9. Kapitel
Noch beim Verlassen des Polizeireviers hatte ich bei der Stadtverwaltung angerufen und mir für den nächsten Morgen einen Termin beim zuständigen Sachbearbeiter – Mr. Phineas Ellis – geben lassen. Sodann hatte ich zu Hause vor dem Laptop gesessen und die halbe Nacht über Mr. Ellis recherchiert. Und wie immer war es absolut erstaunlich, was die Leute alles nachverfolgbar in den sozialen Medien anstellten. Ich war zu der Erkenntnis gekommen, dass Phineas Ellis trotz einer augenscheinlich glücklichen Ehe eine Affäre haben musste.
Selbstverständlich hatte auch ich Skrupel, solche Methoden zu verwenden. Doch trotzdem war es besser, einen Plan B zu haben, falls mein Presseausweis nicht wirken sollte. Um jeden Preis musste ich diese Informationen bekommen und es war unwichtig, welche Grenzen ich hierfür überschreiten musste. Immerhin tat ich das alles der Gerechtigkeit wegen und um den Anteil der Bevölkerung, die aus polizeilicher Sicht offenbar einfach keine Rolle spielte, vor einer monströsen Bestie zu schützen.
Ein letztes Mal atmete ich die kalte, erfrischende Novemberluft ein, ehe ich die hölzerne Flügeltür des Gebäudes aufstieß. Sofort umhüllte mich ein Geräuschpegel, der mich sehr an meinen eigenen Arbeitsplatz erinnerte. Telefone klingelten, Mitarbeiter redeten mal beschwichtigend auf die Leute ein, mal brüllten sie nahezu in ihre Apparate. Auch das würde mir nachher noch blühen. Chad war informiert, dass ich heute ein wenig später zur Arbeit kommen und dafür länger bleiben würde. Natürlich hatte ich ihn auch über die Gründe in Kenntnis gesetzt, schließlich war das Teil seiner Bedingungen gewesen.
Mit jedem meiner Schritte ertönte ein lautes Klacken, das meine Absätze auf dem gefliesten Boden hinterließen. Es war ein regelmäßiges, beruhigendes Geräusch, das mich wieder einmal unterstützte, ein Gefühl der völligen Ausgeglichenheit zu verspüren. Ich konnte das. Mittlerweile war ich absolut überzeugt davon, dass ich nicht nur den Mörder finden konnte und somit die Welt ein bisschen besser machte, sondern auch, dass dies mein direkter Weg zu dem Job meiner Träume war. Das schlechte Gewissen darüber wurde mit jedem Augenblick weniger – denn ich setzte hier meine eigene Sicherheit aufs Spiel. Warum sollte ich dann nicht auch Vorteile daraus ziehen dürfen?
Freundlich lächelnd kam ich vor dem Empfangstresen, dessen schwarzer Lack bereits überall abblätterte, zum Stehen. Die Frau dahinter bedachte mich keines Blickes, ihre ungeteilte Aufmerksamkeit lag auf der dampfenden Tasse neben ihr. Selbst als ich mich räusperte, reagierte die Frau nicht.
„Guten Morgen", begrüßte ich sie daher mit Nachdruck und zumindest für den Bruchteil einer Sekunde sah sie auf, weshalb ich näher an den Tresen trat. Doch bevor ich noch mehr sagen konnte, lag ihr Blick schon wieder auf der Kaffeetasse. Oder vielmehr auf dem Gegenstand, der daneben lag und den ich vorher nicht entdeckt hatte: Ihr Handy. Typisch Behörde.
„Mein Name ist Sophia Dubois. Ich habe einen Termin mit Phineas Ellis", erklärte ich der Empfangsdame ungerührt, die bloß mit den Schultern zuckte.
„Dann wird Mr. Ellis mit Sicherheit gleich bei Ihnen sein. Sehe ich aus, wie die Empfangsdame?" Ja, eigentlich schon. Aus taktischen Gründen hielt ich meine Erwiderung jedoch zurück, denn es sprach gegen meine Divise, im beruflichen Leben solch bissige Bemerkungen laut auszusprechen.
