Johnny
24.04.2022 --- 1377 Wörter
Morgens, wenn ich auf den Bus warte, läuft Johnny auf der anderen Straßenseite vorbei. Johnny heißt nicht wirklich Johnny. Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, wie Johnny wirklich heißt, denn ich kenne Johnny nur vom Sehen, wenn er auf der anderen Straßenseite vorbeiläuft. Aber Johnny läuft seinen Weg jeden Tag, jede Woche, jeden Monat. Zu jeder Jahreszeit läuft er morgens um halb acht an meiner Bushaltestelle vorbei und nur in den Wintermonaten sieht man, dass er ab und zu mal eine zusätzliche Decke oder Plane dabeihat.
Wenn der Bus eine Minute zu früh kommt, dann können wir Johnny aus dem Bus noch einmal vor der nächsten Straßenecke sehen, wo ihm Frau Hansen ab und zu ein paar Münzen und einen Apfel schenkt. Selbst wenn der Bus selten pünktlich kommt, nach Johnny kann man seine Uhr stellen. Er kommt immer zur exakt gleichen Zeit, im exakt gleichen Tempo den exakt gleichen Weg entlang. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, dass er immer auf dieselben Pflastersteine tritt.
Doch heute kommt er nicht. Gut, es war wirklich sehr kalt vergangene Nacht. Wesentlich kälter als es sonst jemals wird, aber das hält Johnny sonst auch nicht davon ab, morgens aufzustehen. Vielleicht hat er ja aber auch eine Unterkunft für die Nacht gefunden, wo er nicht frieren musste, von wo aus er jetzt aber nicht den Weg laufen kann, den er sonst immer läuft. Die Minuten verstreichen, dann kommt der Bus, doch von Johnny keine Spur.
Selbst am Nachmittag, als ich auf dem Rückweg von der Arbeit noch lange an der Haltestelle mitten in der Stadt stehe, wo Johnny meistens auch irgendwann vorbeikommt, sehe ich ihn nicht. Irgendwann fahre ich dann doch nach Hause und frage mich unterwegs, warum es mich so mitnimmt, dass ein Stadtstreicher nicht seinen gewohnten Weg geht.
Als ich zuhause ankomme, läutet das Telefon. Noch in Jacke und Schuhen greife ich nach dem Hörer und nehme ihn ab. Ich melde mich wie gewohnt und werde dann von schnellen Worten in hoher Stimmlage umgehauen. Die einzige Information, die ich verstehe: Meine Schwester liegt im Koma.
An den Weg zum Krankenhaus erinnere ich mich nicht mehr. Meine Schwester liegt im Koma. Skiunfall, erklärt mein Schwager, während ich meine Nichte trösten muss. Meine Schwester liegt im Koma. Kurz darf ich sie sehen, doch ich sehe von ihr nicht viel, nur Decken, Apparate, Schläuche und einige Flecken Haut, die wohl zu ihrem Gesicht gehören. Meine Schwester liegt im Koma. Den ganzen Weg nach Hause habe ich nur diesen Gedanken im Kopf: Meine Schwester liegt im Koma.
Auch am nächsten Morgen sehe ich Johnny nicht. Vielleicht liegt er ja auch im Koma. Möglich wäre es ja. Meine Schwester liegt ja auch im Koma. Frau Hansen steht vorm Supermarkt, als wir mit dem Bus vorbeifahren. Fast scheint es, als warte sie auf Johnny. Aber Johnny kommt heute nicht, und morgen nicht, und übermorgen auch nicht.
Zwei Wochen später treffe ich Frau Hansen beim Metzger und frage sie, ob sie Johnny mal wieder gesehen hat. Sie verneint. Dann fragt sie, warum ich frage, und ich erzähle ihr von meiner Schwester. Die liegt im Koma, nun seit siebzehn Tagen schon. Und Frau Hansen legt mir die Hand auf die Schulter und tröstet mich und macht mir Mut, so gut es geht. Und dann gehe ich nach Hause, wo meine Nichte mit meinem Schwager wartet und wir sitzen beisammen und versuchen zu vergessen, dass meine Schwester im Koma liegt, aber nicht einmal meine Nichte kann das nur für eine Sekunde vergessen.
Wochen vergehen und Monate. Irgendwann lässt die Hoffnung nach, schrumpft umgekehrt exponentiell. Noch ist meine Schwester nicht tot und meine Nichte belebt sie jede Nacht in ihren Träumen wieder. Und so stirbt auch die Hoffnung nicht, denn meine Schwester liegt im Koma. Aber meine Schwester liegt seit nunmehr 127 Tagen im Koma, langsam naht der Sommer schon und die Angst, dass meine Schwester für immer im Koma liegt, die wird mehr und mehr und mehr.
