10. Kapitel
Nachdem ich einen weiteren, scheinbar endlosen Arbeitstag in der Redaktion hinter mich gebracht hatte, befand ich mich nun wieder dort, wo alles angefangen hatte: In der Einbuchtung zweier längst verlassener Fabrikhallen des Industriegebietes.
Dieses Mal hatte ich mein Auto ganz am Anfang einer verhältnismäßig gut beleuchteten Gasse abgestellt, was besonders daran lag, dass ich mir heute keine große Mühe gab, unentdeckt zu bleiben. Ganz im Gegenteil - heute wollte ich die Prostituierten, die an der Hauptstraße auf ihre Kundschaft warteten, direkt mit dem Geschehen konfrontieren. Ich verfügte zwar mittlerweile über Videoaufnahmen der ganzen Mordnacht, doch bei der ersten Sichtung in meiner Mittagspause war mir aufgefallen, wie viele Autos hier tatsächlich lang fuhren. Daher brauchte ich zumindest die Angabe des Zeitraums, die oberflächliche Beschreibung des Autos, einfach irgendeinen Anhaltspunkt, der mir weiterhalf.
Schnell legte ich noch den USB-Stick mit den Aufnahmen, welchen ich bisher in meiner Manteltasche verstaut hatte, in mein Handschuhfach und schrieb eine kurze Nachricht an Hayden, um sie über mein Vorhaben zu informieren. Zeitgleich schickte ich ihr über den Nachrichtendienst meinen Livestandort, den sie nun über sechs Stunden verfolgen konnte. Ihre warnende Antwort, die ich nur wenige Sekunden später auf meinem Display sah, ignorierte ich jedoch gekonnt.
Ein letztes Mal nahm ich einen tiefen Atemzug, ehe ich den Motor meines Fiats ausschaltete und die Tür öffnete. Mir würde schon nichts passieren; ich wollte schließlich nur etwas über den Mord erfahren und nicht über die krummen Geschäfte, die hier sonst noch stattfanden. Somit war ich keine Bedrohung - zumindest wiederholte ich diesen Satz immer wieder wie ein Mantra. Selbstverständlich war ich nicht blöd, ich wusste, in welche Gefahr ich mich hier möglicherweise begab. Es war mir allerdings schlichtweg egal, denn ich würde jeden notwendigen Schritt gehen, um diese Bestie zu fangen.
Mit dem Bild des zerstochenen Oberkörpers vor Augen, stieg ich endlich aus und schloss leise die Tür hinter mir, bevor ich meinen Wagen verriegelte. Reflexartig legte sich meine Hand um das Pfefferspray, das sich in meiner rechten Manteltasche befand, während mein Herzschlag sich beschleunigte. Trotzdem ließ ich mit großen Schritten Gregor hinter mir und bog nach wenigen Augenblicken, in denen mein Herz beinahe aus meiner Brust sprang, auf die Hauptstraße. Die in diesem Abschnitt vorhandenen Straßenlaternen, von denen die meisten sogar funktionierten, gaben mir ein täuschendes Gefühl von Sicherheit.
Trotz meines mangelhaften Orientierungssinnes entdeckte ich nach wenigen Minuten, die sich in der eisigen Kälte wie Stunden anfühlten, in einiger Entfernung die leicht bekleideten Frauen. Du kannst das, flüsterte ich mir selbst Mut zu, dann ging ich auf die Damen zu. Die Erste, die mich entdeckte, war eine hochgewachsene Frau, die lediglich ein spärliches, schwarzes Lackkleid trug, das mehr zeigte, als es verdeckte. Ob ihnen die schneidende Kälte nichts ausmachte? Ich konnte es mir kaum vorstellen.
Noch während ich auf sie zuging, hatte sie bereits die nebenstehende Frau auf mich aufmerksam gemacht. Aufgrund der nunmehr geringen Distanz konnte ich sehen, wie sie der Frau im Lackkleid etwas sagte, doch der Wind trug ihre Worte für mich unverständlich fort. Als sie wenige Sekunden später jedoch auf mich zulief, konnte ich zumindest vermuten, was sie der Frau im Lackkleid gesagt hatte.
„Wir bieten für Frauen derzeit keine Gefälligkeiten an", stellte sie klar, sobald sie nah genug war, dass ich ihre Worte verstehen konnte. Es dauerte einige Momente, bis ich die Bedeutung ihrer Worte verstand. Obwohl ich eigentlich kein prüder Mensch war, schoss mir die Schamesröte ins Gesicht und ein hitziges Gefühl stieg in mir auf.
