19. Kapitel
Justin Clearwater entgleisten sämtliche Gesichtszüge. Der Stolz in seinen Augen war augenblicklich verschwunden; stattdessen waren diese nun weit aufgerissen. Er sackte ein wenig in sich zusammen, zumindest für den Bruchteil einer Sekunde. Dann straffte er seine Schultern, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und war sichtlich bemüht, seine Fassung wieder zu gewinnen. Verhielt sich so jemand, der schuldig war? Ich hatte keine Ahnung, denn egal wie viele True Crime Formate ich bereits gesehen, wie viele Artikel ich bereits gelesen hatte – einem wahrhaftigen Mörder hatte ich noch nie gegenüber gesessen.
Instinktiv löste ich meine rechte Hand von meinem Mantel, schob diese in die Tasche und umfasste mein Pfefferspray, jederzeit bereit, es in seinen Augen zu verteilen und aus dem beschissenen Gebäude zu rennen. Wenn ich Hayden erzählen würde, was ich gerade tat... Sie würde mich eigenhändig umbringen und ich würde es ihr nicht einmal verübeln können. Kurz überlegte ich, die Flucht zu ergreifen, doch dann setzte mein Gegenüber überraschenderweise zu einer Antwort an.
„Wie bitte?" Das war definitiv keine Erwiderung, mit der ich etwas anfangen konnte. Dennoch schöpfte ich neue Kraft, weiternachzuhaken. Vielleicht lag es daran, dass er mich nicht direkt mit dem Briefbeschwerer auf seinem Schreibtisch erschlagen hatte; vielleicht aber auch an dem ungläubigen Ausdruck in seinem Gesicht. Meine Waffe ließ ich dennoch nicht los, denn er könnte noch immer jeden Moment ausholen.
„Ich denke, Sie haben mich genau verstanden, Justin. Haben Sie Alejandra Gonzalez getötet?" Mit zusammengekniffenen Augen fixierte ich ihn, versuchte jede ersichtliche Reaktion aufzufangen. Doch alles, was ich in seiner Mimik erkannte, war der Schock über das, was ich sagte und eventuell auch ein wenig Enttäuschung, doch nicht für den Artikel in Betracht zu kommen. War er unschuldig? Oder konnte er sein Inneres gut verstecken, konnte es überspielen und mich etwas Falsches glauben lassen?
Wenn ich diesen Fall wie in einem der True Crime Formate analysierte, kam ich zu folgenden Vermutungen: Alejandra Gonzalez war in einer dunklen Gasse getötet worden. Der Mörder hatte sich mit Sicherheit bewusst die illegal in diesem Land lebende Migrantin ausgesucht, um Nachforschungen zu vermeiden. Alles an diesem Mord schrie danach, dass der Mörder vielmehr ein Feigling als ein Psychopath war, der aus niederen Instinkten – seinem Sexualtrieb – handelte. Wenn ich den Mörder konfrontierte, würde er eindeutige Anzeichen von Angst zeigen, was Justin Clearwater nicht tat.
Allerdings war ich kein Experte und der Mord zu unbedeutend, um jemals von einem solch großen Team wie in den Formaten aufgeklärt zu werden. Ich war auf mich allein gestellt, musste mich auf mein gefährliches Halbwissen verlassen, das ich mir seit meinem 10. Lebensjahr angeeignet hatte – und musste hoffen, nicht direkt in meinen eigenen Tod zu laufen.
„Bitte verlassen Sie mein Büro, Miss Dubois." – „Wollen Sie mich loswerden? Ihr Auto wurde an dem Abend im Industriegebiet gesichtet! Wenn Sie mich wegschicken, komme ich gern mit der Polizei wieder!", drohte ich ihm, nicht wissend, woher ich den Mut nahm. Ich war so nah an meinem Ziel, nicht einmal der Mörder würde mich nun noch abwimmeln können.
„Außerdem möchte ich Sie darüber informieren, dass ich wirklich von der Presse bin. Meine ganze Redaktion weiß, dass ich hier bin und sie werden umgehend einen Artikel veröffentlichen, der Ihr Leben zerstören könnte, wenn ich nicht wiederkomme. Also antworten Sie mir, Justin", erzählte ich ihm eine weitere Lüge, hoffend, noch irgendeine brauchbare Antwort von ihm zu erhalten. Ich rechnete mir keine große Chancen aus, doch wenn er mir einen Beweis für meine Intuition lieferte – für seine Unschuld – wusste ich, wer der Mörder war. Oder würde Peter Jones ebenso reagieren und der Mörder war eben doch ein Psychopath und kein Feigling? Ich würde wieder am Anfang stehen mit dem Unterschied, dass der Mörder meine wahre Identität kannte.
„Ich habe niemanden umgebracht! Der Name kommt mir aber bekannt vor." Er überlegte einen Augenblick, ehe er fortfuhr. „Das ist doch die Prostituierte, oder? Sie stecken hinter diesem Instagram Account, den gefühlt jeder auf dieser Schule kennt. Wir mussten mit unseren Schülern sogar einige Gespräche darüber führen." Sollte ich ihm glauben? Jedes seiner Wörter kam mir glaubwürdig vor, doch was, wenn das ebenso eine Maske war wie meine, die mich hier in dieses Büro gebracht hatte? Nein, er war es nicht.
Peter Jones war der Mörder.
Oder?