„Natürlich nicht, Miss. Ich nehme an, dass ich mich dann in den Wartebereich setze?" Die Frau stöhnte kurz genervt auf, tippte auf ihrem Smartphone herum und deutete dann, ohne aufzublicken, auf die zerschlissenen Stühle links neben dem Tresen. Viele von ihren waren bereits besetzt von Leuten, die ungeduldig auf ihre kleinen Bildschirme tippten oder verärgert in die Luft sahen. Hatte eigentlich niemand mehr Zeit für irgendwas?
„Brauchen Sie etwa eine schriftliche Einladung?" – „Nein. Einen schönen Tag noch, Miss." Obwohl sie es ohnehin nicht sah, warf ich ihr noch einmal ein betont freundliches Lächeln zu. Im Anschluss begab ich mich zu einem freien Stuhl und wollte mich gerade darauf niederlassen, als ein Typ in einem weißen Hemd und einer dunklen Jeans erschien. Sofort wusste ich, dass es sich dabei um Mr. Ellis handeln musste, aber natürlich ließ ich mir das nicht anmerken und setzte mich mit einem nichtssagenden Ausdruck hin.
„Sophia Dubois?", fragte er mit lauter Stimme, die von einem extremen Südstaatenakzent geprägt war. Schnell stand ich auf und begrüßte ihn höflich, während ein Gefühl des Triumphes in mir aufkam. Er war tatsächlich aus Texas, was schon einmal bestätigte, dass die Recherche richtig gewesen war. Nun musste ich nur noch hoffen, dass auch die weiteren Informationen, oder besser gesagt das, was ich daraus gedeutet hatte, stimmten. Am besten wäre aber, wenn ich das gar nicht erst herausfinden musste.
„Bitte folgen Sie mir." Ohne etwas zu sagen, schritt ich Mr. Ellis hinterher. Wir liefen an vielen Türen vorbei, die allesamt gleich aussahen, bis er endlich vor einer stehen blieb. Ganz der Gentleman hielt er mir die Tür auf und ich betrat das stickige, kleine Büro. Vermutlich hatte selbst Harry Potter mehr Platz in seinem Schrank unter der Treppe als der arme Mr. Ellis in seinem Büro. „Bitte setzen Sie sich doch." Der Sachbearbeiter deutete auf einen ebenso zerschlissenen Stuhl, der direkt vor seinem in die Jahre gekommen Schreibtisch stand.
Dankend ließ ich mich auf dem Stuhl nieder, wobei ich ganz nach hinten rutschte. Dadurch war mein Rücken nicht ganz durchgestreckt, was mich ein wenig Ausstrahlung kostete, aber bei jeder anderen Sitzposition hätte mein Knie die von dem blonden Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches berührt. „Was kann ich für Sie tun?", fragte er mich im nächsten Moment und ich sah kurz durch das kleine Fenster, das nicht größer war, als das Bullauge eines Schiffs. Eines kleinen Schiffes.
„Ich bin Journalistin und befasse mich derzeit mit dem Mord an einer Prostituierten." Schnell knöpfte ich meinen schwarzen Wintermantel – der rote lag immerhin noch in der Asservatenkammer des Reviers – auf, um meinen Presseausweis herauszufischen. Zur Ansicht schob ich ihn Mr. Ellis hin, der seine Augen zusammenkniff und anschließend nickte. Schnell griff ich wieder danach und hängte mir das schwarze Band abermals um den Hals, aus Angst, mein Gegenüber könnte ihn mir sonst wegnehmen.
„Arbeiten Sie für eine öffentliche Zeitung?", fragte dieser mit ehrlichem Interesse. „Nein, eigentlich nicht. Ich schreibe für ein VIP-Magazin, aber ich möchte irgendwann zur Criminal und daher einen Artikel über den Tod von Alejandra Gonzalez verfassen", antworte ich ihm zumindest mit der Halbwahrheit. Erneut nickte er, ehe sein Blick zu seinem Bildschirm glitt. „Und wie kann ich Ihnen dabei helfen?" – „Ich benötige die Aufzeichnung einer ganz bestimmten Verkehrskamera."
