Basima
24.04.2022 --- 5962 Wörter
Ein Knall weckt mich. Ich schieße hoch und sehe mich um. Die Vorhänge sind zugezogen, doch auch so kann ich erkennen, dass die Fackeln in der Bauruine wieder entzündet sind.
Kawumm.
Die nächste Explosion erschüttert das Gebäude und das umliegende Gelände.
Es sind nur Silvesterböller. Es sind nur Silvesterböller.
Ich komme mir blöd vor, diesen Satz kaum hörbar vor mich hin zu murmeln, aber ich kann nicht anders. Würde ich damit aufhören, dann würden aus den Silvesterböllern Atomraketen, aus der Bauruine ein Bunker und aus der zitternden Erde würde ein von Schützengräben durchzogenes Schlachtfeld. Ich habe zu viele Filme darüber gesehen, zu viele Berichte gelesen und war in zu vielen Museen, um die Bilder wieder zu vergessen.
Kawumm.
Ein Mädchen kommt lachend aus der Ruine gelaufen. An der Hand zieht sie einen Typen hinter sich her, dessen Hose schon nicht mehr auf seiner Hüfte sitzt. Die beiden verschwinden in einem nahegelegenen Gebüsch. Bald darauf hört man sie keuchen und stöhnen. Würde man nicht, wenn das Fenster geschlossen wäre, aber wenn ich es zu mache, dann ersticke ich hier drinnen an meiner Angst vor den Explosionen.
Kawumm.
Das Mädchen schreit. Schrill und laut. Nicht panisch, aber ich stelle mir vor, wie es panisch klänge. Und schon liegt sie vor mir, blutüberströmt, das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt und mit vor Angst zum Schrei geöffnetem Mund. Ich torkele vom Fenster weg.
Geh weg!, schreie ich das Bild in meinem Kopf an, doch es kommt kein Laut über meine Lippen.
Dann liegt sie neben einer Straßensperre auf den Straßen von Dublin, gleich darauf in Frankfurt am 22. März 1944.
Kawumm.
Ich halte mir die Ohren zu und schließe die Augen ganz fest. Nur durch die Nase atme ich die frische Luft von draußen ein. Ich halte inne und versuche mich zu beruhigen. Alles, worauf ich mich konzentrieren kann, ist das Rauschen des Blutes in meinen Ohren und das Pochen in meinem Kopf. Ich versuche, ruhig zu atmen, doch es will nicht richtig funktionieren. Diese Angst schlägt alles, die Angst vor dem Tod durch eine solche Brutalität.
Kawumm.
Ich höre die Explosion nur gedämpft, dafür spüre ich sie umso mehr.
Es sind nur Silvesterböller.
Ein Lichtblitz flammt auf.
Es sind nur Silvesterböller.
Ein panischer Schrei dringt zu meinen Ohren durch. Ich reiße die Hände weg und höre schrille, schmerzerfüllte Schreie. Nicht von dem Mädchen, das im Gebüsch liegt. Die ist jetzt aufgesprungen und steht vor der Bauruine. In der Nachbarschaft gehen weitere Fenster auf. Ein alter Mann schreit, dass sie leiser feiern sollen. Sein Fenster knallt wieder zu.
Rapapapapapapapapapapap.
Das ist kein Silvesterböller. Was ist das?
Rapapapapapapapapapapapuff puff puff.
Lichtblitze. Zuckende Schatten, die aufflackern und verschwinden, die aufschreien und verstummen.
Es sind Raketen.
Die Angst packt mich.
Raketen, Raketen, Raketen.
Ich kann nicht mehr klar denken.
Raketen. Raketen. Raketen.
Nur mit Mühe zwinge ich einen anderen Gedanken in meinen Kopf.
Silvesterraketen. Silvesterraketen. Silvesterraketen.
Es sind nur Silvesterraketen.
Kawumm.
Wieder diese Schreie. Irgendwas stimmt da nicht. Irgendwas ist aus dem Ruder gelaufen. Die Kids treffen sich regelmäßig in dieser Bauruine aber normalerweise passiert nichts. Ab und zu haben sie Böller dabei, normalerweise im Januar und Februar. Jetzt haben wir August.
Aaaaaaaaaaaaaaaaaa.
Der schmerzerfüllte Schrei ist lauter als jeder Böller davor. Jemand torkelt aus der Ruine. Die beiden Gestalten aus dem Gebüsch sind sofort bei der Person. Ein Mädchen, wenn ich das richtig sehe. Gemeinsam zerren die drei einen leblosen Körper aus der Ruine. Ich kann nicht erkennen, was er hat, aber ich erkenne den Jungen an seiner Jacke. Er geht auf meine Schule, ein Jahrgang unter mir. Er ist auffällig, weil er nichts trägt, was er nicht selbst gemacht hat. Und die Jacke, die er trägt, die trägt er jeden Tag. Ich habe mal gehört, wie er meinte, sie wäre sein liebstes Stück.
Die drei Personen, die bei Bewusstsein sind, stehen vor der Bauruine und atmen gemeinsam und sehr auffällig. Dann halten sie synchron ihre Oberteile über die Nasen und nehmen die Unterarme vor die Stirn, bevor sie in das Gebäude laufen.
Jetzt endlich kommt Leben in mich. Ich wähle den Notruf, während ich Sachen aus dem Kleiderschrank reiße. Ich schildere eilig die Situation. Der Mann am anderen Ende der Leitung versucht, mich zu beruhigen und sagt mindestens tausend Mal, dass ich bloß nicht näher an die Bauruine gehen soll, als unbedingt nötig, doch ich kann nicht anders.
