7. Oktober 1988
Eigentlich kämpft man um das, was man liebt. Leider hat man irgendwann keine Kraft mehr zum Kämpfen.
7. Oktober 1988
Merlin, diese dreckigen, minderwertigen Muggel machen mich noch verrückt. Was würde denn Gellert sagen, wenn er wüsste, dass ich mich nun als Schlammblut ausgebe. Oder noch schlimmer als Muggel. Bis jetzt ist mir noch kein einziger Zauber gelungen. Meiner Rolle als Kleinkind getreu stampfe ich laut mit dem Fuß auf den Boden.
„Meins!" Ein Junge zeigt auf die Bauklötze in meiner Hand.
Ich hole aus und werfe sie ihm an den Kopf. Ganz das Problemkind, als das mich alle bezeichnen. Das bin ich auch aus meiner eigentlichen Kindheit gewöhnt. Er fängt an zu heulen. Mein erster Tag im Kindergarten fängt ja echt gut an. Was für eine Erniedrigung für die große Victoria Collins. Die Erzieherin, ein erbärmlicher Muggel, fängt an mit mir zu schimpfen. Was fällt der denn ein? Wäre ich noch Victoria, ex-Aurorin und Gellert Grindelwalds rechte Hand, würde die Frau jetzt sicher unter dem Cruciatus-Fluch zu leiden haben.
Ich verziehe mich in eine Ecke und starre Löcher in die hellrosa Wand. Wütend wische ich mir eine Träne weg, die sich auf meine Wange verirrt hat. Ich habe alles verloren, was mir wichtig ist. Mein Leben ist kaputt. Ich bin gefangen in dem Körper eines Kleinkindes und mein Geist spielt verrückt. Jeden verfluchten Tag sage ich mir, dass ich bloß geduldig sein muss. Die Magie wird zurückkommen und ich werde eine Lösung finden. Doch geduldig war ich noch nie.
Ich tapse zum Tisch und schnappe mir ein Blatt Papier und einen Bleistift. Zeichnen hat mich schon immer beruhigt. Mir ist nichts von meinem vorherigen Leben geblieben. Absolut nichts außer meinen Erinnerungen. Kein Erinnerungsstück. Einfach nichts. Dies werde ich jetzt ändern.
Meine kleine Hand zittert, als sie sich fest um den Stift schließt. Diese kindliche Hand muss jetzt ihre Feinmotorik lernen. Es braucht einige Versuche, bis mir ein einigermaßen grader Strich gelingt. Dann hole ich mir ein frisches Blatt und erlaube mir einen zweiten Versuch. Ein markantes Kinn. Auffallend, hübsche Augen, das eine dunkler als das andere. Eine coole, stachelige Frisur und ein schlanker, aber kräftig gebauter Körper. Das ist Gellert Grindelwald. Und wie ich ihn vermisse!
Während ich zeichne, versetzt sich mein Kopf in die um vieles bessere Vergangenheit zurück. Ich erinnere mich noch genau an den besonderen Tag, an dem ich Gellert das erste Mal sah.
Genau zwei Wochen im Knast. Diese kleine Zelle wird noch zu meinem Untergang und das alles nur, weil ich zur falschen Zeit am falschen Ort war. Natürlich auch, weil die Präsidentin eine sture Idiotin ist, die nicht zugeben will, einen Fehler gemacht zu haben. Aber selbst schuld, wenn sie nun eine ihrer besten Auroren los ist. Meine Reinblutfamilie hat sowieso schon von Anfang an gesagt, dass ich lieber direkt zu Grindelwald gehen sollte. Wie recht sie damit hatten!
„Vicky!"
Ich erkenne Aronius Abernathys Stimme sofort und stelle mich vor die Gitterstäbe, um mit ihm zu reden. Wir beide haben uns direkt gut verstanden und selbst jetzt, da ich inhaftiert bin, steht er noch zu mir.
„Aro! Danke, dass du gekommen bist", murmle ich erfreut, während der Braunhaarige mir einen Teller mit armseligem Essen durch das Gitter schiebt.
„Gerne. Und ich entschuldige mich erneut für das Essen", murmelt der Aufseher für Zauberstabzulassung.
„Schon in Ordnung, ist ja nicht deine Schuld. Hast du irgendwelche Neuigkeiten?"
Er seufzt. „Ja, schon."
„Gute oder schlechte?", will ich wissen.
„Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht recht, was deine Meinung dazu ist." Aronius senkt die Stimme. „Ich persönlich bin nicht sehr begeistert."
„Die Untertreibung des Jahres", flüstere ich, denn sein Blick zeigt, wie niedergeschlagen er wirklich ist. „Geht es um Grindelwald?"
„Er wurde festgenommen", erwidert der Zauberer.
„Was!?", fauche ich.
Mit einem „pscht" bittet Aronius mich, meine Stimme zu senken. „Wie stehst du zu ihm?", will er leise wissen.
„Nun ja. Ich sage dir das jetzt, weil du mein guter Freund bist." Ich schaue ihn streng an und er nickt ernst. „Bis jetzt war ich ja dummerweise auf der Seite seiner Feinde, aber nachdem mir der MACUSA so in den Rücken gefallen ist... Kurz gesagt: Falls ich jemals hier rauskomme, bin ich auf Grindelwalds Seite! Und ich werde seine loyalste und kompetenteste Kriegerin sein."
