81. Kapitel: German
Als wir zurück fahren, müssen Angie und ich uns beherrschen, ruhig sitzen zu bleiben. Ich habe den Zwang, die ganze Welt zu umarmen, aber es wäre für uns beide besser, wenn ich das Lenkrad festhalte. Angie ist endlich frei! Ein unendlich schwerer Stein ist mir vom Herzen gefallen, als Monsieur Bouvier uns die grandiose Nachricht überbracht hat. Endlich kann Angie neu in ihr Leben starten, zurück nach Buenos Aires. Sie kann endlich wieder ihre Lehrtätigkeit aufnehmen und den Schülern etwas übermitteln. Ich bin so unendlich froh, auch ich fühle mich erleichtert. Wenn die Ärzte sie für frei erklären, muss auch ich mir weniger Sorgen machen. Die Krankheit hat mir mehr zugesetzt, als ich vielleicht zugeben kann. Es ist etwas in mir zerbrochen, als ich gesehen habe, was Angie sich und ihrem Körper angetan hat, weil sie so verzweifelt war. Und schließlich habe ich mit dazu beigetragen, dass es soweit gekommen ist. Und Esmeralda. Aber die werden wir ja beide nie wieder sehen. Trotzdem, Angies seelischer Zustand bei meinem ersten Besuch war besorgniserweckend. Ich kann natürlich nicht in sie hineinschauen, ich weiß nicht, ob sie etwas vor mir geheim hält, aber sie scheint mir gegenüber viel offener und glücklicher. Es scheint sich etwas geändert zu haben, und das zum Guten. Vielleicht ist das ja jetzt der Punkt, an dem sich alles zum Guten wendet und wir gemeinsam auf diese Zeit der Erfahrungen zurückschauen können. Auf eine Zeit, die von schwerem Schicksal geprägt war und die wir beide niemals aus unserem Leben und unseren Gedächtnis streichen werden können. Aber das ist korrekt so, wir sind, wer wir sind, weil wir aus unseren Erfahrungen lernen, weil uns diese Erfahrungen prägen und uns zu schleifen. So ist jeder einzigartig, jeder mit seinen Macken und Kanten, die das Leben in uns geschliffen hat, um uns zu zeigen, wie stark wir sein können und was wir alles verkraften. Ich bin zutiefst beeindruckt von Angie, das kann ich ihr gar nicht oft genug sagen. Sie hat eine wahnsinnige Kraft und Willensstärke und was sie geschafft hat, ist nicht selbstverständlich. Ich bin froh, dass ich lächeln kann, wenn ich sie sehe und dass mir nicht wieder Tränen in die Augen steigen, wenn ich sehe, dass sie ihre Maske übergestülpt hat, um mich nicht an sie heranzulassen. Sie ist einfach sie selbst, ohne sich zu verstellen und das ist einfach großartig.
Verstohlen mustere ich sie von der Seite. Ich möchte mir kein Urteil erlauben, aber Angie sieht schon wieder etwas besser aus. Ihre Augen haben ihren Glanz zurück, was das Blaue in ihnen zum Strahlen bringt. Ihre sanften, weich fallenden Locken umhüllen ihr schmales Gesicht, in das endlich wieder ein bisschen Farbe eingekehrt ist. Mir erscheint sie auch nicht mehr ganz so erschreckend dünn, aber ich weiß nicht, ob ich das objektiv genug einschätzen kann. Wir sind endlich da. Den Kofferraum voll von Erinnerungen steigen wir aus dem Auto aus. Violetta scheint uns von innen bereits gesehen zu haben, denn kaum ist der Motor aus, öffnet sich die Tür und sie stürmt hinaus und rennt geradewegs in die offenen Arme ihrer Tante, die sie einmal herumwirbelt. "Ich bin so unendlich froh, dass du wieder bei uns bist", flüstert meine Tochter sichtlich gerührt und nimmt Angie noch einmal in den Arm. "Ich habe dich so vermisst", haucht Angie ihr ins Ohr. Angie dreht sich zu mir um und mein Herz geht auf, als ich sehe, wie sehr sie strahlt. Ihre Augen leuchten heller als die Sonne. Sie streckt eine Hand nach mir aus und ich ergreife sie. Ihre andere Hand ruht in Violettas. Zu dritt gehen wir durch den Vorgarten durch die Wohnungstür nach innen. Und da ist es um Olga geschehen. Mit einem Schrei drängt sie sich an Ramallo vorbei, der vergeblich versucht, sie aufzuhalten und drückt Angie fest und lange. "Endlich bist du wieder bei uns", seufzt sie. "Ich habe einen Tee gemacht, wenn du willst", bietet sie an. Angie nickt überglücklich und nimmt auch Ramallo in den Arm. Dann versammeln wir uns alle am Tisch. Die gedrückte Stimmung, die eigentlich bei jedem gemeinsamen Essen hier regiert hat, ist wie weggeblasen. Während einer Tasse Tee werden Gesichten ausgetauscht, Angie erzählt ihre Gesichte in einer verharmlosten Kurzversion und Violetta erklärt ihr, was sie alles im Studio verpasst hat. Wir sitzen bis spät in die Nacht am Tisch, bis Violetta anfängt zu gähnen. Nach und nach verabschieden sich auch Olga und Ramallo, bis schließlich nur Angie und ich am Tisch sitzen bleiben.
"Danke", meint sie plötzlich in die Stille hinein. "Wofür denn?", frage ich. "Für alles", antwortet sie und schweigt. Sie muss nicht mehr sagen, ich weiß, dass das danke von Herzen kommt und dass es ihr wichtig war, es loszuwerden. "Danke auch", meine ich. "Wofür?", will sie wissen. "Dafür, dass es dich gibt und du so bist wie du bist", antworte ich. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Ich denke, ich kann behaupten, dass ich Angie so gut kenne, wie kein anderer und dass es ihr im Bezug auf mich genauso geht. Wir brauche nicht mehr viele Worte, um uns zu verständigen, dafür kennen wir uns einfach zu gut. "Ich brauche morgen deine Hilfe", beginnt Angie. Ich schaue sie an und fordere sie auf, weiter zu reden. "Die Kisten, die wir aus meiner Wohnung gebracht haben, da sind Dinge drinnen, von denen ich nicht weiß, ob ich es schaffe, alleine mit ihnen fertig zu werden. Aber es gehört dazu, dass ich diese Dinge entsorge und hier lasse, damit ich ohne Last nach Argentinien zurück fliegen kann. Ich vertraue dir und bin mir sicher, dass du mich verstehst. Könntest du dir vorstellen, mir morgen zu helfen?" Ich zögere nicht lange. "Natürlich helfe ich dir, es ist mir eine Ehre, dir helfen zu können", antworte ich und zwinkere ihr zu. Sie beugt sich zu mir hinüber und küsst mich sanft. "Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie unglaublich froh ich gerade bin. Natürlich bin ich oft genug vorgewarnt worden, dass Psychosomatik nie wirklich ganz heilbar sein wird, aber ich fühle mich gerade einfach so frei und glücklich, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, was mir diese Laune zerstören kann. Ich habe dich und darüber bin ich unendlich glücklich. Du bist zu der Konstanten in meinem Leben geworden, ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann", flüstert sie und legt dann sanft einen Arm um meine Schulter. Ich ziehe sie an mich heran und genieße die Zweisamkeit. "Ich liebe dich", flüstere ich ihr zu. Sie schließt die Augen, legt ihren Kopf auf meine Schulter und lächelt.
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