11. Kapitel
Forschend betrachtete ich Peyton, der in meinem kleinen Wohnzimmer unruhig herumlief, während ich mit Hayden dem Sofa sah. Ich wurde nicht schlau aus dem Verhalten des jungen Polizisten, der mir vermutlich das Leben gerettet hatte. Mir fiel es schwer, seine Motive zu verstehen. Tat er es für Hayden oder glaubte er einfach an dieselben Werte, wie ich? Bei letzterem war ich mir nicht sicher, wie er dies mit seinem Job in Einklang bringen konnte. Obwohl ich tiefe Dankbarkeit empfand, wollte ich nur, dass er verschwand, damit ich mit Hayden endlich die Videoaufnahmen sichten konnten.
„Was hattest du da überhaupt zu suchen?", riss er mich im nächsten Moment aus meinen Gedanken, während Hayden mir half, meinen schmerzenden, verletzten Arm aus meinem Mantel herauszubekommen. Schon die ganze Fahrt über hatte er mich mit Fragen durchlöcherte, aber ich hatte auf keine geantwortet und mich nach dem Moment gesehnt, in dem Hayden, die Gregor sicher zu meiner Wohnung brachte, wieder bei uns war. Ihre Anwesenheit schenkte mir Sicherheit.
„Fragst du mich das als Polizist?" – „Nein." Kurz sah ich zu Hayden, die mir einen aufmunternden Blick schenkte, ehe sie den Mantel auf den Wohnzimmertisch legte und meine Bluse auf der linken Seite am Ärmel herunterzog. Sofort spürte ich die Kälte ihrer Finger, die sich auf meine entblößte Schulter legte. Im selben Moment beschloss ich, Peyton als Dank für meine Rettung zumindest ein wenig Vertrauen entgegenzubringen.
„Ich versuche herauszufinden, wer Alejandra Gonzalez getötet hat", beantwortete ich seine Frage wahrheitsgemäß, aber ohne den USB-Stick zu erwähnen. Schließlich hatte ich die Aufnahmen darauf durch Erpressung bekommen, was noch immer eine Straftat darstellte.
„Dafür gibt es die Polizei." Peyton blieb stehen, um mich mit seinen dunklen Augen ebenso forschend zu mustern, wie ich ihn zuvor. Gerade wollte ich etwas erwidern, als Hayden ihren Finger in meine Schulter bohrte und die Schmerzen, die ich allgegenwärtig spürte, sich verzehnfachten.
„Dieser Typ hat dir die Schulter ausgekugelt. Glaube ich zumindest." Bevor ich etwas dazu sagen konnte, war der Polizist zu uns getreten und warf ebenfalls einen Blick auf meine Schulter. Als Reaktion verzog er bloß das Gesicht und brachte so viel Abstand wie möglich zwischen das Sofa und sich.
„Definitiv. Ich habe schon viele ausgekugelte Schultern gesehen." – „Und was heißt das nun?", fragte ich ein wenig unsicher, wobei ich versuchte, die lodernden Schmerzen so gut wie es ging zu ignorieren. Außerdem beschloss ich mit Peyton Scott nicht über seinen Arbeitgeber zu diskutieren; das würde vermutlich eh nur nach hinten losgehen.
„Zieh die Bluse aus. Ich renke dir die Schulter wieder ein. Ich kann das." Den letzten Satz vernahm ich nur, weil Hayden nah bei mir saß. Vermutlich war es bloß ihr Versuch, sich selbst Mut zuzusprechen. Für eine Sekunde überlegte ich, vorzuschlagen, das Krankenhaus aufzusuchen, doch dann dachte ich an die horrenden Kosten.
„Hast du das denn schon einmal gemacht?", fragte Peyton und ich hoffte, sie würde darauf einfach nicht antworten. Ich wollte die Antwort nämlich gar nicht wissen. Natürlich hatte Hayden Medizin studiert, doch sie arbeitete als Gerichtsmedizinerin.
„Nein, bisher noch nicht." Es wäre eine Lüge, wenn ich behaupten würde, ihre Antwort hätte mich nicht beunruhigt. Dennoch zog ich mit ihrer Hilfe meine Bluse aus, wobei es mir relativ egal war, dass Peyton noch mitten im Raum stand. Er war schließlich vernarrt in Hayden, was ich mittlerweile ziemlich offensichtlich fand.
