2. Kapitel
Die langsam aufgehende Wintersonne tauchte den Himmel bereits in ein nahezu perfektes Orange, als ich endlich die Polizeisirenen in weiter Ferne hörte. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren und wusste nicht, wie lange ich schon auf dem Bordstein vor der Gasse saß. Mittlerweile spürte ich die allgegenwärtige Kälte kaum noch. Da war nur das Gefühl wie von tausenden, kleinen Nadelstichen, die in meine Haut drangen und die Taubheit, die sich über meinen ganzen Körper gelegt hatte.
Die Sirenen kamen immer näher und ich flehte meine Muskeln an, endlich auf die Impulse meines Gehirns zu reagieren. Ich wollte aufstehen, auf die Straße laufen und wild winken, damit die Polizisten auf keinen Fall an mir vorbeifuhren. Doch es passierte nichts. Stattdessen saß ich in derselben Position, wie kurz nach dem Anruf: Ich hatte meine Beine nahe an meinen Oberkörper gezogen und war bemüht, den metallischen Geruch des Blutes auf meiner Jeans auszublenden, hatte meine Arme um sie geschlungen und meinen Kopf auf den Knien gebettet. Wie lange ich hier wohl schon saß? Sekunden, Minuten, Stunden?
Meine Augenlider wurden mit jedem Moment, der verstrich, schwerer. Allerdings musste ich meine Augen offenhalten und es ebenfalls irgendwie schaffen, die Beamten auf mich aufmerksam zu machen. Daher blinzelte ich einige Male und nahm einen tiefen Atemzug von der kühlen Luft, die hier im stillgelegten Industriegebiet so viel klarer und weniger verschmutzt war als in der Innenstadt. Es war fast schon schön, wenn man nicht daran dachte, was hier im Schutz der Dunkelheit passierte. Der Menschenhandel, die illegale Prostitution und natürlich die bestialische Ermordung der jungen Frau in der Gasse hinter mir.
Als Nächstes erblickte ich endlich die blinkenden Lichter des Polizeiwagens. Schon in der nächsten Sekunde sah ich das Auto, das auf die Hauptstraße abbog. Sie fuhren direkt auf mich zu. Ein letztes Mal schrie ich mich innerlich selbst an, endlich aufzustehen, aber es war abermals nicht erfolgreich. Mithin konnte ich mich nur noch an die Hoffnung klammern, dass die Beamten mich von selbst am Straßenrand entdecken würden. Bei der Geschwindigkeit, die sie fuhren, war ich mir da allerdings nicht so sicher.
Wie in Zeitlupe sah ich meine vermeintliche Rettung immer näherkommen und rechnete damit, dass sie einfach weiterfuhren. Doch im nächsten Augenblick kamen sie mit quietschenden Reifen direkt vor mir zum Stehen. Die ohrenbetäubende Sirene verklang, ehe zwei uniformierte Männer den Wagen verließen. Der Polizist, der sich mir mit der Hand an seiner Waffe näherte, hatte dunkle Haut und ebenso dunkle Haare. Er war jünger als sein weißer Partner, der einen beträchtlichen Bierbauch vor sich herschob. Sein schütteres Haar war bereits vollständig ergraut und sein Mund war zu einem grimmigen Strich verzogen.
Der jüngere Beamte war zwischenzeitlich bei mir angekommen und kniete sich vor mich, um mich zu mustern. „Ruf sofort einen Krankenwagen!", herrschte er seinen Kollegen an, der murrend zurück zum Wagen ging. Ich beobachtete die Szene nur, als wäre ich eine unbeteiligte Zuschauerin, machtlos, irgendwie mit den Beamten zu interagieren.
„Sind Sie Sophia Dubois?" Ich wollte ihm antworten, jedoch war meine Kehle wie zugeschnürt. Immerhin gelang es mir, knapp zu nicken. Im nächsten Augenblick spürte ich, wie der ältere Beamte von hinten eine Wolldecke über mich legte. Es brauchte einige Versuche, bis ich die Enden der Decke schließlich zu greifen bekam, um sie um meinen Körper zu wickeln.
Ein Hauch von Wärme legte sich um mich. Meine Hände brannten, obwohl mir noch immer eiskalt war. „Wo haben Sie die Leiche entdeckt, Miss Dubois?", fragte der Beamte mit dem Bierbauch, der zwischenzeitlich wieder neben dem jungen Mann stand.
„In... In der Gasse", brachte ich schwerfällig heraus und die Polizisten tauschten einen kurzen Blick aus, ehe sich der Ältere in Bewegung setzte.
