die ganze Energiewende, die Verkehrswende von Europa ausgehend in die ganze Welt getragen, hatte die Menschheit gerettet. Wir hatten in allerletzter Sekunde die Ausrottung des Menschen im Zuge der Klimakatastrophe verhindert.

Dann kam der Krieg und die Wissenschaft versagte. Sie baute die Waffen, die genau das taten, was man vorher verhindern konnte: sie löschten die Menschheit beinahe aus.
Jetzt ist der Krieg vorbei und die Wissenschaften sind nur noch Marionetten. Klar sind wir Wissenschaftler, möglicherweise sogar Entdecker. Aber alles, was wir finden muss einer ganz bestimmten Geschichte entsprechen, sonst werden wir ersetzt. Ersetzt durch Menschen, die die Geschichte schreiben wollen, die die Politiker gerne haben wollen.

Prof. Gunnarsson meinte zu mir, als Wissenschaftler hätten wir den Politikern gegenüber nur einen wirklichen Vorteil: Wir müssen viel schlauer sein als sie. Solange wir das schafften, meinte er, hätten wir immer die Möglichkeit etwas zu tun, das wirklich was verändert. Und zwar so heimlich, still und leise, dass es kaum auffällt. Je schlauer wir Wissenschaftler sind, desto besser können wir die Politiker hinters Licht führen.

Mein Professor sagte immer, es komme auf die Taktik an. ›Die Dame bringt man erst im Endspiel‹, war einer seiner Lieblingssprüche. Irgendwann könnten wir zurückschlagen, aber bis jetzt hat jede Partei erst drei Figuren gezogen.
Trotzdem ist es kein gutes Gefühl, die Briefe von Greta an ihre Mutter verschwinden zu lassen. Auf der einen Seite muss ich sie schützen, damit sie nicht vernichtet werden, aber auf der anderen Seite sollten andere Menschen sie sehen können.

Gemeinsam hatten wir beschlossen, dass die Menschen heute noch eigene Probleme haben und so etwas noch überhaupt nicht wertschätzen können. Aber ich hoffe, meine Studierenden fordern nicht in fünf Jahren etwas von mir, dass ich nicht leisten kann, ohne mein Leben und meine Ideale zu riskieren.

Als der Bus hält, stehe ich wieder als erste auf. An der Bustür verabschiede ich jeden einzeln und mit Namen. Morgen treffen wir uns wieder hier, setzen die Arbeit in der Straße fort. Nächste Woche kommt Prof. Gunnarsson aus Frankfurt her und gemeinsam werden wir die Universität ausgraben. Ob ich mich darüber freuen soll, weiß ich nicht mehr.

Als ich mich vom Busfahrer verabschiede und den Bus für heute endgültig verlasse, sehe ich Isabelle, die ein paar Meter weiter stehen geblieben ist.

»Hast du ein warmes Zimmer für die Nacht?«, fragt sie und lächelt mich an.
»Ich habe ein Zimmer«, erwidere ich und schaue sie abwartend an.
»Nun«, meint sie und zögert, »es kann kalt werden... in der Nacht... und ich habe eines der größeren Betten am Campus...«
»Lädst du mich ein?«
»Nur zum Wärmen«, entgegnet Isabelle schnell.
»Soso«, lächle ich. »Dann zeig mir mal dein Zimmer.«

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