Der Texaner verspannte sich sichtlich und verschränkte seine Hände vor seinem Körper. „So leid es mir tut, Miss Dubois, die darf ich Ihnen nicht geben. Die Polizei kann die Aufzeichnungen mit einem richterlichen Beschluss anfordern. Das ist eine Sache, die keine zehn Minuten dauert, aber aufgrund des Datenschutzes unumgänglich ist." Wieder einmal hörte ich die Ehrlichkeit hinter seinen Worten heraus und so langsam kam mir doch ein schlechtes Gewissen. Ja, er war wahrscheinlich ein Ehebrecher. Aber er war ein freundlicher Mann, den ich nicht erpressen wollte. Könnte er nicht wenigstens ein Arschloch sein? Meine Arbeitsweise würde es erleichtern.
„Bei der Polizei gibt es derzeit nicht einmal einen zuständigen Detective. Können Sie nicht ein Auge zudrücken?", unternahm ich einen fast schon verzweifelten Versuch, an die erforderlichen Informationen zu kommen, ohne gewisse Pfade einzuschlagen. Mr. Ellis schüttelte seinen Lockenkopf, ehe er mich fast schon entschuldigend anlächelte. „Ich kann meinen Job nicht aufs Spiel setzen. Es tut mir leid, Miss Dubois, aber ich wünsche Ihnen ehrlich viel Erfolg mit dem Artikel." In meinem Inneren zählte ich einmal von sechzig herunter, um Kraft zu sammeln. Ich tat das für Alejandra Gonzalez. Ich tat es, um die Welt zu verbessern. Kaum wagte ich es, ihn anzusehen, als ich meine nächsten Worte sprach. „Und Ihre Ehe?"
Um keine Schwäche zu zeigen, sah ich ihn dennoch an. Sein Lächeln gefror und seine Augen huschten unruhig zwischen seinem Bildschirm und mir hin und her. „Wie bitte?" – „Wollen Sie Ihre Ehe aufs Spiel setzen?", präzisierte ich meine Frage und versuchte dabei, mein nagendes Gewissen auszublenden.
Mr. Ellis kratzte sich an seinem Bartschatten und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn allerdings gleich wieder. „Bitte geben Sie mir die Aufzeichnungen dieser Kameras für die Tatnacht. Ansonsten fürchte ich, dass ich Ihrer Frau von Melanie Austen erzählen muss." Die Worte kamen mir nur schwer über die Lippen, doch ich war mir absolut sicher, dass man mir dies nicht anmerkte. Seit einer gewissen Beziehung in meinem letzten High-School Jahr war ich unheimlich gut darin, Sachen vorzuspielen.
Nun konnte ich nur noch hoffen, dass ich all die Kommentare, Likes und anderen Aktivitäten in den sozialen Netzwerken richtig gedeutet hatte. Seine Reaktion verriet mir alles, was ich wissen musste. Mr. Ellis war tatsächlich ein Fremdgänger – manchmal waren es doch die unscheinbaren, netten Männer. „Ich weiß nicht, woher Sie das wissen, aber ich muss Sie auffordern, nun zu gehen." Er erhob sich von seinem Stuhl, doch ich konnte den leichten Schweißfilm, der sich auf seiner Stirn bildete, erkennen. Ich durfte jetzt nicht aufgeben, denn ich war dabei, zu gewinnen.
„Sie sollten wirklich aufpassen, was Sie auf Facebook und Instagram posten. Auch Melanie sollten Sie sagen, dass sie sich auffällig verhält. Wer liked schon jedes einzelne Bild und kommentiert alles mit Herzen? Hat Ihre Ehefrau kein Facebook?" Der Mann deutete ein Kopfschütteln an, besann sich aber doch noch. Er war mir keinerlei Antwort schuldig und das wusste er.
Nur langsam ließ er sich wieder auf seinem Schreibtischstuhl nieder und drehte sich mit seinem Körper zum Computerbildschirm. „Von welcher Nacht sprechen wir?" – „Die Nacht vom 7. November auf den 8. November. Es geht um die Kamera DX759Z." Ich fühlte mich beschissen, obwohl ich innerlich jubeln müsste. Meine Hände zitterten ein bisschen, als ich meinem Gegenüber den USB-Stick hinüberschob. Zu meinem Glück nahm er es jedoch nicht zur Kenntnis oder ließ es zumindest unkommentiert.
„Vielen Dank, Mr. Ellis."
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