Ich renne durch das Haus, wecke meine Eltern, laufe versehentlich auch in das Zimmer meines Bruders, der zu nachtschlafender Zeit Ballerspiele an seinem Computer zockt und verlasse schließlich das Haus. Ich renne über den Feldweg zu dem verlassenen Gebäude. Die Wiese ist noch feucht vom Gewitter der letzten Nacht, doch ich renne trotzdem darüber. Je schneller ich bei diesem Jungen bin, umso schneller muss ich nicht mehr daran denken, dass ich nicht helfe.
Kawumm.
Eine weitere Explosion erschüttert Teile des Gebäudes und diesmal stehe ich im Ereignishorizont. Nennt man das so? Oder müsste ich dafür von der Druckwelle zurückgeschleudert werden? Wie auch immer, ich gehe fast in die Knie, als die Explosion vorüberzieht.
Die letzten Schritte zu dem armen Jungen mache ich langsam, fast schleppend. Dann sinke ich neben ihm auf die Knie, fühle seinen Puls, betrachte seinen Körper und suche nach Wunden. Die Jacke, die ich erkannt habe, hängt in Fetzen und seine Haut ist stellenweise verbrannt. Sein Puls ist schwach und langsam, aber er ist da und das ist mehr als ich erwartet hatte.
Die drei kommen wieder aus dem Gebäude getorkelt, die beiden aus dem Gebüsch schleifen die andere hinter sich her, die nun auch das Bewusstsein verloren zu haben scheint. Ich springe auf und fühle auch ihren Puls. Als ich in ihr Gesicht sehe, erschrecke ich für einen Moment. Es ist Olivia, die kleine Schwester meiner Klassenkameradin und besten Freundin Marie. Zwei Klassen unter mir und eigentlich viel zu jung für so eine Aktion, aber ihre Eltern haben sie nicht richtig im Griff, darüber klagt Marie ständig. Ich befehle dem anderen Mädchen, ständig ihren Puls zu fühlen, ohne dass ich sie ansehe. Dann schnappe ich mir den Jungen und zerre ihn zu dem anderen hinüber.
Als beide ihre Finger am Hals der bewusstlosen liegen haben, sehe ich einige Sekunden lang zu den Fenstern des Hauses hinauf. Einige sind mit Brettern und Pappkartons verstellt. Dahinter leben Obdachlose, mal mehr, mal weniger aber wenn es im Sommer gewittert, dann flüchten sich die meisten hinein. Wer weiß, wie viele davon jetzt da drinnen sind, während der Qualm sich ausbreitet. Der kommt nun auch nach draußen und verwirbelt im leichten Wind, der um die Gebäude zieht. Eigentlich müsste es einen Durchzug geben, der den Qualm aus dem Gebäude pustet, aber irgendwie funktioniert das nicht. Wo liegt der Fehler? Was ist das Problem?
»Ellie?«, fragt das Mädchen, das noch bei Bewusstsein ist. »Elena, bist du das?«
Ich sehe sie an. Laura, Pommes' große Schwester. Pommes ist eigentlich ganz nett, zumindest gräbt er nicht jeden Tag ein Dutzend Mädchen an. Seine Schwester kenne ich eigentlich nur vom Sehen und weiß nicht viel über sie, doch sie weiß scheinbar eine Menge über mich.
»Elena, hör zu. Du musst die Feuerwehr rufen, Krankenwagen, alles. Mein Handy ist da drin und ich hab es eben nicht gefunden. Hast du dein Handy dabei? Weil wenn nicht, dann gehe ich da nochmal rein. Aber du hast doch eigentlich immer dein Handy dabei oder? Du bist doch die Gewissenhaftigkeit in Person. Pasi erzählt immer, dass du dein Handy nur in Notfällen benutzt. Glaub mir, das hier ist ein Notfall und von uns hat keiner ein Handy hier draußen.«
Sie plappert und plappert und plappert.
»Ey, Laura!«, unterbreche ich sie ungehalten, »alles gut, die Feuerwehr ist schon unterwegs, die müssten jeden Augenblick hier sein. Ich bin keine Anfängerin.«
»Sorry, Ellie. Ich meine Elena. Es ist nur so: ich hab voll Angst, dass Livi stirbt und es meine Schuld ist. Und ich kann nicht mal Hilfe rufen. Es ist so scheiße. Ich hab voll die Scheißangst und alles, was ich tun kann, ist zu beobachten, wie Livi stirbt. Das ist so frustrierend.«
»Ellie passt«, meine ich.
»Was?«
»Nenn mich ruhig Ellie. Das macht Pommes auch, oder?«
»Ja, das tut er. Aber ernsthaft? Pommes?«
Ich hab sie zum Lachen gebracht. Naja, nicht wirklich, sie schmunzelt nur, aber dafür, dass sie gerade über einer bewusstlosen Freundin kniet, wirkt sie erstaunlich heiter.
»Pommes ist süß, meinst du nicht?«, frage ich zurück.
»Vielleicht«, murmelt Laura und ich sehe ihre Heiterkeit aus ihrem Gesicht tröpfeln.
»Was ist denn eigentlich passiert? Warum bist du schuld, dass Olivia ohnmächtig ist?«
»Ich hab es vorgeschlagen«, murmelt Laura.
»Was vorgeschlagen? Zu böllern?«
»Um Gottes Willen, nein! Ich hab vorgeschlagen, wieder rein zu gehen, um zu sehen, ob wir noch jemanden rausholen können oder an unsere Handys kommen. Als wir das erste Mal wieder rauskamen, stand sie gerade noch aufrecht und beim zweiten Mal haben wir sie bewusstlos im Eingang gefunden. Sie wollte wohl wieder raus, aber sie hat es nicht ganz geschafft.«
»Und wie lange hat sie da gelegen?«
Laura zuckt mit den Schultern.