„Sie bleiben hier, in Ordnung, Miss Dubois?" Ich nickte ihm kurz zu, zumal ich mir ohnehin nicht sicher war, ob ich mittlerweile wieder aufstehen konnte. Der Jüngere seufzte kurz, ehe er sich erhob und seinem Partner in die Gasse folgte.
Etwa eine halbe Stunde später saß ich in dem Krankenwagen mit einer goldschimmernden Rettungsdecke um meine Schultern und einem heißen Tee in der Hand. Interessiert beobachtete ich die herumwuselnden Menschen, die wie aufgescheuchte Hühner durch die Gegend liefen. Während die Sanitäter meine Unterkühlung behandelten, zumindest hatte ich das Wort in ihren Konversationen aufgeschnappt, war die Spurensicherung und auch ein Forensiker mit einem unheilvollen, schwarzen Leichenwagen angekommen.
Ich hatte schon viel über unzählige Morde gelesen, doch ich war noch nie so nah am Geschehen gewesen. Allerdings wurde meine Neugier jedes Mal wieder unterdrückt, sobald ich an die Frau dachte und an die zahlreichen Wunden, die ihren Oberkörper zierten. Sie konnte nicht älter sein als ich und trotzdem hatte ich mein ganzes Leben noch vor mir, während ihres einfach so ausgelöscht worden war. Nein, nicht einfach so. Das klang zu sehr nach einem Unfall. Es war ihr brutal entrissen worden.
„Ist sie vernehmungsfähig?", hörte ich den jungen Polizisten fragen, ohne ihn zu sehen.
„Ich denke schon. Aber übertreiben Sie es nicht." In der Stimme der freundlichen Sanitäterin lag ein warnender Unterton, den er offenbar ebenfalls sehr klar wahrgenommen hatte.
„Werde ich nicht." Im nächsten Augenblick tauchte er in meinem Sichtfeld auf, ein verständnisvolles, leichtes Lächeln auf den Lippen. Vermutlich sollte es vertrauenserweckend wirken, doch es verfehlte genau diese Wirkung. Stattdessen begann ich, mich unwohl zu fühlen. Warum wurde so viel Aufmerksamkeit auf mich gelegt? Der Krankenwagen, die Beamten, alle waren nicht mit der armen Frau beschäftigt.
„Können Sie mir ein paar Fragen beantworten, Miss Dubois?" – „Ja." Dieses Mal klang meine Stimme viel fester und ich versuchte, mich ein wenig aufrechter hinzusetzen. Schließlich war ich hier nicht das Opfer, sondern womöglich der einzige Weg, den Mörder zu finden. Wusste ich überhaupt etwas Wichtiges? Eigentlich hatte ich die Frau nur entdeckt. Mir war weder ihre Identität bekannt noch die ihres Mörders. Verdammt, ich wusste ja nicht einmal, wie lange sie in der Gasse gelegen hatte.
„Wie haben Sie den Körper gefunden?", stellte der Polizist seine erste Frage.
„Ich habe mein Auto gesucht, das ich früher in der Nacht in einer Gasse abgestellt hatte. Mein Handy hatte kaum noch Akku, weshalb ich es ausgeschaltet habe. Deshalb bin ich blindlings in die Gasse gelaufen und-" Ohne dass ich es verhindern konnte, brach meine Stimme ab. Automatisch wanderte mein Blick zu meiner dunkelblauen Hose, die mit dem getrockneten Blut der Frau bedeckt war. Abermals blieb mir die Luft weg und ich war nicht in der Lage, weiterzusprechen. Bestimmt hatte die Frau auch eine Familie. Ob sie schon informiert worden war, wie ihre geliebte Tochter, Schwester, Tante, vielleicht sogar Mutter, zu Tode gekommen war? Unter welchen Umständen ihr Leben genommen wurde?
Meine Gedanken glitten zu meiner Familie. Seit mein jüngerer Bruder Matt sich mit gerade einmal neunzehn Jahren für die Armee verpflichtet hatte, lebten wir ständig mit der Angst, schreckliche Nachrichten zu erhalten. Es war ein furchtbares Gefühl, das einen von innen heraus auffraß. Doch ihre Familie traf es wahrscheinlich unvorbereitet, ohne eine Chance, Worte des Abschieds auszusprechen. „Miss Dubois, was ist dann passiert?"
Die Stimme des Beamten riss mich aus meinen Gedanken. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals, der sich schon wieder gebildet hatte, herunter und sah über die Schulter des Beamten zu der Gasse. „Ich konnte nichts sehen und bin einfach weitergelaufen. Ich dachte, vielleicht steht mein Auto dort. Dann bin ich über etwas gestolpert und habe gemerkt, dass ich Blut an meinen Händen hatte. Also habe ich mein Handy angeschaltet, um ein Foto zu machen. Ich bin davon ausgegangen, dass es ein Tier wäre, das entfernt werden müsste, weshalb ich das Foto an die Stadtverwaltung schicken wollte." – „Haben Sie ein Foto gemacht?" Seine Frage klang vorwurfsvoll und ich schüttelte unverzüglich meinen Kopf.
