15. Kapitel
Erschöpft ließ ich mich auf mein Sofa fallen und griff nach der halbleeren Box mit asiatischen Nudeln. Seit meiner Zeit am College hatte ich eine Vorliebe für kalte Bratnudeln, die schon viele Leute amüsiert und zeitgleich verstört hatte. Während ich mir also eine weitere Ladung in den Mund schob, betrachtete ich das frisch geputzte Wohnzimmer. Endlich fühlte ich mich in meinen eigenen vier Wänden wieder wohl. Normalerweise war ich nämlich der totale Ordnungsfreak, doch in der letzten Woche war ich zeitlich einfach nicht dazu gekommen.
Das Piepen meines Handys sorgte dafür, dass ich meinen Blick von dem perfekt staubgewischten Fernseher nahm und schnell nach meinem Smartphone griff, das auf der Lehne neben mir lag. Offenbar hatte ich eine neue Nachricht auf dem Instagram Account, vermutlich wieder ein Zuspruch für meine Aktion. Einhändig öffnete ich die Nachricht; mit der anderen Hand stopfte ich mir weiter die Reste meines gestrigen Abendessens in den Mund. Schnell überflog ich die Nachricht – und mein Herz blieb stehen. Die Nudeln verteilten sich auf meiner schwarzen Bluse, doch ich beachtete sie gar nicht mehr.
Mein Herzschlag setzte wieder ein und sobald ich meine zitternden Hände unter Kontrolle gebracht hatte, las ich die kurze Nachricht genaustens Wort für Wort.
»Hey, ich glaube, ich kenne weitere Zeichen des gesuchten Kennzeichens. Können Sie mir versichern, anonym zu bleiben?«
Schnell schickte ich eine Nachricht zurück, in der ich ihm versicherte, er würde anonym bleiben. Mit angehaltenem Atem und immer schneller werdenden Puls wartete ich auf seine Antwort, die nur wenige Sekunden später mit einem erneuten Piepton angekündigt wurde. Er schlug vor, sich in einer Stunde in Dearborn – einem hübschen, kleinen Vorort von Detroit, in dem ich bisher erst einmal gewesen war – bei Ricks Waschanlage zu treffen. Umgehend bestätigte ich ihm auch das Treffen, ehe ich aufsprang und die restlichen Nudeln somit auf dem Boden verteilte. Für den Moment war mir dies jedoch egal.
Ungeduldig saß ich in meinem Auto und scrollte zum gefühlt hundertsten Mal durch das Profil des mutmaßlichen Informanten. Es war relativ nichtssagend; das typische Profil eines durchschnittlichen High-School Schülers, der weder besonders beliebt noch besonders unbeliebt war. Keiner seiner Posts, die entweder etwas mit dem Schwimmteam der staatlichen Schule oder mit seinen Freunden zu tun hatten, gaben mir Aufschluss darüber, was für eine Person er war. Allerdings konnte ich definitiv ausschließen, dass es sich um ein Fake-Profil handelte, die sahen ganz anders aus, und somit begab ich mich nicht unmittelbar in Gefahr. Ein 15-Jähriger war wohl kaum der Mörder...
Ich erkannte aus dem Augenwinkel, wie jemand am anderen Ende des beleuchteten Parkplatzes mit einem alten Fahrrad auf diesen einbog. Schnell steckte ich mein Handy weg und richtete meine volle Aufmerksameit auf den Neuankömmling. Das musste er sein. Ohne weiter über die möglichen Dinge nachzudenken, die eventuell schiefgehen konnten, stieg ich aus dem Wagen aus, verriegelte ihn und ging einige Schritte in die Mitte des Parkplatzes. Mit einem Kopfnicken bedeutete er mir, ihm zu folgen.
Nun kamen doch Zweifel in mir auf: Mit dem Jungen würde ich schon fertig werden – aber was war, wenn er für den Mörder arbeitete? Wenn all das eine Falle war? Jedoch schob ich diese immer lauter werdenden Gedanken mühsam beiseite, legte lediglich meine Hand um das Pfefferspray in meiner Jackentasche und folgte ihm. Es würde schon alles gut werden; ich würde nun definitiv nicht aufgeben.
Mit einigen Schritten Abstand ging ich um das Gebäude herum. Die Beleuchtung wurde immer spärlicher, was meinen Puls abermals in die Höhe schnellen ließ. Zu viel erinnerte mich an die Gasse, in der ich Alejandra gefunden hatte. „Sind Sie diejenige, die den Account betreibt?" Die Stimme des Jungen, der den Stimmbruch offenbar noch nicht ganz hinter sich gebracht hatte, triefte nur so von Verunsicherung. Seine Schwäche ließ es endlich zu, dass ich meine Ängste und Zweifel zumindest für den Moment vollständig verdrängen konnte.
„Ja. Du hast Informationen?", fragte ich direkt und musterte mein Gegenüber, doch ich konnte ihn aufgrund der Dunkelheit nur schemenhaft erkennen. Vermutlich hatte er mich deshalb hierhergeführt, dabei wusste ich aufgrund seines Profils natürlich schon längst, wie er aussah. Trotzdem wollte ich nicht, dass er das täuschende Gefühl von Sicherheit verlor, sodass ich es für mich behielt.
„Ja, also, ich", er unterbrach sich und ich konnte hören, dass er tief Luft holte. Dann fuhr er fort. „Ich arbeite hier in der Waschstraße, um das College bezahlen zu können. Vorletzte Woche Sonntag kam ganz früh ein Mann hierher, der Blut in seinem Auto hatte. Er hat mir erzählt, es käme von einem verletzten Tier."