»Höchstens eine halbe Minute«, antwortet ihr Freund an ihrer Stelle. »Wir waren beim zweiten Mal schnell wieder draußen.«
»Scheiße«, murmle ich. Dann reiße ich mich wieder zusammen. »Ok. Wie heißt du?«
»Ich bin Steve.«
»Okay. Steve, Laura, ihr müsst mir Olivia hier rüber legen und dann zur Straße laufen. Stellt sicher, dass die uns finden. Und wenn ihr wieder hier seid, dann erklärt ihr mir, was zur Hölle hier so brennt. Beton brennt nämlich nicht so. Und überlegt, wie viele da noch drin sind. Die Feuerwehr wird das wissen wollen.«
»Okay. Hast du sonst noch nützliche Tipps?«, fragt Laura ironisch.
»Erklärt den Qualm erst mir und dann der Polizei. Vielleicht kann ich helfen.«
»Das ist lieb von dir, Ellie, aber die Böller können wir nicht leugnen.«
»Aber ich kann bezeugen, dass ihr nicht drinnen wart. Ich hab euch gehört und gesehen«, erkläre ich und zeige kurz auf mein Fenster, das immer noch offen steht. Dann widme ich mich wieder den beiden leblosen Körpern zwischen denen ich knie.
»Nun geht schon«, rufe ich Laura und Steve über die Schulter zu.
Während ich so dasitze und auf die Sirenen lausche, reduziert sich das Adrenalin in meinem Blut und meine Kopfschmerzen setzen wieder ein. Ich spüre förmlich, wie mich das Hochgefühl verlässt. Ich kann die beiden hier nicht retten, sollte das nötig sein. Ich kann nur beiden den Puls fühlen und warten. Hätten sie stark blutende Wunden, könnte ich versuchen, einen Druckverband anzulegen oder das Körperteil abzubinden, aber alle Wunden, die sie haben, sind Brandwunden. Ein Großteil der sichtbaren Haut ist versengt und da ich das nicht gerne ansehe, halte ich meine Augen geschlossen.
Ich hätte mit an die Straße gehen sollen. Hier kann ich wenig dagegen tun, wenn Laura und Steve entscheiden, dass sie besser dran sind, wenn sie abhauen. Ich kann nur hoffen, dass sie mir helfen.
Und es wäre außerdem furchtbar nett, wenn der Wind endlich mal den Qualm aus dem Gebäude treiben würde, doch auch das zieht sich hin.
Olivia regt sich und ich bete den Krankenwagen her. In diesem Moment ist mir egal, ob ich zu Gott, zu Hermes, zu Allah oder zu Buddha bete, Hauptsache ist, dass in den nächsten Sekunden ein Krankenwagen hier eintrifft.
In der Ferne ertönt ein Martinshorn, während Olivia hustend zu sich kommt.
»Ellie?«, haucht sie und es treibt mir die Tränen in die Augen.
»Mensch Livi. Was machst du für Sachen?«, murmele ich zurück. Ich benutze nie ihren Spitznamen, ich bin eigentlich kein Fan von Spitznamen. Marie umso mehr. Sie hat mir schon tausend Spitznamen gegeben. Die meisten davon sind sogar länger als mein richtiger Name.
Olivia hustet wieder. Dann setzt sie zum Reden an.
»Scht«, unterbreche ich sie, »nicht reden. Dazu hast du später noch genug Zeit.«
Doch Olivia lässt sich nicht beirren. »Wirst du es Marie erzählen? Wirst du es Mama und Papa erzählen?«, fragt sie hauchend.
»Sie werden es erfahren«, seufze ich. »Wenn ich es ihnen nicht sage, dann sagen es ihnen die Ärzte oder die Polizisten, so wie im Krimi. Aber ich kann gerne mit ihnen reden, wenn du lieber willst, dass sie es von mir erfahren.«
Olivia überlegt einige Sekunden. »Das wäre nett«, haucht sie schließlich und schließt wieder die Augen.
»Hey! Wachbleiben!«, rufe ich laut. Laut genug, damit Olivia ihre Augen aufreißt, aber nicht laut genug, um ihr Bewusstsein dauerhaft zurückzuholen. Ihre Augenlider flackern und ich klatsche ihr mit meiner Hand auf die Wange.
»Bleib bei mir, Livi«, flehe ich. Die Sirenen werden jetzt immer schneller lauter und dann sehe ich die Reflexion der flackernden Blaulichter an der Wand der Bauruine.
Feuerwehrleute fangen an, um uns herumzulaufen und Notärzte kommen mit Tragen zu uns herüber gestürmt. Mir geht das alles viel zu schnell. Ich helfe halbherzig, als die beiden auf die Tragen gelegt werden, dann bleibe ich sitzen. Leute laufen an mir vorbei, die Feuerwehr läuft ins Gebäude und trägt weitere leblose Körper hinaus. Gleichzeitig zieht mein Leben an mir vorbei. Meine Reisen, meine Museumsbesuche, die Schulzeit, meine Freundinnen und Freunde und schließlich Basima.
Laura kommt zu mir und zieht mich hoch. Wir sehen uns an, beide mit Tränen in den Augen, dann schließt sie mich in die Arme. Sie drückt mich ganz fest und dann zieht sie mich weg von der Ruine. Ganz langsam laufen wir zur Straße, wo wir die Polizei und weitere RTWs einweisen sollen.