„Tut mir leid, aber die Stelle wird mir gehören", lacht Aro.
„Ach ja? Ich wusste ja gar nicht, dass du eine Frau bist. Von wegen Kriegerin", witzele ich.
Als er laut auflacht, bin ich diejenige, die ihn mit einem mahnenden Blick zum Schweigen bringt.
„Er soll hier in der Nähe untergebracht werden", wispert Abernathy und bevor er sich zum Gehen umdreht, drückt er meine Hand und schenkt mir ein freches Lächeln. „Da kannst du schon mal bei ihm ein gutes Wort für mich einlegen."
Kurz darauf kommt er, mein Idol und späterer Meister. Mit den Händen auf den Rücken gefesselt und von einem halben Duzend der besten Auroren begleitet. Trotz der ungünstigen Situation ist sein Blick stolz erhoben, während ein überhebliches Lächeln auf seinen Lippen sitzt. Alles an ihm sagt: „Ihr könnt mich nicht aufhalten." Es ist wie eine Herausforderung. Sollen sie es doch wagen!
Ich schaue skeptisch auf mein Bild. Trotz der Mühe, die ich mir gegeben habe, ist es das Bild eines Kindes. Es sieht mehr aus wie eine Karikatur, eine Verhöhnung des Mannes, den ich liebe. Ich seufze und zeichne einen halben Schritt hinter den Mann eine schlanke, hochgewachsene Frau. Mich. Ihr langes, schwarzes Haar weht dramatisch um ihren hübschen Kopf. Die Zauberstäbe des Paares zeigen drohend auf einen unsichtbaren Gegner. Wie sehr ich mir doch wünsche wieder diese Frau zu sein. Beliebt, gefürchtet und talentiert: Das war Victoria Collins, Gellert Grindelwalds Partnerin.
„Da bist du ja, Grey. Was hast du da denn schönes gezeichnet?", fragt die Erzieherin, die auf einmal hinter mir erschienen ist.
„Nichts", schnauze ich sie an.
Früher habe ich mich und meine Emotionen besser unter Kontrolle gehabt. Ich war berechnend. Alles, was ich sagte, jede Emotion, die ich zeigte, hatte einen guten Grund gehabt. Nun umschließt mein kindlicher Geist mein besseres Urteil. Ich muss unbedingt einen Weg hier rausfinden. Wird Gellert mich suchen? Oder denkt er, ich sei tot und gibt mich auf? Trauert er zumindest um mich?
Ich folge der Erzieherin zu dem größeren Zimmer, wo die anderen Kinder schon im Kreis auf dem Boden sitzen. Wir reden, singen gemeinsam und lernen ein wenig. Heute ist das Thema Zahlen dran. Ich lasse meine Gedanken schweifen und ignoriere alles und jeden um mich herum, so wie ich es die meiste Zeit in diesem verfluchten neuen Leben tue.
„Wer kann schon das Datum sagen?", fragt die Erzieherin in die Runde.
Die Kinder drängen sich begeistert um die kleine Tafel. Klar, ich sollte mitspielen, um nicht aufzufallen, doch es ist mir zu blöd. So bleibe ich sitzen und beobachte die Kleinen aus der Ferne.
„Eins... eins..." „Genau, elf" „zwieee" „Ja genau eine zwei. Und was ist das hier?"
„Grey, komm doch mit vor."
Die Erzieherin hebt mich auf den Arm und streicht mir angeblich beruhigend über den Kopf. Verdammt, warum bin ich bloß so klein und wehrlos? Als ich wieder auf festem Boden stehe, sehe ich mir die Zahlen an. Geschockt bleibe ich stehen und meine Kinnlade klappt dumm nach unten. Kann es stimmen? Sind tatsächlich schon über fünfzig Jahre vergangen, seitdem ich „gestorben" bin?
Tränen laufen mir meine Wangen herunter, als ich unkontrolliert davonstolpere. Ich kann sie nicht aufhalten. Alles ist verloren. Ich kann nicht mehr in mein Leben zurück. Ich werde nie wieder Gellerts Mädchen sein. Ich bin keine Kriegerin. Ich bin nichts als ein Kleinkind. Eine Träumerin. Ich habe schon vieles überlebt: Ich war gefangen, ich wurde gefoltert, doch immer blieb ich stolz. Immer hatte ich etwas, weshalb sich das Kämpfen lohnte. Doch nun... ist alles verloren. Ist überhaupt noch irgendetwas von der Victoria Collins, die ich mal war, in mir übrig?
Fünfzig Jahre... Gellert ist sicher noch am Leben! Zauberer werden alt, vor allem, wenn sie so talentiert sind wie er. Ich habe lange genug gewartet, doch immer noch keine Anzeichen von meiner Magie gefunden. Wie kann ich ihm so entgegentreten?
Sobald ich alleine bin, lehne ich mich an eine Wand und lasse mich kraftlos an ihr heruntergleiten. Hat Gellert zumindest gewonnen? Hat er weitergekämpft und unser Ziel letztendlich ohne mich erreicht?
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