„Deshalb bin ich nicht hier", brachte ich dennoch hervor und zog im nächsten Moment den Presseausweis aus meiner Tasche, wofür ich die Hand vom Pfefferspray nahm. Ich hielt ihr den Ausweis hin und sie kniff die Augen zusammen, vermutlich, um trotz des dämmrigen Lichts die Schrift entziffern zu können.
„Ich bin Journalistin und möchte aufdecken, was mit Ihrer Kollegin Alejandra passiert ist." Die hellen Augen meiner Gesprächspartnerin weiteten sich und sie ging ein paar Schritte zurück. Unbeeindruckt verringerte ich die Distanz wieder, steckte den Presseausweis weg und versuchte, ihr ein aufrichtiges Lächeln zu schenken.
„Ich darf nicht mit Ihnen reden." Ihre Stimme war lauter als zuvor, sodass die anderen auf uns aufmerksam wurden. Sie verschränkte die Hände hinter dem Rücken, woraufhin die Dame in dem Lackkleid ein Klapphandy aus ihrem Schuh holte. Die Entwicklung, die das Gespräch nahm, beunruhigte mich - jedoch nicht genug, um aufzugeben.
„Das weiß ich. Niemand wird es erfahren. Ich will doch nur wissen, was mit Alejandra passiert ist. Wussten Sie, dass Alejandra eine kleine Tochter hatte, die nun in einem Heim untergebracht ist und vermutlich wieder abgeschoben wird?" Es war bereits das dritte Mal innerhalb weniger als einer Woche, dass ich den Versuch unternahm, einen Menschen zu manipulieren. Mit jedem Mal fühlte es sich weniger falsch an, was mich ängstigte, aber gleichzeitig auch optimistisch stimmte.
Ich trat noch einen weiteren Schritt auf die Frau zu, sodass uns nur noch eine Armlänge trennte, und hoffte, durch die tatsächliche Nähe eine persönliche Nähe zu schaffen. Irgendwie musste sie mir vertrauen, zumindest genug, um mir Anhaltspunkte für meine weiteren Ermittlungen zu geben. Doch sie hatte Angst - völlig verständlich, wenn ich an die Geschichten dachte, die über ihren Arbeitgeber kursierten.
„Gehen Sie sofort, Miss. Ich kann Ihnen nichts dazu sagen." - „Ich weiß, dass Sie Angst haben. Aber wenn dieser Mörder nicht gefasst wird, könnten Sie die Nächste sein." Ihr Gesicht verzog sich zu einer angsterfüllten Grimasse und symbolisierte mir, dass ich eine Grenze überschritten hatte.
„Bitte gehen Sie." Ihre Stimme zitterte ebenso wie ihre Hände, die sie nun wieder vor ihrem Körper verschränkt hatte. Gleich hatte ich sie.
„Sie wollen nicht wirklich, dass so jemand hier herumläuft. Wissen Sie, wie Alejandra gestorben ist? Ihr Oberkörper, sämtliche Organe, wurden zerstochen. Es scheint den Mörder so in Fahrt gebracht zu haben, dass Sperma auf ihren Klamotten gefunden wurde." Ich machte eine Pause, um meine Worte wirken zu lassen. Zunehmend wurde sie blasser, mittlerweile zitterte sie am ganzen Körper.
„Wann ist Alejandra in dieses Auto gestiegen? Wie sah es aus?", fragte ich nach, in der Hoffnung, dass sie an dem Abend tatsächlich anwesend war und mir auch antworten würde. Meine ganze Aufmerksamkeit lag auf der Frau und so nahm ich den Wagen, der neben uns hielt, kaum wahr.
Die leicht bekleidete Frau seufzte einmal, ihre Augen weit aufgerissen. „Das muss so gegen 2 Uhr gewesen sein. Das Auto war schwarz und -" Sie stoppte abrupt und wandte den Blick auf etwas, das hinter mir stand. Oder vielmehr auf jemanden, der hinter mir stand.
Ich spürte heißen Atem in meinem Nacken und griff schnell wieder nach dem Pfefferspray, doch bevor ich meine Hand danach ausstrecken konnte, wurde mein Arm gepackt und mit voller Kraft auf meinen Rücken gedreht. Augenblicklich schoss ein unglaublicher Schmerz in mir hoch, der mir Tränen in die Augen trieb. Mein Puls setzte für einen Moment ganz aus, nur um im nächsten schneller als jemals zuvor wiedereinzusetzen.
„Ich schwöre, ich habe nichts erzählt!", beteuerte die Frau ängstlich und ich betete, dass derjenige hinter mir nicht gehört hatte, wie sie mir eben doch Informationen gegeben hatte. Diese Frau musste schon genug leiden.