Während wir an den leblosen Körpern vorbeilaufen sehe ich in jedes der Gesichter und murmele den zugehörigen Namen vor mich hin. Manche sehen unverletzt aus, andere haben ähnliche Brandwunden wie die beiden, bei denen ich gekniet habe und wieder andere sehen noch viel schlimmer aus. Ich kann nicht mal in Gedanken beschreiben, was ihnen zugestoßen sein könnte, alles was ich weiß sind ihre Namen und dass sie aussehen wie Todgeweihte.
»Marco hat die Böller mitgebracht«, flüstert Laura schließlich. Und nach einer Pause fährt sie fort: »Sie wollten die Obdachlosen erschrecken. Ich wollte da eigentlich nicht mitmachen, deswegen sind wir raus. Ich bin sowieso nur gelegentlich dabei, wenn wir und im Bau treffen, deswegen wollte ich mich da nicht einmischen. Und ich wollte halt nicht den großen Zoff riskieren und Alk hatten sie genug, um da drüber hinwegzusehen. Dann hat Marco den ersten Böller gezündet und ich bin mit Steve raus. Was danach passiert ist, weiß ich nicht mehr so genau, aber ich weiß noch, dass Marco eine ganze Menge Zeug dabei hatte. Ich glaube, ein paar Raketen waren auch dabei, jedenfalls sah es so aus, wegen der ganzen Funken und so.«
Lauras wirre Worte werden langsamer und sie wird ruhiger, während wir uns immer weiter von der Bauruine entfernen. Je näher wir der Straße kommen, desto heller wird es und desto besser kann ich ihr Gesicht erkennen. Sie sieht fertig aus, aber nicht so als ob sie betrunken wäre.
»Wie viel hast du denn getrunken?«, frage ich also.
»Nicht genug schätze ich«, erwidert sie. »Wieso fragst du?«
»Weil du sagtest, sie hätten genug Alkohol gehabt, um über die Böller hinwegzusehen.«
»Ach so. Warst du schon mal drunk? Wahrscheinlich nicht. Selbst wenn du richtig zu bist, kann dein Adrenalin dich für einige Zeit klar machen. Ich weiß nicht mal, ob's nun Adrenalin ist oder nicht, aber Fakt ist: als die Mädels angefangen haben zu schreien, bin ich wieder nüchtern gewesen. Weißt du, in dem Moment hab ich nur gedacht: ›Shit, shit, shit. Was mach ich jetzt? Livi ist da drin. Was mach ich jetzt?‹ Ich konnte überhaupt nicht mehr klar denken, bis auf den Fakt, dass ich Livi rausholen musste.«
»Und warum nur Livi? Was ist mit den anderen?«
»Den anderen hab ich nicht versprochen, auf sie aufzupassen. Marie hat mich gebeten, damit sie Livi vor ihren Eltern deckt und ich hab's den beiden versprochen.«
»Ich hab Liv versprochen, mit Marie und ihren Eltern zu reden. Ich muss gleich noch hin«, murmele ich aus dem Nichts.
»Wow. Das ist nett von dir. Du weißt schon, wie ihre Eltern drauf sind?«
»Klar. Marie ist meine Freundin. Ihre Eltern kennen mich, die werden mir nicht den Kopf abreißen und wenn ich gehe, dann werden sie Liv auch nicht den Kopf abreißen.«
»Warum? Weil du magische Fähigkeiten hast, die sie davon abhalten?«
»Weil ich eine Begabung fürs Reden habe. Wenn ich denen das vernünftig erkläre, dann sieht alles gleich viel besser aus.«
»Deine Zuversicht möchte ich haben.«
»Vergiss nicht, du bist dicht. In ein paar Stunden sieht die ganze Welt wieder anders aus. Auch ohne dass ich mit dir geredet habe.«
»Kannst du nicht reden, damit es schneller geht?«
»Ne du, wir warten jetzt auf die Polizei, dann fährst du mit denen aufs Revier, wo du deine Aussage machst, ich fahre zu Marie und komme danach auch zur Polizei und vielleicht begleite ich dich nach Hause, wenn die dich weglassen.«
»Du meinst, die buchten mich dafür ein?«, fragt Laura panisch.
»Was weiß ich?«, entgegne ich ernst. Dann schmunzle ich leicht und Laura entspannt sich.
Während wir an der Straße auf die Polizei warten, erklärt sie mir weitere Details des Herganges und warum brennbare Möbel in der Ruine standen, die die Jugendlichen dorthin gebracht haben und die jetzt wahrscheinlich verbrannt sind. Als die Polizei eintrifft, sind wir ihre Aussage durchgegangen und reden inzwischen wieder über die anderen Jugendlichen.
Laura kennt ein paar von ihnen besser aber die meisten sind für sie nur Sauffreunde. Der erste RTW fährt bereits wieder ab und auf Lauras Frage erzählt der Fahrer, dass sie Felix Langbaum transportieren. Das war einer der letzten gewesen, den sie rausgeholt haben und sein Zustand ist wohl am kritischsten. In diesem Moment kann ich aber trotzdem nur denken: ›Bitte heißt das nicht, dass Olivia tot ist. Bitte heißt das, dass es Olivia gut geht.‹
Während die RTW zur Ruine vorfahren, bleibt der Polizeiwagen bei uns und wir erklären ganz informell, was los ist. Während Laura glücklich ist, dass sie sich schon in den Polizeiwagen setzen darf und auch mit Kotztüten versorgt wird, erlaubt die freundliche Polizistin mir, zu Marie nach Hause zu fahren, bevor ich auf die Wache komme. Mit einem kleinen Lächeln droht sie mir: »Aber wenn du bis acht Uhr nicht auftauchst, dann kommen wir dich suchen.«
Ich laufe die paar Meter nach Hause und hole mein Fahrrad, bevor ich zu Marie nach Hause rase. Ich kenne ihre Familie und weiß, wie gefährlich es sein kann, mitten in der Nacht Sturm zu klingeln - weit gefährlicher als bei manch anderer Familie - und trotzdem halte ich meinen Finger fest auf den Klingelknopf gedrückt, bis jemand die Tür von innen aufschließt. Herr Hafner hat sich wohl schon bereit gemacht, denjenigen in Grund und Boden zu schreien, der seinen Schlaf so unfreundlich unterbrochen hat, doch als er mich erkennt, stockt er.