Das passte. Der Mord war in der Nacht von Samstag auf Sonntag geschehen; Sonntagnacht hatte ich Alejandras Leiche gefunden. Da mein Gegenüber nicht von allein weiterredete, beschloss ich, nachzuhaken. „Und du kennst das ganze Kennzeichen?" – „Naja, also zumindest Teile davon."
Mit einer kurzen Handbewegung forderte ich ihn auf, weiterzusprechen. Zeitgleich fischte ich mein Handy aus der Hosentasche und öffnete eine neue Notiz. Schnell tippte ich die mir bekannten Zeichen ein, was nur der erste Buchstabe und die letzte Ziffer war. „Die Buchstaben waren DPS. Die erste Zahl war eine 1 und die letzte eine 5." Auch das stimmte mit meinen bisherigen Informationen überein und ich musste mich zusammenreißen, um einen Jubelschrei zu unterdrücken. Nunmehr fehlten mir nur noch die zwei Zahlen in der Mitte – es war die nächste gute Spur. Ich kam dem Mörder immer näher.
„Weißt du noch etwas?" – „Der Mann wohnt hier in Dearborn, glaube ich. Zumindest habe ich seinen Wagen schon oft hier gesehen. Ich konnte aber nicht viel von ihm erkennen, da er seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen hatte."
Bingo. Ich hatte seinen mutmaßlichen Wohnort und fünf von sieben Zeichen des Kennzeichens. Das waren genug Informationen, damit die richtigen Leute den Namen herausfinden konnten. Dennoch war ich noch nicht fertig mit dem Fragen stellen, denn eine Sache war mir noch immer unklar. Meine Neugier machte es mir unmöglich, nicht nachzufragen.
„Dir muss doch klar gewesen sein, dass das kein Tierblut war, oder? Spätestens als du den Post auf dem Account gesehen hast. Warum bist du nicht zur Polizei gegangen? Hat er dir Geld gegeben?" Trotz der kaum vorhandenen Beleuchtung sah ich, wie der Junge seinen Blick auf den Boden richtete.
„Er hat dir Geld gegeben. Aber warum erzählst du nun mir davon und nicht der Polizei?" – „Ich brauche das Geld für das College. Wenn ich zur Polizei gehen, nehmen sie mir das Geld weg und ich verliere meinen Studienplatz. Aber ich habe es jetzt Ihnen erzählt und Sie finden den Mörder. Oder?" Für einen kurzen Moment tat er mir sogar leid. Natürlich schützte er mit seinem Verhalten einen Mörder, doch zumindest schien er noch ein Fünkchen Anstand zu haben. Er hatte mir alles erzählt, vermutlich um sein Gewissen zu erleichtern und das musste tatsächlich reichen. Ich konnte seine Handlungen besser nachvollziehen, als es mir lieb war.
„Das hoffe ich doch."
Damit drehte ich mich um und ließ den Jungen stehen. Schnell ging ich zurück zu Gregor, entriegelte die Tür und ließ mich auf dem Sitz nieder. Nur langsam beruhigte sich mein Puls wieder. Ich würde das Monster finden.
Augenblicklich griff ich nach meinem Handy und wollte gerade Hayden anrufen, um die guten Neuigkeiten mit ihr zu teilen. Im letzten Moment stoppte ich mich jedoch, denn mir fiel wieder ein, dass sie nichts mehr mit mir zu tun haben wollte.
Der Gedanke versetzte mir einen Stich und mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Doch ich durfte mich so kurz vor dem Ziel nicht ablenken lassen. Daher startete ich den Motor und aktivierte die Freisprechanlage, nur um im nächsten Moment einen anderen Kontakt anzuwählen. In der Hoffnung, dass er noch dieselbe Nummer hatte...
„Hier ist Jason", meldete sich nach wenigen Momenten die Stimme, auf die ich gehofft hatte. Zeitgleich lenkte ich Gregor von dem Parkplatz. „Jason! Wie geht's dir?" Ich konnte ein tiefes Aufseufzen hören und fürchtete, er würde jeden Moment auflegen, weshalb ich hastig weitersprach.
„Okay. Kein Smalltalk. Ich weiß, die Trennung war beschissen. Aber ich brauche deine Hilfe." – „Beschissen? Du hattest nach drei Jahren nicht mehr als eine E-Mail für mich übrig! Beschissen ist ja wohl die Untertreibung des Jahrhunderts." Darauf fiel mir nichts ein. Selbstverständlich konnte ich das erklären: Wenn ich nicht betrunken gewesen wäre, hätte ich diese E-Mail vermutlich niemals verschickt, sondern hätte es ihm bei nächster Gelegenheit persönlich gesagt. Ich bezweifelte jedoch stark, dass er das hören wollte, weshalb ich beschloss, die Vergangenheit einfach Vergangenheit sein zu lassen.
„Ich brauche deine Hilfe. Ich suche nach einem Mörder, ich habe einen Wohnort und die meisten Zeichen des Kennzeichens. Kannst du mir helfen?", fragte ich also nur unvermittelt nach. Jason hatte schon in der High-School ein besonderes Talent gehabt, sich in gewisse Datenbanken zu haken. Während seinem Besuch am College – natürlich studierte er irgendetwas IT-mäßiges – war er sogar dazu übergegangen, sich als Hacktivist zu bezeichnen. Was auch immer das bedeuten soll.
„500 Dollar und ich finde heraus, wer der Mörder ist." – „300 Dollar", versuchte ich zu verhandeln, da ich nach Abzug der Miete nicht einmal so viel Geld im Monat übrighatte. „Ist das dein Ernst?" Dieses Mal war ich diejenige, die aufseufzte. Gut, dann gab es nächsten Monat wohl nur Brot und Wasser.
„Na schön. Aber ich brauche die Information so schnell wie möglich."
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