„Hilf mir bitte einmal." Hayden umschloss meinen Oberarm mit ihren Fingern, wobei ich spürte, wie sie zitterten. Vertrauenserweckend war das definitiv nicht, aber ich beschloss, sie einfach gewähren zu lassen. Viel schlimmer konnte die Schmerzen ja eigentlich gar nicht mehr werden, oder?
Peyton war nunmehr wieder bei uns angekommen und sah Hayden mit einem fragenden Ausdruck an. „Sie darf sich nicht bewegen, wenn ich das Gelenk wieder einkugle. Sonst könnte ich sie ernsthaft verletzen." Langsam stieg Angst in mir auf, auch wenn ich mein Leben jederzeit in ihre Hände legen würde. Vielleicht sollte ich doch lieber ein Krankenhaus aufsuchen und dafür die nächsten Monate nur Brot essen.
Ich behielt meine Gedanken für mich, als der Braunhaarige auch schon bei uns angekommen war. Seine eine Hand, die deutlich wärmer als Haydens war, legte er auf meine andere Schulter. Die andere drückte er auf meinen Oberschenkel, ohne mich anzusehen. „Okay. Es geht los. Atme tief ein und auf mein Kommando wieder aus, ja?"
Mehr als ein Nicken brachte ich nicht zustande. Ich schloss meine Augen und atmete tief ein, als ich auch schon Haydens Stimme hörte. „Jetzt." Geräuschvoll ließ ich die angehaltene Luft wieder heraus und spürte, wie Hayden in einer ruckartigen Bewegung meinen Arm verdrehte.
Die Schmerzen, die in der nächsten Sekunde durch meinen ganzen Körper fuhren, waren die schlimmsten meines Lebens. Es war, als würde sich ein Feuer von meiner Schulter aus in meinem ganzen Körper ausbreiten und jeden Knochen pulverisieren, der sich in ihm befand. Mir wurde schlecht und für den Bruchteil einer Sekunde wurde mir schwarz vor Augen, ehe sich alles wieder zu normalisieren schien. Noch immer spürte ich die Schmerzen, doch nun waren sie eher dumpf.
„Ich habe es tatsächlich geschafft!" Peyton ließ mich wieder los, um meiner besten Freundin einen High-Five zu geben. Ihre Stimme klang so euphorisch, dass ich mich fragte, wie sicher sie sich über ihre Fähigkeiten tatsächlich gewesen war. In diesem Moment schwor ich mir, sollte mir das jemals wieder passieren, ein Krankenhaus aufzusuchen und das monatelange Brot essen einfach zu akzeptieren.
„Danke", brachte ich dennoch hervor und griff nach meiner Bluse, die ich mir mühsam wieder überzog. „Danke für alles."
Eine knappe Stunde später war Peyton endlich verschwunden, sodass ich Hayden über den USB-Stick aufklären konnte. Gemeinsam saßen wir nun vor meinem Laptop und warteten darauf, dass er endlich mit dem Hochfahren fertig war.
„Warum bist du mich suchen gekommen?", stellte ich eine Frage, die mir die ganze Zeit auf der Zunge lag. Während Peytons Anwesenheit hatten wir über alles gesprochen, aber nicht mehr darüber, warum genau ich da gewesen war – und warum die beiden da gewesen waren. Ich war mir ziemlich sicher, dass Peyton noch einige Fragen hatte, aber offenbar besaß er genug Anstand, um sie nicht mehr heute zu stellen.
Vermutlich sollte ich nach den Geschehnissen stark traumatisiert sein, ein zerbrechliches Gefäß, das bei einem falschen Wort zerbrach. Doch all das war ich nicht. Ich spürte nur den Triumph, eine tatsächliche Spur zu haben. „Ich hatte einfach ein ungutes Gefühl." Ihre Antwort war sehr ausweichend und ich spürte, dass sie mir nicht Wahrheit sagte. Ein kurzer Blick bestätigte mir meine Vermutung: Sie sah aus dem Fenster, statt mich anzusehen.
„Hayden." Sie sah mich an, wobei sie ihre Arme von der Brust verschränkte. Dann schlich sein ein Lächeln auf ihre Lippen. „Ich war nervös. Ich habe auf deinen Ratschlag gehört und mich mit Peyton zum Abendessen verabredet. Als ich bei ihm im Auto saß, bin ich so unfassbar nervös geworden-" Sie geriet ins Stocken, dabei war mir ohnehin schon bewusst, was sie sagen wollte.