»Elena? Was machst du denn hier.« Seine Stimme ist sofort ernst und ich glaube sogar, Besorgnis zu erkennen. »Nun komm schon. Raus mit der Sprache! Warum klingelst du uns hier aus dem Bett?«
»Ich muss euch was erzählen. Und das müsst ihr alle hören.«
»Auch die Mädchen?«
»Es geht um Olivia«, bestätige ich vage.
Herr Hafner nickt und öffnet die Tür nun weit. »Komm herein«, murmelt er und schreit dann die Treppe hinauf: »Susanne, Marie, Olivia! Kommt runter!«
Es dauert nicht lange bis Maries Mutter die Treppe heruntergelaufen kommt. Und auch Marie folgt kurz danach. Als sie unten angekommen ist, begrüßt sie mich mit einer Umarmung, bevor sie leise sagt: »Olivia kommt gleich.«
Herr Hafner nickt und ich fühle mich etwas unbehaglich. Ich warte noch ein paar Sekunden, bevor ich schließlich sage: »Nein, wird sie nicht.«
Marie versucht, mich unauffällig zu treten, doch da alle Blicke auf mir liegen, fällt es auf.
»Marie? Weißt du etwas davon?«, fragt ihr Vater und Marie zieht den Kopf ein.
»Nur, dass sie auf eine Party wollte. Aber eigentlich wollte sie schon seit zwei Stunden wieder hier sein.«
»Und du hast sie decken wollen?«
»Klar. Sie ist meine Schwester und ich gönne ihr den Spaß.« Ich muss aufpassen, dass ich nicht anfange zu grinsen, als Marie völlig beiläufig versucht, zu vertuschen, dass Olivia sie die letzten zwei Jahre auch regelmäßig gedeckt hat.
Stattdessen unterbreche ich den beginnenden Familienkrach, indem ich einwerfe: »Deswegen bin ich hier: Olivia wird heute Nacht nicht mehr nach Hause kommen. Die Party war in der alten Bauruine bei uns hinterm Haus und irgendjemand hat Böller gezündet. Dann hat irgendwas angefangen zu brennen und sie hat noch sich und einen Jungen aus dem Qualm retten können. Sie ist nochmal rein, um andere zu holen und ist dann zusammengebrochen. Ich würde auf Rauchvergiftung tippen, aber ich bin ja nicht vom Fach. Kurz bevor die Ärzte kamen, war sie zumindest ansprechbar.«
Die Nachricht schlägt ein wie ein Komet. Der Schock steht den dreien, die im Schlafanzug vor mir stehen ins Gesicht geschrieben und nicht einmal Herr Hafner denkt jetzt daran, zu toben.
»Ich bin von der Böllerei aufgewacht aber ich war nicht schnell genug unten, um Olivia davon abzuhalten, noch einmal reinzugehen«, erkläre ich weiter. »Laura, die große Schwester von Pomm... von Pascal, die war auch da. Die hat Olivia aus dem Gebäude gezogen, als ich gerade dazukam. Die beiden haben versucht, anderen zu helfen und ich hab Laura richtig überzeugen müssen, da nicht nochmal reinzugehen, weil die ganze Ruine voller Qualm war. Ich hab keine Ahnung, warum der Qualm nicht abgezogen ist, aber naja. So war es eben und bis auf Laura und ihren Freund Steve werden jetzt alle erstmal mit Verdacht auf Rauchvergiftung ins Krankenhaus gebracht. Ich hab von keinem Toten gehört, aber das steht vermutlich auch nicht fest...
Jedenfalls sollte demnächst ein Anruf vom Krankenhaus kommen, dass sie da ist.«
Ich hoffe, dass meine Worte Herrn Hafner beruhigt haben, aber im Moment bin ich selbst noch etwas neben mir. Das scheint auch Frau Hafner zu merken, denn sie bittet mich ins Wohnzimmer und stellt mir ein Glas Wasser hin. Marie setzt sich schweigend neben mich und nachdem ich das Glas wieder abgestellt habe, umarmt sie mich seitlich mit Tränen in den Augen. Zu viert sitzen wir am großen Tisch und warten auf den Anruf aus dem Krankenhaus, als Herr Hafner auf einmal fragt: »Und was ist mit dir, Elena? Kommst du mit ins Krankenhaus?«
»Nein, ich muss zur Polizei, um meine Aussage zu machen. Und dann muss ich das Ganze meinen Eltern erklären. Ich bin einfach aus dem Haus gerannt, als die Leute in der Ruine angefangen haben, zu schreien und dabei habe ich meine Eltern geweckt. Das werde ich irgendwie erklären müssen.«
»Das wäre ja noch schöner!«, entrüstet sich Frau Hafner. »Man wird ja wohl noch helfen dürfen. Wieso sollten deine Eltern das nicht verstehen?«
»Weil ich ohne eine Erklärung rausgegangen bin. Ich war auch die einzige, die da war bis die Feuerwehr kam. Da sind dann alle aus ihren Häusern gelaufen gekommen.«
»Also wenn du deswegen Schwierigkeiten mit deinen Eltern bekommen solltest, dann helfen wir dir«, sagt Herr Hafner ernst und für einen kurzen Moment fühle ich den Triumph, dass ich ihn wieder einmal um den Finger gewickelt habe, doch dann kommt wieder die Sorge um die vielen Menschen, die jetzt ins Krankenhaus kommen und verdrängt diesen Triumph.
