When a blind man cries // Collie
Was hatte sie getan?
Sie hatte doch nicht einfach das fremde Mädchen retten können. Und schon gar nicht vor Dozer. Dozer machte es regelmäßig, er vergriff sich an unschuldigen, jungen Mädchen, die nachts noch zu spät unterwegs war. Es war sein Hobby. Sein Lebensinhalt, er hatte nichts Besseres zu tun. Das Leben war hart, Dozer hatte nur das Beste aus seiner Situation gemacht.
Collie kaute unruhig an ihren sowieso schon abgebissenen Fingernägeln. Eigentlich sollte sie schlafen, doch sie war wach, starrte in das schlafende Berlin, eine Bierflasche in der Hand. Bier war das einzige, was sie an Alkohol zu sich nahm. Sie war vernünftig. Keine Drogen, kein übermäßigen Alkoholkonsum. Die Achtung vor einem einigermaßen gepflegten Aussehen. Auch wenn ihre langen, dicken Dreadlocks öfters mal ungepflegt aussah. Ihr viel zu langer, militärgrüner Mantel schlapperte gegen ihre dünnen Beine, als sie von der Bordsteinkante aufstand und begann, ziellos durch die Gegend zu laufen.
Was war an dem Mädchen anders gewesen? Die kurzen, blauen Haare, die in alle Richtungen abstanden? Sicherlich nicht. Ihr unsicherer, nervöser Gang. Der stets starr auf einer unsichtbaren Linie entlang führte? Nein. Sie hatte sie doch noch nie vorher gesehen? Sie trank den letzten Schluck aus der Flasche und steckte diese dann in ihre Tasche. Sie hätte sie auch wegwerfen können, doch das Pfandgeld war ihr viel zu wichtig. Jeder Cent zählte, wenn man draußen lebte.
„Jane! Jane!", schrie plötzlich jemand hinter ihr, schwere Stiefel, schnell auf dem Asphalt. Und wieder: „Jane!" Langsam drehte sich Collie um. „Ich heiße immer noch Collie.", meinte sie trocken, sah Billy auf sich zu rennen. „Also wirklich, ich benenne dich doch nicht nach einem Hund!", empörte sich das schwarzhaarige Mädchen. Sie war etwas jünger als Collie, 15 oder so. Sie hatte keine Ahnung. Ihre langen Haare hingen in fettigen Strähnen an ihrem Kopf hinunter, den alten Pullover, den sie trug war ausgeleiert, große Flecken waren darauf. Ungewaschen. Er roch auch nicht gut. Billy roch nicht gut. Sie stank. Angewidert wandte sich Collie ab. Dabei wusste sie, dass es Alltag bei ihnen war. Sie konnten nicht regelmäßig duschen gehen. Wo denn auch?
„Dozer ist tot.", erklärte Billy, noch ganz außer Atem. Sofort hatte sie wieder die gesamte Aufmerksamkeit der Blonden. „Ach, ja?" Teilnahmelos zuckte sie mit den Schultern. „Ja, ich wollte es dir nur sagen. Du hast ihn doch zuletzt gesehen, oder?" Billy klang ganz aufgeregt. Sie war noch nicht so lange draußen wie Collie. Sie hatte noch nicht viele Menschen sterben sehen. „Ja.", antwortete sie knapp. Und fügte dann hinzu: „Ich habe ihn umgebracht... Vermutlich." Es traf sie nicht. Emotionslos. Kälte. So viele Jahre schon draußen, das stumpfte ab. Entsetzt sah die Jüngere sie an. „Hast du nicht getan?!" Unglaube. „Doch. Und jetzt lass mich in Ruhe." Collie knurrte regelrecht, wurde ihrem Namen vollkommen gerecht. Das wilde Mädchen, mit den feinen Gesichtszügen eines Border Collies, das sich aber genauso verteidigen konnte wie ein wilder Hund.
Billy blieb wie angewurzelt stehen, sah ihr kurz nach, drehte sich um und rannte dann eilig davon. Sie hörte die wilden Schritte, wie sie immer leiser wurden. Wütend kickte sie eine leere Coladose weg, die einsam am Boden lag. Es schepperte in der stillen Nacht. „Er hat es nicht anders verdient.", meinte sie zu sich selber und sah nach oben. Kein Stern am wolkenlosen Nachthimmel. Großstadthimmel. Sie brauchte etwas zu trinken. Jetzt. Menschen umbringen zerrte an ihrer Psyche, auch wenn sie es schon öfters getan hatte.
Hatte nicht irgendwo vielleicht noch eine Kneipe auf? Ach nee, die konnte sie sich nicht leisten. Überteuertes Gesöff. Ein Späti vielleicht? Ach, egal.
Sie hörte leise Musik aus einem Fenster über ihr. Ein ganz normales Hochhaus, vielleicht der Proberaum einer Band.
If you're leaving close the door.
I'm not expecting people anymore.
Hear me grieving, I'm lying on the floor.
Whether I'm drunk or dead I really ain't too sure.
Der gleichmäßige Beat ließ sie, entgegen ihrer Stimmung, leichte Kreise über den Weg ziehen. Sie drehte sich, streckte dabei die Arme zum Himmel. Fick dich, Welt, dachte sie. Ich habe heute einen Menschen getötet, nur weil ich einem reichen Mädchen helfen wollte. Einem reichen Mädchen, Collie. Sie war reich, eindeutig. Sie besitzt so viel mehr als du und trotzdem hattest du Mitleid. Obwohl du sie normalerweise hassen solltest. Fick dich, Welt. Lass mich in Ruhe. Ich verstehe mich nicht. Lass mich allein.
I'm a blind man, I'm a blind man and my world is pale.
When a blind man cries, Lord, you know there ain't no sadder tal.
Immer schneller wurden ihre Kreise. Ich bin ein Straßenkind. Und nichts wert. Blind. Und meine Welt ist grau. Und bleich. Und immer dieselbe.
I'm a blind man, I'm a blind man, and my world is pale.
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