47. Kapitel: Angie
German antwortet mir nicht, sondern starrt nachdenklich auf die Wand. Wieso fühlt sich der Tod so schmerzhaft an? Ich fühle mich erschöpft, als würde die Schwerkraft mich mit Gewalt auf den Boden ziehen. Ich dachte, der Tod hat etwas von Erlösung und nicht diesen Schmerz, ich dachte, ich würde den Schmerz los werden. "German?", hake ich nach. Meine Stimme klingt rau. Irgendetwas stimmt nicht, etwas ist anders, als es sein sollte. "Angie, du bist nicht tot, du lebst", flüstert mein Schwager leise und scheint bewusst meinen Blick zu meiden. So macht die Situation also Sinn. German muss mich also gesucht haben und ins Klinikum gebracht haben. "Wieso hast du das getan, German?", frage ich fassungslos. Es war mein Entschluss, seit wann treffen andere Leute Entscheidungen, die mich betreffen? Die mein Leben betreffen? "Das fragst gerade du, Angie. Wieso hast du das denn getan?", will er fassungslos wissen. "Ich glaube, ich bin alt genug um Entscheidungen selbst zu treffen. Es war der richtige Entschluss. Was gibt dir das Recht, dich meinem Willen zu widersetzen?" "Du hast eine Familie, der du extrem wichtig bist, die dich nicht einfach mal so im Stich lässt. Deine Nichte erkundigt sich jeden Tag nach dir und will dich sprechen, soll ich ihr etwa sagen, dass ihre Tante gerade versucht hat, sich ihr Leben zu nehmen? Immer nur weglaufen, das ist das Leichteste, nicht wahr? Bist du deshalb weg aus Buenos Aires, anstatt mit der Situation klar zukommen, bist du einfach ans andere Ende der Welt geflogen. Und jetzt, wo du nicht weißt, was du tun sollst, willst du wieder weg. Verdammt, sieh es ein, weglaufen ist sinnlos, du musst bleiben und dich der Herausforderung stellen, das härtet ab. Ich werde gleich gehen und du denkst bitte einmal in aller Ruhe darüber nach, was du alles auf dieser Welt hast und ob es es wert ist, das alles fortzuwerfen. Versprich mir, dass du es versuchen wirst", fleht er mich nahezu an. Ich nicke zögerlich. "Unter einer Bedingung. Wenn Vilu das nächste Mal anruft, gib sie mir. Ich vermisse ihre Stimme", stelle ich klar. German nickt zufrieden. "Bis morgen", verabschiedet er sich leise.
Mir tut alles weh, mein ganzer Körper fühlt sich vollkommen zerschunden an, als würden lauter Vögel ihre spitzen Schnäbel in meine Haut hacken. Würde ich jetzt nach Schmerzmitteln fragen, ich würde keine bekommen. Habe ich mir meine Zukunft verbaut? Wären meine Chancen, hier rauszukommen besser gewesen, wenn ich meine Dosis Schmerztabletten jeden Tag genommen hätte, anstatt sie zu sammeln? Ich werde es nie erfahren, ich muss mit meiner Entscheidung leben, mit dem Resultat meiner verdrehten Gedanken. Sind sie das wirklich? Denke ich auf eine Weise verkorkst oder denkt jeder so wie ich? Ich ignoriere den Schmerz, der meine Wirbelsäule entlangläuft, als ich mich aufrichte und greife nach Papier und Stift. Eigentlich dachte ich, ich müsste nie wieder schreiben. Ich dachte, wenn ich das nächste Mal meine Augen auf mache, bin ich in einer besseren Welt, in der ich keine Probleme habe und keine Probleme mache. Falsch gedacht, so spielt das Leben. Ich bin noch immer hier, gefangen auf dem Blauen Planeten und überlebe mein Leben. Habe ich eine Chance, dass alles wieder gut wird? Ist es mein Ziel, aus Paris herauszukommen und ein normales Leben führen zu können? Aber was heißt denn schon normal? Ich glaube, ich kann mich auf German verlassen. Er ist immer da, wenn ich ihn brauche, auch wenn ich das nicht wirklich zugeben kann. Etwas verbindet uns, da ist etwas, aber ich weiß nicht, was es ist. Es sind die kleinen Dinge, die mich sicher sein lassen, dass er immer da sein wird. Und ich brauche ihn. Ich wäre gerne bei ihm, aber nicht hier. Dann habe ich wohl ein Ziel. Jetzt muss ich es nur noch erreichen.