Dann klingelt das Telefon. Mein Fahrrad landet in Hafners Garage und dann fahren wir mit dem Auto zusammen ins Krankenhaus. Herr Hafner hat versprochen, mich zur Polizei zu bringen, sobald wir bei Olivia waren, aber er meint, wir müssten alle zusammen zu ihr gehen. Immerhin hätte ich sie quasi gerettet.
Im Krankenhaus kommen gerade die beiden Polizisten von vorhin mit Laura und Steve die Eingangstreppe herunter und Frau Hafner umarmt Laura fest, während sie fragt: »Und du hast meine Tochter aus dem Haus rausgezogen?«
Laura nickt leicht und erwidert: »Entschuldigen Sie bitte, dass ich nicht besser aufgepasst habe. Ich hätte dafür sorgen sollen, dass ihr nichts passiert. Und außerdem hat Steve hier geholfen.«
Steve bekommt dafür gleich auch eine Umarmung, während Herr Hafner meint: »Wenn unsere Tochter groß genug ist, selbst zu entscheiden, wann sie sich nachts raus schleicht, dann ist sie auch groß genug, Gefahren zu erkennen. Machen Sie sich nicht zu viele Gedanken, Laura, Sie haben schon mehr als genug getan. Danke.«
Die Polizisten beobachten die Szene mit gerührtem Lächeln. Dann fragt die Beamtin: »Sie wollen zu Olivia Hafner? Wir waren eben bei ihr und sie hat ihre Aussage schon gemacht. Ein paar der Anderen waren noch nicht wieder bei Bewusstsein. Wenn du, Elena, noch eben deine Aussage machen willst, dann können wir das auch jetzt eben machen, bevor wir die zwei hier nach Hause fahren. Ansonsten sehen wir uns morgen auf dem Polizeirevier.«
»Nein, ich würde meine Aussage gerne jetzt machen, wenn das geht.«
Die Polizistin bestätigt und nimmt mich an der Schulter, um mich ein Stück beiseite zu ziehen.
»Wir gehen schon mal hoch«, ruft Frau Hafner mir hinterher. »Wenn du fertig bist, dann kommst du nach, ja?«
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Es ist schon nicht mehr Morgen, als ich das nächste Mal aufwache. Nachdem ich meine Aussage gemacht hatte und zu Olivia aufs Zimmer gekommen war, wurde ich zunehmend müder und schließlich fehlen mir die Erinnerungen. Immerhin weiß ich noch, dass Herr Hafner mich nach Hause gebracht hat und dass Olivia sich zehntausendmal bei mir bedankt hat, aber an ein Gespräch mit meinen Eltern kann ich mich nicht erinnern.
Aber als ich dann aufgestanden bin und mich bereit gemacht habe, mit meinen Eltern zu sprechen, werde ich von ihnen herzlich begrüßt. Meine Lautstärke beim Verlassen des Hauses wird mit keinem Wort erwähnt, aber meine Hilfsbereitschaft wird in den Himmel gelobt. Dabei fühle ich mich überhaupt nicht wie eine Heldin. Alles was ich bin, ist eine normale, junge Frau, die ihren Beitrag geleistet hat, wie es jeder tun sollte. Und besonders viel konnte ich ja auch nicht helfen. Ich hab immerhin nur den Puls gefühlt und sonst nichts.
Irgendwann halte ich es Zuhause nicht mehr aus und gehe wieder raus. Nach kurzem Überlegen mache ich mich auf den Weg zu Basima. Basima ist noch nicht lange hier, sie kam um Weihnachten 2019 nach Deutschland, kurz vor dem ersten Lockdown. Sie spricht nicht viel über ihre Vergangenheit, aber wir wissen, dass ihre Familie aus Syrien kommt und der Rest der Geschichte ergibt sich von selbst. Ich habe ihr damals geholfen, deutsch zu lernen, als die Schulen geschlossen wurden.
Ihr Deutsch ist zwar weit davon entfernt, flüssig zu sein, aber sie versteht, was gesagt wird und sie kann sich auch auf deutsch ausdrücken. Im Gegenzug hat sie mir auch ein paar Ausdrücke auf Arabisch beigebracht. Wir sind gute Freundinnen geworden und auch wenn Marie ihr gegenüber immer ein bisschen zurückhaltend ist, können wir drei auch gemeinsam Spaß haben.
Basima sieht fast so aus, als hätte sie mich erwartet. Ihre ernsten Augen sprechen die Worte deutlicher aus, als ihr Mund, als sie sagt: »Du warst dort letzte Nacht. Erzähl.«
Und so erzähle ich die Geschichte noch einmal. Ich habe sie Marie und ihren Eltern erzählt, ich habe sie der Polizistin erzählt, dann musste ich sie noch meinen Eltern erzählen, denn sie meinten, ich wäre letzte Nacht nicht fertig geworden und jetzt wollte Basima die Geschichte auch noch hören, doch seltsamerweise störte mich das kaum. Ich setzte mich in ihrem Zimmer auf den Boden, lehnte mich an einen ihrer Bettpfosten und begann zu erzählen.