Am 251. Tag nachdem meine Schwester ins Koma fiel, ruft mein Schwager mich an. Die Ärzte hätten ihn gefragt, ob er wünsche, dass sie meine Schwester sterben ließen. Es bestehe kaum noch Hoffnung, dass meine Schwester wieder aufwachen könnte und trotzdem wolle er es nicht. Aber wenn ich dafür sei, dann will er der Entscheidung der Familie nicht im Wege stehen. Aber meine Eltern sind beide schon tot. Meine Schwester und ihre Familie sind alles, was ich noch habe. Meine Schwester liegt im Koma. 251 Tage lang. Dann schafft sie auch noch einen Tag.
Meine Nichte findet langsam zurück ins Leben. Gestern war sie bei mir, um mich zu besuchen und mir ihren Freund vorzustellen. Ich freute mich und sie lächelte den ganzen Nachmittag. Und einen Tag lang dachte ich kaum darüber nach, dass meine Schwester im Koma liegt. Doch heute kommt die brutale Realität zurück. Morgens um viertel nach acht stehe ich an der Bushaltestelle. Der Bus kommt um 08:22, so sagt es zumindest der Fahrplan. Anfang nächsten Monat soll es einen neuen Fahrplan geben. Mal sehen, was sich ändert.
Niemand wartet mehr auf Johnny, auch Frau Hansen geht vom Supermarkt nun direkt nach Hause. Keine Trauer, niemand fragt nach ihm oder wundert sich, wo der Stadtstreicher wohl heute ist. Es wäre ja auch sinnlos, immerhin weiß es keiner und keiner wird es je wissen. So glauben wir, die wir morgens um halb neun im Bus sitzen und zur Arbeit fahren. Denn wir haben keinen Grund, etwas anderes zu glauben. Genauso haben wir auch keinen Grund zu glauben, dass meine Schwester wieder aufwachen wird. Doch trotzdem liegt meine Schwester noch im Koma. Sie ist nicht tot und von uns dreien wird niemand ihre Maschinen abstellen.
Auf der Arbeit werde ich von meiner Nichte angerufen. Sie will den Geburtstag ihrer Mutter feiern und braucht dafür meine Hilfe. Ich verspreche ihr, dass ich abends bei ihr vorbeikomme. Meine Schwester liegt im Koma. Aber sie hat noch Geburtstag und den wollen wir feiern.
Als ich an der Haltestelle aussteige, von der aus ich zu meiner Nichte nach Hause laufen will, fällt mir eine Gestalt auf, die auf einer Bank sitzt und eine Banane isst. Langsam hebt der Mann den Kopf und sieht sich um. Seine Bank liegt nicht auf meinem Weg, vielmehr liegt sie in entgegengesetzter Richtung, aber ich gehe trotzdem zu ihm hin. Als ich vor ihm stehe, bietet Johnny mir eine Banane an. Ich drücke ihm einen Euro in die Hand und schüttle den Kopf. Er lächelt und schüttelt ebenfalls den Kopf, gibt mir den Euro zurück und klopft neben sich auf die Bank.
Dann spricht er von seinem Bruder, der im Koma liegt. Er spricht von seinem Neffen und davon, dass sie zusammen das schönste Osterfest aller Zeiten gefeiert hatten. Und dann sagt er, sein Bruder wäre gestern gestorben. Nun läuft er wieder, aber jetzt in einem anderen Viertel der Stadt. Er sagt, das alte Viertel erinnere ihn zu sehr an seinen Bruder. Dann klingelt mein Handy.
Ich bedanke mich bei Johnny und stehe auf. Dann nehme ich den Anruf an und mache mich auf den Weg zu meiner Nichte. Die ist aber auch am Telefon und jubelt und freut sich und ich weiß nicht worüber. Dann bin ich bei ihnen angekommen.
Meine Schwester lag im Koma. 263 Tage lang. Dann ist sie aufgewacht. Drei Tage vor ihrem Geburtstag. Jeden Tag nach der Arbeit fahre ich nun kurz zu ihr und jeden Tag sehe ich dabei Johnny. Johnny ist nicht mehr der Alte; sein Rucksack ist ein anderer und er rührt keinen Apfel mehr an, sondern isst nur noch Banane. Aber meine Schwester ist auch nicht mehr die Alte. Trotzdem ist sie meine Schwester und wenngleich ich ihre Fröhlichkeit manchmal vermisse, ist es schöner, wenn sie da ist, als wenn sie schläft.
Meine Schwester lag im Koma. Dass sie erwacht ist, ist ein Wunder und ich danke dem Universum, Gott und Buddha jeden Tag dafür. Aber wenn ich mein Tagessoll an Dankbarkeit erfüllt habe, dann freue ich mich. Denn meine Schwester lebt. Sie lag nur im Koma. Egal wie nahe sie dem Tod war. Jetzt ist sie bei uns und wir freuen uns alle jeden Tag über einen neuen Tag.
Frau Hansen habe ich erzählt, dass ich Johnny wieder getroffen habe. Sie hat gelächelt und genickt und dann hat sie gesagt, dass ich ihm von ihr alles Gute bestellen soll. Und meiner Schwester auch.
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