Ich verstaue den Zettel sorgsam in einer Schublade und lege mich erschöpft in mein Bett. Ich fühle mich noch immer zittrig und dennoch bin ich innerlich ruhig. Ich werde lediglich dafür sorgen, dass Lucia nicht gehen muss, ich gehen kann und mein Leben in Buenos Aires wieder in die Hand nehmen. Und daran werde ich nicht scheitern. Mit diesem Gedanke schlafe ich ein.
"Angie, wie geht es dir? Hast du noch Schmerzen?", erkundigt sich Lucia früh am nächsten Morgen. Sie hat die Vorhänge zur Seite geschoben und ich sehe in der Morgensonne den Staub in den Sonnenstrahlen tanzen. Ich halte einen Moment inne um Lucia antworten zu können. Die Schmerzen haben nachgelassen, sie sind nur noch ein dumpfes Pochen hinter meinen Schläfen. "Ich hatte solche Angst um dich!", bricht Lucia den Bann. "Es hat sich so richtig angefühlt", murmele ich leise. "Es ist vorbei", flüstert Lucia. Die Spannung im Raum ist nahezu greifbar, eine düstere Stimmung trübt den hellen Morgen. "German liebt dich", durchbricht Lucia den schwarzen Moment. "Ich würde nicht von Liebe sprechen, aus ihm spricht höchstens Mitleid und einiges an Schuldgefühlen", antworte ich ausweichend. "Streite es nicht ab, meine Liebe, du merkst es doch auch. Redet einmal darüber, es hat keinen Sinn alleine einsam und unglücklich zu sein, wenn man zu zweit vereint glücklich sein kann. Mach den ersten Schritt", fordert sie mich auf, zwinkert mir zu und verschwindet aus meinem Zimmer.
Empfinde ich Liebe für German? Ist das die richtige Bezeichnung für unser Verhältnis? Ich weiß es nicht. Tatsache ist, dass ich mich besser fühle, wenn ich ihn in meiner Nähe weiß. Vielleicht hat Lucia recht. Wenn er kommt, werde ich mit ihm sprechen. Ob es Minuten oder Stunden sind, bis German kommt, weiß ich nicht, es fühlt sich an wie eine Ewigkeit und ich kann nicht beurteilen, ob ich mich freue oder einfach nur nervös bin. Ich habe tatsächlich Angst davor, mit meinem eigenen Schwager zu reden. Vielleicht ist gerade das das Problem. Mit einem nervösen Lächeln betritt er mein Zimmer. "Geht's dir gut?", erkundigt er sich höflich. Ich nicke. "Ich glaube, ich war ziemlich blöd", versuche ich, mich auf den richtigen Weg zu bringen. "Jeder Mensch macht einmal Fehler, das zeigt, dass wir Menschen sind, niemand ist unfehlbar", schlichtet German. "Hauptsache, du hast erkannt, für was es sich im Leben zu kämpfen lohnt." Jetzt oder nie. "Oh ja, das habe ich. Aber dazu brauche ich eine ehrliche Antwort von dir", murmele ich angespannt. "Immer", antwortet er sofort und schaut mich mit einem intensiven braunen Blick genau an. Wie wird er es aufnehmen? Wenn ich German wäre, würde ich alles auf eine Karte setzen oder mich in ein unkompliziertes, glückliches Leben stürzen? Kann ich mich so ändern, dass alles besser wird? Und will ich das überhaupt?
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