Und dieses Mal erzählte ich die Geschichte anders, erzählte mehr von meinen Gefühlen, meiner Angst, meiner Taubheit. Ich beschrieb ihr jedes Bild, an das ich mich erinnerte und ich beschrieb ihr jedes Gesicht, das ich gesehen hatte. Ich erzählte ihr von der Unterhaltung bei Marie zuhause und wie ich von allen Seiten hoch gelobt wurde, dabei hatte ich doch kaum etwas getan. Ich erzählte von meiner Scham, als mich die Leute lobten und als Olivia mir dankte. Ich hatte nichts für sie getan und war doch ihre Heldin.
Als ich geendet hatte, schwieg Basima eine Weile. Dann sagte sie in ihrem stockenden, langsamen Deutsch: »In Syrien, da sind wir... wenn keine Raketen mehr kommen, dann sind wir... wie sagt man? Aus den Löchern gekrochen. Solange die Bomben kommen, verstecken wir uns. Danach wir schauen, wen wir behandeln können. Manche sehen aus, wie du gesagt. Manche schlimmer. Aber jeder hilft. Jeder hilft, weil wir sonst nichts tun können. Wir können nur warten, sterben, warten, sterben. Die Türken haben die Stadt umzingelt, wir... konnten nicht raus. Es gab kein Weg.«
Basima spricht ganz neutral. Keine Emotion regt sich in ihrem Gesicht, als sie davon erzählt. »In Syrien, alle hätten helfen müssen wie du. Alle Menschen der Nachbarschaft, weil wir hatten kein Feuerwehr mehr. Wir hatten nur Schrott und uns. Du hast nicht viel getan? Quatsch! Du hast gezeigt, was es heißt Hilfe zu geben. Du tust was du kannst und sitzt nicht rum, weil du kannst nicht helfen. Viel zu viele Menschen sitzen, weil sie denken, sie können nicht helfen. Dabei ist am wichtigsten, zu helfen. Natürlich man darf nicht im Weg stehen, aber man muss helfen, wenn man kann und wenn gebraucht wird.
Und wenn du nicht geholfen, wer weiß was wäre mit Laura und Steve? Und wäre gekommen die Feuerwehr? Du hilfst, nicht Heuchler, die kommen, wenn Feuerwehr schon da. Und du gesehen hast, was kann mit Menschen passieren.
Es mag sein grausam, aber die Kinder gestern dumm... Waren dumm. Sie sich selbst haben in Gefahr gebracht und verletzt. Und sie haben in Gefahr gebracht Unschuldige in dem Haus. Arme Menschen, die kein Geld haben für Krankenhaus. Aber trotzdem: Die Bettler sind in Krankenhaus, nicht tot. Das ist gut. Und das wegen dir. Und wenn du glaubst mir nicht, wir fahren zu Polizei und fragen, wer hat gerufen Feuerwehr außer dir.«
Basima schaut mich an und lächelt zaghaft und das ist der Moment, in dem alle Dämme brechen und die Tränen aus meinen Augen schießen, dass es wehtut. Sogleich umarmt mich Basima und hält mich fest, während ich meine Tränendrüsen leere. Ich weine und weine und lasse alle Gefühle aus mir herausströmen, die sich in meinem Körper seit letzter Nacht angestaut haben. Angst, Wut, Entsetzen, Scham, mehr Angst und der Selbsthass, dass ich mit Laura lachen wollte.
Irgendwann beruhige ich mich ein wenig und meine Tränen versiegen langsam. Ich sehe Basima an und hauche ein »Danke!«.
Die lächelt mich an und sagt: »Du weinen musst dürfen. Wir damals nur konnten weinen nachts und wenn Raketen kamen. Ich damals durfte nicht weinen für meine kleinen Brüder. Die geweint haben ganze Nacht. Jede Nacht. Ich mich... zusammen... gerissen.«
Ich schaue Basima in ihre dunklen, fast schwarzen Augen und dann drücke auch ich sie ganz fest an mich und sage leise: »Dann weine jetzt. Jetzt kannst du weinen.«
Es dauert einige Sekunden, doch dann beginnt Basima sich an mich zu kuscheln und immer heftiger zu schlucken. Dann beginnt sie, Worte in meine Haare zu murmeln. Manche verstehe ich, andere nicht, aber ich verstehe, dass sie von ihren Erfahrungen in Syrien erzählt, dass sie versucht, in Worte zu fassen, was sie gesehen hat. Und was ich verstehe, das erschreckt mich. Immer, wenn ich wieder Worte in meinem Kopf zu Bildern zusammensetze, erschrecke ich aufs Neue.
Basima erzählt von Verwundeten und Toten, von verstümmelten Leichen und verstümmelten Verletzten, die an ihren Verletzungen würdelos starben, sie erzählt von Soldaten, die kamen, um Frauen zu vergewaltigen und sie erzählt von den Schreien, die sie hörte. Jede Nacht und in jeder Nacht seitdem.
Dann erzählt sie nicht mehr weiter, kann nicht mehr weitererzählen, stattdessen lässt sie ihren Tränen freien Lauf. Und ich halte sie im Arm und lasse sie weinen, wie sie es vorher bei mir getan hat. Und aus irgendeinem Grund fühlt sich das hier viel mehr nach Hilfe an als alles, was ich in der vergangenen Nacht gemacht habe. Ich habe das vage Gefühl, zu verstehen, wie es in Basima aussehen könnte und ich glaube fest, dass das, was ich hier tue, ihr wirklich hilft. Mehr als das, was ich gestern Nacht gemacht habe.
Als sie sich mit einem letzten Schluchzen aus der Umarmung zurückzieht, schauen wir uns einen Moment lang mit verweinten Gesichtern an, bevor wir beide loskichern müssen. Es kommt mir unwirklich vor, aber die Erleichterung überwiegt im Moment alles und unsere Kicherattacke verleiht dieser Erleichterung Ausdruck.
