65. Kapitel: German
Meine Haare kleben nass an meinem Kopf, meine Kleidung ist durchweicht und die Kälte dringt mir bis in die Knochen. Nebensache. Ich habe eine Mission, ich muss Angie finden, sie heil da wieder hinaus bringen und sie nie nie wieder alleine lassen. Für Violetta, für mich, für Angie. Sie hat es verdient, Angie hat einen wundervollen Platz in einem wundervollen Leben verdient und denn wird sie bekommen, sobald sie sicher und trocken in meinen Armen liegt. Und solange das nicht ist, ist es mir egal, wie kalt und ungemütlich sich meine nasse Kleidung auf meiner Haut anfühlt. Solange schalte ich die kleine nervige Stimme in meinem Kopf aus, die sich in der letzten halben Stunde dort eingenistet hat und mir versucht zu erklären, dass die Aktion sinnlos ist, weil Angie mich nicht sehen will. Aber es geht gerade gar nicht darum, wer wen sehen will, es gut um etwas Essentielles, es geht um das Leben einer Person, die mir unendlich wichtig ist.
Ich bin beinahe dankbar für die Blitze, die mir den Weg erhellen, ohne sie hätte ich gleich wieder umdrehen können, so finster ist die Dunkelheit mitten im Wald. Ich habe mich irgendwann auf einen Pfad geeinigt, der unscheinbar und schmal zwischen den Bäumen verläuft. Mit jedem Schritt, jedem verzweifelten Ruf und jeder Enttäuschung wächst die Hoffnungslosigkeit in mir weiter, wird unerträglicher und quält mich mehr als der eisige Wind, der nach Lust und Laune an mir zieht und zerrt. Was soll ich tun, wenn ich Angie finde? Ich habe nicht einmal an eine Decke, etwas Trockenes zum Anziehen, etwas zum Trinken oder Verbandszeug gedacht. Was, wenn Angie sich verletzt hat und gar nicht in der Lage ist zu gehen, vielleicht ohnmächtig ihr Dasein fristet? Wie soll ich sie jemals finden, wenn sie nicht auf sich aufmerksam machen kann? Tränen der Ratlosigkeit steigen mir in die Augen. Es ist nicht das erste Mal in letzter Zeit, dass ich um Angies Leben bangen muss, aber die letzten Male wusste ich sie in guten Händen, ich wusste, dass wo sie war und dass es dort sicher war. Ich habe in dieser Situation hingegen absolut keine Sicherheit, sie kann überall sein, oder nirgends. Was, wenn ich mich geirrt habe und sie ist gar nicht hier? Oder noch schlimmer, was, wenn sie sich etwas antun will? Violettas Worte haben sie verletzt, Worte wie Messer tief in das Herz, tiefe blutende Wunden in ein Herz, das schon so viel auszuhalten hat, wer weiß, was in ihr vorgegangen ist? Mir wird schlecht und ich bleibe an einen Baum gelehnt stehen. Der Wald dreht sich mit meinen Gedanken im Kreis, alles schwankt und ich muss mich zwingen, ruhig zu bleiben. Es geht nicht. Meine Gedanken und Sorgen machen mich wahnsinnig, so hoffnungslos war ich lange nicht mehr. Ich werde Angie nicht hier verlieren, nicht bei diesem Wetter, nicht hier im Wald, nicht in dieser Nacht, nicht alleine. Ich werde sie finden und bei ihr bleiben, für immer. Ihre sanften Augen belächeln, durch ihre weichen Haare streichen, ihre wunderschönen Stimme beim Singen zuhören, ihre zarten Hände auf dem Klavier beobachten. Ihr klares Lachen hören und ihre Begeisterung spüren. Ich werde da sein, wann immer sie mich braucht, das verspreche ich mir, sobald ich sie gefunden habe.