Ich brauchte noch mehr Anhaltspunkte, die ich im Nachgang genaustens analysieren konnte. Eventuell konnte ich jemanden ausfindig machen, der mir helfen würde, das Gespräch einzuordnen. Bisher hatte ich doch für alles jemanden gefunden, dank meiner wertwollen Kontakte und meiner nicht vorhandenen Bereitschaft, aufzugeben. Chad kannte bestimmt jemanden, der sich mit Verhaltensanalyse beschäftigte – er kannte einfach für alles irgendwen.
„Ja. Ich habe diesen Instagram Account ins Leben gerufen, denn ich bin diejenige, die Alejandra gefunden hat. Sie lag in einer Gasse im verlassenen Industriegebiet in Detroit. Ihr Oberkörper war zerstochen und ich stand in ihrem Blut, der sich mit dem Regen auf dem Boden vermischt hatte und zu einem kalten Fluss geworden ist. Sämtliche Organe waren von dem Messer zerfetzt wurden, während zu Hause eine kleine, vierjährige Tochter auf sie gewartet hat, die nun nach Venezuela abgeschoben wird. Wussten Sie das, als Sie immer und immer wieder zugestochen haben, was Sie in eine absolute sexuelle Ekstase gebracht hat? Wussten Sie, wie viele Leben Sie zerstören, Justin?"
Er unterbrach mich nicht einmal, während ich ihm all diese Sachen an den Kopf warf. Währenddessen ließ ich ihn nicht aus den Augen, beobachtete ihn dabei, wie er mit zitternden Händen an seiner blauen Krawatte herumzupfte, wie seine Augen bei der Erwähnung der Tochter einen glasigen Ausdruck annahmen und wie er sich schließlich langsam erhob, um fast schon schwankend zu dem Fenster zu gehen und dieses zu öffnen. War dies doch die Angst, entdeckt zu werden? War er mein Mörder? Oder hatte ich gerade einen unschuldigen Mann mit bloßen Erzählungen einer grauenhaften Tat traumatisiert?
Für einige Sekunden, die mir wie Minuten vorkamen, stand er bloß an dem geöffnete Fenster und atmete die frische Luft ein. So als wäre es das Einzige, was ihn davon abhielt, seinen Mageninhalt auf dem flauschigen Teppich zu verteilen. Sodann drehte er sich langsam zu mir um, die Augenbrauen zusammengezogen.
„Sie denken, ich wäre derjenige, der diese bestialische Tat begangen hat, und suchen mich dennoch auf?" Wirklich, das war das Erste, was er zu meinen Schilderungen zu sagen hatte? Ich musste mir nicht von meinem Verdächtigen sagen lassen, wie übergeschnappt ich war. Das wusste ich bereits – abhalten tat es mich nur nicht.
„Ich bin selbst Vater, Miss Dubois. Bitte glauben Sie mir, dass ich zu so etwas Schrecklichem niemals in der Lage wäre. Und nun möchte ich, dass Sie mein Büro verlassen. Ansonsten werde ich die Polizei rufen." Immer noch leicht schwankend durchquerte er das Büro, öffnete die Tür und forderte mich zusätzlich mit einer Handbewegung auf, sofort zu gehen. Zögernd stand ich auf und ging auf ihn zu.
„Ich hoffe wirklich sehr, dass Sie nichts getan haben. Ansonsten sehen wir uns schon sehr bald wieder", drohte ich ihm noch und bemühte mich, das Zittern meiner Stimme zu ignorieren. Dann ließ ich sein Büro hinter mir, ignorierte den Blick seiner Sekretärin und betrat hastig den Schulflur.
Sobald ich das Gefühl hatte, aus seiner Sichtweite zu sein, überschwemmte mich absolute Panik. Mir blieb die Luft weg und ich spürte, wie Tränen mir über die Wangen liefen. Ich bemühte mich gar nicht erst, gegen den Fluchtreflex anzukämpfen, sondern rannte stattdessen so schnell ich konnte durch den leeren Schulflur.
In einem Moment lief ich den scheinbar endlosen Flur entlang, im nächsten saß ich in Gregor, die Türen verriegelt. Die Luft wurde immer knapper, mein Sichtfeld war verschwommen; ab und zu gesellten sich noch schwarze Punkte hinzu. Jeder Muskel in meinem Körper brannte und mir war eiskalt, so als wäre ich diejenige, die in einer mit Regen durchtränkten Gasse liegen würde.
Ich versuchte, tief Luft zu holen, doch das hatte nur noch mehr Atemnot zur Folge. Der Mörder musste mich gar nicht mehr erledigen, weil ich hier und jetzt in diesem Auto ersticken würde. Alejandras Mord würde für immer ungeklärt bleiben und Hayden würde ein Spruchband mit der Aufschrift Ich habe es dir doch gesagt zur Beerdigung mitbringen.
Mittlerweile hatte ich das Gefühl, sämtlicher Sauerstoff sei aus meinen Lungen gewichen. Obwohl ich mit letzter Kraft versuchte, dagegen anzukämpfen, fielen meine Augen zu... und augenblicklich sah ich den zerstochenen Oberkörper von Alejandra. Ich sah das erste Einstichloch, das zweite, das dritte.
Ich musste fokussiert bleiben.
Endlich füllten meine Lungenflügel sich wieder mit Luft und ich öffnete meine Augen. Alles war gut, niemand würde mir etwas tun und ich würde nicht ersticken. Stattdessen würde ich nun Peter Jones einen Besuch abstatten.
A/N: Und? Ist Justin Clearwater ein wahnsinnig guter Schauspieler oder wirklich unschuldig? Was denkt ihr?
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