Als wir uns langsam etwas beruhigt haben, sage ich aus einer spontanen Eingebung heraus: »Du hast einen echten Krieg erlebt. Ich hatte nur ein paar Idioten, die nicht mit Feuerwerkskörpern umgehen können.«
»Das kann man nicht vergleichen, Ellie«, erwidert Basima traurig lächelnd. »Du kannst auch nicht vergleichen, ob Männer oder Frauen mehr Schmerz empfinden, du weißt nur, wer welchen Schmerz aushält. Oder welche Synt... Symo... Sympome.«
»Symptome«, unterbreche ich sie lächelnd. »Das ist nicht mal ein original deutsches Wort.«
»Das macht es nur schwerer«, widerspricht Basima meiner implizierten These.
Wir schwiegen wieder einige Sekunden. Dann sagte Basima: »Jedenfalls man sagt in Europa oft, die Männer ertragen kein Schmerz. Aber vielleicht tut Männern der Kopf auch anders weh als Frauen oder Frauen erfahren so oft Schmerzen, dass sie die Scherzen nicht mehr stark wahrnehmen. Wir wissen nicht, was ist Wahrheit und deswegen wir dürfen nicht urteilen.
Wir beide haben gesehen verletzte Menschen. Der Grund für Verletzungen sind einmal böse Menschen und einmal dumme Menschen. Was ist schlimmer? Beides ist schlimm. Versuche, nicht vergleichen, wenn du kannst nicht vergleichen. Und nach Flut letztens, es war auch schlimm. Da viele Menschen geholfen und wenn nötig, immer viele Menschen werden helfen. Auch aus anderen Ländern.«
»Ja, schon. Aber wir haben hier letztes Jahr gefeiert, dass wir 75 Jahre Frieden in Europa haben. Was ohnehin leicht geschwindelt ist, weil bis 1990 hier der Eiserne Vorhang war und es bloß keine militärischen Auseinandersetzungen zwischen Ost und West gab und dann gab es ja noch die Annexion der Krim, aber alles in allem war 75 Jahre lang Frieden in Europa. So lange wie nie zuvor seit Menschen hier sind. Und was ist, wenn jetzt Krieg hierher kommt? Ich will nicht sehen müssen, was du gesehen hast, ich will nicht nochmal sehen müssen, was ich heute Nacht gesehen habe.«
»Wir entscheiden nicht, wann Krieg ist. Putin, Erdogan, Xi Jin-Ping, Biden, sie alle könnten morgen einen Angriff auf irgendein anderes Land starten. Die Soldaten haben sie. In Syrien es war dauernd Krieg. Vor zwei Jahren meine Mutter konnte nicht mehr. Es ist zuhause aber wir wollen nicht im Krieg leben. Deshalb wir sind hergekommen und wenn Krieg kommt hierher wir wahrscheinlich weiterziehen. Ich mag es hier und du würdest mir fehlen, aber wenn Krieg in Deutschland, dann viele Deutsche werden fliehen. Du vielleicht auch. Aber wenn wir fliehen, dann früh, sonst es ist schnell zu spät. Das wir... haben gelernt viel zu häufig, um es zu vergessen.«
»Und wenn der Krieg nicht zu uns kommt, sondern in andere Länder in Europa?«
»Dann wir helfen, wenn wir können. Wenn du jetzt Hilfe brauchst, Livi und Laura und Steve werden helfen. So funktioniert Helfen. Und wenn wir wieder sehen, wie Menschen verletzt sind, dann lass uns zusammen weinen, ja? Sobald wir Zeit haben, wir sollten weinen, damit uns schnell besser geht. Das du musst unbedingt in deinem Kopf behalten! Wer hilft, dem wird geholfen und du bist nie alleine. Und dann überstehen wir auch den Krieg.«
»Aber warum muss überhaupt Krieg sein?«
»Weil Menschen kontrollieren wollen. Erdogan will die Kurden kontrollieren, China will den Weltmarkt kontrollieren, Putin will alles mögliche kontrollieren. Und für diese Kontrolle führen sie Kriege. In Syrien, in Afrika, in Taiwan. Der Krieg wird kommen, auch in Europa. Das ist nur... Frage der Zeit. Alles was wir können, ist bei Krieg nicht mitmachen und überleben, um unsere Werte zu erhalten.«
»Aber ist es nicht schrecklich, nicht zuhause zu sein? In einem fremden Land? Ich würde nicht fliehen wollen.«
»Noch nicht. Aber in Syrien war ständig Krieg. Immer wieder. Es ist Zuhause meiner Eltern aber mein Zuhause es nie war. Nicht seit Krieg. Ich fast nur kenne Krieg und Angst in Syrien, deswegen ich habe kein Problem mit Flucht gehabt. Ich meine Eltern überzeugen musste für meine Brüder. Deutschland könnte Zuhause sein, denn hier ist Frieden und die meisten sind nett. Aber wenn Krieg kommt her, ich kann leichter fliehen als du, weil dein Zuhause ist hier. Meins nicht. Aber ich mag dich, Ellie. Du bist meine beste Freundin. Wenn nötig, ich schleife dich mit auf Flucht. Versprochen. Aber es ist kein Krieg hier und solange das so, lass uns hoffen, dass Frieden bleibt.«
»Dem stimme ich zu«, grinse ich und sehe Basima fest in die Augen. »Lass uns hoffen, dass der Frieden bleibt.«
Dann umarmen wir uns fest und kippen langsam zu Boden. Wieder kichern wir, doch die Bilder von gestern Nacht blitzen vor meinem inneren Auge auf und mit einem Mal glaube ich zu verstehen, wie es Basima jeden Tag geht und warum sie selten so glücklich ist wie ich.
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