Nun konnte auch ich mir ein wissendes Grinsen nicht verkneifen. „Und dann dachtest du dir, mich als Ausrede zu nutzen, um das Date zu beenden. Das war unfassbar blöd. Aber ich danke dir. Wer weiß, wo ich jetzt wäre." Hayden nickte nur bestätigend, ehe sie ihren Blick auf meinen Laptop heftete. Schnell folgte ich diesem und stellte fest, dass er mittlerweile fertig mit laden war.
Schnell gab ich meine Anmeldedaten ein und steckte den USB-Stick, der auf dem Tisch gelegen hatte, hinein. „Will ich wissen, wo du den herhast?", vernahm ich Haydens Frage und schüttelte als Antwort bloß den Kopf. Das wollte sie mit Sicherheit nicht wissen.
Wenige Augenblicke später öffnete sich ein kleines Videofenster, das ich vergrößerte. Am unteren Rand konnte ich das Datum sowie die Uhrzeit sehen. Ansonsten war es ein wenig verpixelt, dunkel und durch den Regen ließ sich vermutlich noch weniger erkennen, als ohnehin schon. „Wonach suchen wir?"
„Wir suchen nach einem schwarzen Auto, in das Alejandra so gegen 2 Uhr eingestiegen sein muss." Noch während ich antwortete, spulte ich auf 1:30 Uhr vor. Mein Blick lag ebenso gespannt auf den Aufnahmen wie Haydens. Natürlich konnte sie sich aus alldem nicht heraushalten, zumal ich das auch gar nicht wollte. Es war schön, dass sie mich bei jedem Vorhaben bedingungslos unterstützte. Sie war diejenige, auf die ich jederzeit zählen konnte.
„Da! Da ist etwas", teilte ich Hayden mit und stoppte das Bild sofort. Die Uhrzeit blieb bei 1:53 stehen, während ich das schwarze Auto betrachtete und die Gestalt, die sich hineingelehnt hatte. Das musste es sein.
„Ich glaube, wir haben das Auto. Siehst du den roten Rock und die roten Pumps? Die hat Alejandra getragen, als sie gefunden wurde." Ich kniff meine Augen zusammen und bemühte mich, etwas auf der verpixelten, dunklen Aufnahme zu erkennen. Tatsächlich schien das Rot so zu leuchten, dass es mir bei genauerem Hinsehen ins Auge stach.
„Das ist sie. In diesem Auto sitzt ihr Mörder." Ich griff nach meinem Schreibblock und vergrößerte das Bild, um das Kennzeichen zu erkennen. Zu meiner Enttäuschung musste ich feststellen, dass der Mörder offenbar etwas darüber angebracht hatte. Wir konnten es nicht entziffern.
„Verdammt!" Ein Fluch verließ Haydens Mund, als mir etwas auffiel. Was auch immer der Mörder über sein Kennzeichen gehängt hatte: Es war an den Enden leicht verrutscht. Mit Mühe erkannte ich die Skyline, die alle Kennzeichen aus Michigan hatten. Außerdem konnte ich, nachdem ich noch näher heran gezoomt hatte, den ersten Buchstaben sowie die letzte Zahl erkennen.
„Es ist definitiv ein Kennzeichen aus Michigan. Der erste Buchstabe müsste ein D sein und die letzte Zahl eine fünf", teilte ich Hayden meine Erkenntnisse mit, die daraufhin bloß aufseufzte. Ich wusste, was sie sagen würde. Das waren so gut wie keinerlei Informationen. Während die Polizei über umfangreiche Mittel verfügte, um sämtliche Kennzeichen des Staates zu prüfen, hatte ich nichts.
All diese Informationen hatte ich verhältnismäßig einfach erfahren. Was die Polizei wohl alles in Erfahrung bringen konnte, wenn sie sich bemühen würde? „Ich will nicht pessimistisch sein, aber wenn wir nicht jemanden finden, der uns den Rest des Kennzeichens nennt, stehen wir wieder ganz am Anfang."
Das war die Lösung!
„Du bist unglaublich, Hayden", lobte ich meine beste Freundin und fiel ihr überschwänglich um den Hals. Sie hatte Recht: Wir mussten nur jemanden finden, der den Rest des Kennzeichens kannte.
Wie schwer konnte das in Zeiten von sozialen Medien schon sein?
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