„Geh", knurrte die Gestalt hinter mir, die ich nun als Mann identifizieren konnte. Fast schon fluchtartig drehte die Frau sich um und lief einige Schritte auf die anderen zu, nur um sich mit einem gleichgültigen Gesichtsausdruck wieder der Straße zuzuwenden. Ich war allein, schutzlos ausgeliefert - wobei, so schutzlos war ich dank meines Selbstverteidigungskurses gar nicht.
Das Adrenalin strömte durch meinen Körper und in meinem Kopf gab es nur einen einzigen Gedanken: Ich musste hier schleunigst weg. Mein logisches Denkvermögen hatte sich längst verabschiedet und so hielt ich meine nächste Bewegung tatsächlich für eine clevere Idee. Ohne großartig über mögliche Konsequenzen nachzudenken, ging ich einen Schritt nach hinten und stand somit so nah an dem Mann, dass kein Blatt mehr zwischen uns gepasst hätte. Dann trat ich mit aller Kraft mit meinen Absätzen auf den linken Fuß des Mannes.
Die erwünschte Wirkung blieb aus. Statt seinen Griff zu lockern, lachte er nur auf und packte meinen anderen Arm. Ich spürte, wie er einen Schritt zurückging und meinen Arm sodann im nächsten Augenblick in einem unnatürlichen Winkel nach unten drückte. Um mich vor einem Bruch zu schützen, blieb mir nichts anderes übrig, als zischend in die Knie zu gehen. Das minderte die Schmerzen, machte sie jedoch nicht einmal ansatzweise erträglich.
„Was willst du hier?" Der Schmerz vernebelte all meine Sinne und Gedanken, machte mich beinahe handlungsunfähig - und führte zu einem weiteren Fehler. „Ich wollte meine Bewerbungsunterlagen abgeben." Ein fast schon animalisches Knurren war die Reaktion des Mannes und in der nächsten Sekunde traf sein Knie meinen Rücken. Nur sein fester Griff, der meine Arme umschloss, hinderte mich auf die möglichst schmerzhafteste Weise daran, mit dem Gesicht auf dem Boden zu landen.
Er würde mich umbringen.
„Ich kann dich gern zu meinem Boss bringen, wo du dein Talent beweisen kannst." Er drehte meinen linken Arm noch ein Stück weiter und ich hörte ein leises Knacken, das mit Sicherheit nichts Gutes bedeutete. Mein Kopf begann aufgrund der Schmerzen zu dröhnen und die Tränen legten einen Schleier über meine Sicht.
Das war mein Ende.
Der Mann beugte sich zu mir herunter, ohne meine Arme loszulassen. Ich spürte seinen Oberkörper an meinem Rücken und seinen heißen Atem an meinem Ohr, der Übelkeit in mir aufsteigen ließ. „Du hättest nicht herkommen sollen", flüsterte er mir zu.
„Hey! Lassen Sie die Frau los!" Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte mich, als ich die mir bekannte Stimme eines weiteren Mannes hörte. Sofort ließ der Mann hinter mir mich los und ich landete auf dem kalten, dreckigen Boden.
„Wir haben uns nur unterhalten", beteuerte er und ich spürte, wie er sich einige Schritte von mir entfernte. Langsam rappelte ich mich auf, doch meine Beine zitterten so sehr, dass ich wieder auf die Knie sank. Bereits im nächsten Augenblick wurde ich von jemandem hochgezogen.
„Na klar. Sie sollten froh sein, dass ich nicht mehr im Dienst bin!" Während Hayden ihre Hand stützend um meine Hüfte gelegt hatte und mich so zu dem Wagen begleitete, fiel mein Blick auf Peyton Scott, der seine Uniform nicht mehr trug, aber dennoch eine Waffe in der Hand hielt.
Im Anschluss musterte ich den Mann, der mich vorher fixiert hatte. Er trug einen schwarzen Anzug und machte der Bezeichnung Hüne tatsächlich alle Ehre. Mit seinem bohrenden Blick verfolgte er jede meiner Bewegungen und selbst nachdem Hayden mich erfolgreich ins Auto gebracht hatte, spürte ich seinen mörderischen Blick noch auf mir.
„Einen schönen Abend noch", wünschte der Mann mir, ehe Hayden die Tür zuschlug und die getönten Scheiben mich von den Blicken meines Angreifers abschirmten. In der nächsten Sekunde kehrte der Schmerz in meinen Arm zurück, mit einer Wucht, die mich aufschreien und die Tränen zurückkehren ließ. Meine beste Freundin, die mittlerweile ebenfalls im Auto saß, drehte sich zu mir um. Ihren Blick konnte ich nicht so eindeutig lesen wie sonst: Entweder wollte sie mich umbringen oder ins nächste Krankenhaus fahren, um mich im Anschluss tagelang zu bemuttern.
„Das war eine beschissene Idee, Sophia."
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