"German, sind Sie hier irgendwo?", ruft urplötzlich eine Männerstimme. Wer ist das? Ist mir jemand gefolgt? Aber woher kennt dieser jemand meinen Namen? "Ja?", rufe ich zurück. Was soll ich denn rufen? "Warten Sie, wir sind gleich bei Ihnen, ich kann Sie sehen!", antwortet die Stimme. Durch den Donner nehme ich die Stimme nur verzerrt wahr. Irgendwie kommt sie mir bekannt vor... Dann tauchen zwei Gesichter vor mir auf und ich atme aus Erleichterung aus. Ich wusste gar nicht, dass ich die Luft angehalten habe, als ich die Schritte gehört habe. Die beiden sorgenvollen Gesichter gehören Lucia und Monsieur Bouvier, die mich beide erschöpft anlächeln. "Lucia hat mich gerade erwischt, als ich gehen wollte und hat mir erklärt, was vorgefallen ist. Seien Sie froh, dass ich heute Abend nichts vorhabe", murmelt er im Versuch, die Stimmung etwas zu lockern. "Ich habe etwas für Sie dabei", murmelt Lucia und drückt mir ein Knäuel in die Hand, was sich als halbwegs trockene Regenjacke herausstellt. "Ziehen Sie die lieber an, bevor Sie sich erkälten", rät mir der Arzt und ich gehorche. Die Jacke ist warm und gibt mir das Gefühl, besser ausgerüstet zu sein. "Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache", merke ich an. "Ich auch nicht, umso besser ist es, wenn wir Angie schnell finden und zurück in die Klinik schaffen, wo wir uns optimal kümmern können", antwortet Monsieur Bouvier ernst. Lucia drückt mir eine silberne Stabtaschenlampe in die Hand und meint:"Wir sollten zusammenbleiben und uns nur trennen, um in alle Richtungen zu schauen, wenn wir alle eine komplett andere Richtung einschlagen, werden wir uns so schnell nicht mehr finden." Wir stimmen zu. "Ich mache mir schreckliche Sorgen um sie, ich komme mir plötzlich so vor, als kenne ich sie gar nicht, als wäre sie die ganze Zeit eine andere Angie gewesen, wenn sie bei mir war, bis auf den ein oder anderen Moment. Ich dachte, ich wisse alles über sie, aber sie so viel vor mir verborgen gehalten", flüstere ich halblaut. "Wir werden sie finden", besänftigt mich Monsieur Bouvier halbherzig, aber ich weiß nicht, ob er damit mich oder sich beruhigen will.
Nebeneinander durchkämme wir den Wald, bleiben beieinander und rufen Angies Namen, bis wir heiser werden. Der Nebel lichtet sich etwas und auch Donner und Blitze kommen seltener vor. Nur der Regen prasselt unablässig auf unsere Köpfe herab. Ich werde wieder unruhiger, es kann doch nicht sein, dass wir Angie nicht finden! Ständig werfe ich Blicke nach oben, betrachte die dunkelgrauen Wolkentürme, dann wieder die meterhohen Stämme der Bäume. Mit einem verzweifelten Schrei kicke ich einen großen Ast in den Wald hinein und ignoriere die Blicke von Lucia und Monsieur Bouvier. Ich bin ruhelos, bemerke die Anstrengung kaum, die an meinen Muskeln zerrt.
Dann, auf einmal ruft Lucia laut:" Da, da vorne liegt jemand!" Gefüttert mit einem enormen Adrenalinschub mobilisiere ich meine Kräfte und stürze auf die Person zu. Blass liegt sie da, die Haare um ihren Kopf drapiert, die Augen geschlossen. Ich nehme ihre Hand und zucke zusammen, als ich Blut spüre. Lucia erreicht mich wenig später und fühlt nach Angies Puls, während ich ihre andere Hand halt. Da richtet sich Lucia auf und schreit mit einer nie dagewesenen Verzweiflung:" Monsieur Bouvier, kommen Sie verdammt nochmal endlich! Sie atmet nicht, tun sie etwas, bitte! Sie darf nicht sterben, nicht so, nicht jetzt! Ihr Puls ist schwach, sie muss in die Klinik bevor sie stirbt! Helfen Sie ihr!" Dann bricht sie in so heftige Tränen aus, dass ihr ganzer Körper durchgeschüttelt wird. Auch mir strömen die Tränen nur so über die Wangen, während ich verzweifelt versuche, Lucia und mich zu beruhigen. Monsieur Bouvier sitzt über Angies leblosen Körper gebeugt da, spritzt ihr etwas und ist hochkonzentriert. Ich kann sie nicht verlieren, sie muss kämpfen! Ich bin machtlos, ich kann nur noch hoffen, aber Angie muss stärker sein als der Tod, sie muss sich wehren, sie muss! Ich wollte doch für sie da sein!
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