„Natürlich nicht", flüsterte ich tonlos. Zwar war ich Journalistin und hatte in meiner Laufbahn schon einige, kleinere Gesetze gebrochen, doch ich war nicht völlig skrupellos. Wofür sollte ich ein Foto machen, wenn sich der Anblick ohnehin nie wieder aus meinem Gedächtnis verbannen ließ?
„Was ist dann passiert?" Ich räusperte mich kurz, ehe ich dem Beamten schilderte, wie ich bei der Notrufzentrale anrief und sie schließlich hier angekommen waren. Er schrieb sich alles auf, bedankte sich bei mir und ließ mich wieder allein in dem Krankenwagen sitzen. Jedoch konnte ich die Stille nicht lange genießen, da nur wenige Sekunden später die freundliche Sanitäterin wieder zu mir stieß.
„Wie fühlen Sie sich, Sophia?" Forschend musterte sie mich genauestens, allerdings schien sie nichts zu entdecken. Zumindest sah sie nicht mehr besorgt aus, wie bei ihrer Ankunft.
„Besser", antwortete ich wahrheitsgemäß und hoffte, dass das hieß, sie würden mich nicht mitnehmen. Ich besaß keine Krankenversicherung und allein die jetzige Behandlung würde vermutlich einen großen Teil meines Gehalts auffressen.
„Gut. Ich rede noch einmal mit dem Officer, aber ich denke, dass Sie gehen können. Können Sie jemanden anrufen, der Sie abholt?" Ein zustimmendes Ja verließ meinen Mund, weshalb die Dunkelhaarige aus dem Wagen sprang und direkt auf den Officer zusteuerte, der mich soeben befragt hatte. Sie wechselte ein paar Worte mit ihm, die ich aus der Entfernung nicht verstehen konnte.
Nach wenigen Sekunden kamen die beiden gemeinsam auf mich zu. „Der Detective, der dem Fall zugeteilt wird, befindet sich derzeit noch nicht im Dienst. Können Sie heute gegen Nachmittag auf das Revier auf der East Side, Ecke Cornwell kommen?" Erneut nickte ich und nahm die Visitenkarte entgegen, die er mir vor die Nase hielt. Dabei kannte ich die Adresse bereits, denn es war zufälligerweise das Revier, in dem meine beste Freundin in der Gerichtsmedizin arbeitete.
„Rufen Sie jemanden an, der Sie abholt. Ihr Auto können Sie heute Nachmittag abholen."
Mein Auto. Fast hatte ich vergessen, dass es noch immer in einer der Gassen stand, aber ich gab ihm recht. Ich könnte das Auto auch noch heute Nachmittag auf dem Weg zum Revier abholen. Das Einzige was ich gerade wollte, war eine heiße Dusche und anschließend in mein warmes Bett zu steigen. Allerdings gab es auch diesbezüglich noch ein weiteres Problem.
„Mein Akku ist noch immer leer", warf ich ein und hielt den Beamten somit vom Gehen ab. Wie sollte ich jemanden anrufen, wenn mein Telefon sich nicht mehr anschalten ließ?
„Kein Problem. Wir benachrichtigen die Person. Können Sie mir die Nummer geben?" Schnell nannte ich ihm Haydens Nummer, die er in sein Diensthandy eintippte. Ein ungläubiger Ausdruck trat in sein Gesicht, doch unbeirrt rief er meine beste Freundin an.
Zu meinem großen Glück schien Hayden ihr Handy nicht stummgeschaltet zu haben. Vielleicht war sie auch sogar schon wach. Als wir uns am College ein Zimmer geteilt hatten, war sie stets früh morgens aufgestanden, angeblich um Ruhe in den Gemeinschaftsduschen zu haben. Aber ich wusste es nach einiger Zeit besser: Sie mochte einfach die morgendliche Stille und den malerischen Sonnenaufgang, was ihr aus unerfindlichen Gründen unangenehm zu sein schien. Dabei konnte ich das gut nachvollziehen.
„Guten Morgen, Hayden. Tut mir leid, dass ich dich so früh stören muss. Aber kannst du Sophia Dubois von einem Tatort abholen?" Verlegen kratzte sich der Officer an seinem Dreitagebart und nannte ihr einige Augenblicke später die genaue Adresse. Dann legte er wieder auf, steckte sein Handy ein und sah mich an.
„Sie ist auf dem Weg." – „Danke, Officer."
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