The Shadow's Bride
Ein dumpfes Geräusch erklang, das auf dem einsamen Terrassendach noch viel brutaler klang als alles was Milo in seinem Leben bisher vernommen hatte. Die Zigarette, die sich der Psychiater bis eben noch an die Lippen führen wollte, lag nun etliche Meter neben ihnen. Dort, am Rande des Daches, wo es steil nach unten ging. Wo nur harter Beton wartete. Raymond hielt sich die Nase, während er sich langsam wieder aufrichtete. Sein Kopf war bei Milos Schlag regelrecht nach hinten gesprungen. Nun lief dunkelrotes Blut zwischen seinen Fingern hervor, während er sein Nasenbein hielt, das schrecklich pochte. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er richtete seinen Blick starr auf Milo.
Und Milo starrte zurück. Seine Augen wirkten immer noch wutentbrannt, aber nicht länger so wild, wie die einer Schlange. Der Jüngere hielt sich die Hand bedächtig. Auf den Knöchel zog sich eine zarte Spur von Blut entlang. Vermutlich teils das von Raymond, teils Milos eigenes.
Er hatte wirklich einen ordentlichen Haken drauf. Manchmal vergaß Raymond ganz, dass Milo Inspektor war und eine sportliche Grundausbildung hatte absolvieren müssen. Es war also alles andere als verwunderlich, dass er – obwohl er solch eine Bohnenstange war – ihm so geschickt eine verpassen konnte.
„Du hast mir die Nase gebrochen.", es war weniger ein Vorwurf, mehr eine Feststellung, die Raymond machte, während er vorsichtig sein Nasenbein abtastete und schließlich die Stelle fand, die herausgesprungen war.
Milo wartete bis das Knacken von Raymond, der sein Nasenbein wieder einrenkte, vorbei war und wägte anschließend ab, ob die Vernunft mittlerweile wieder Einzug in den Psychiater gefunden hatte, oder ob er lieber sicherheitshalber nochmal zuschlagen sollte.
Schließlich entschied er sich für die goldene Mitte: eine passiv-aggressive Antwort.
„Das hast du verdient. Du kannst dich glücklich schätzen, dass es nur bei der Nase geblieben ist.", erwiderte er, „Zumindest vorerst."
Der Psychiater brachte ein raues Lachen hervor und ließ schließlich die blutige Hand sinken. Die dunkelrote Flüssigkeit floss daraufhin unaufhaltsam sein Philtrum herunter, über seine Oberlippe, wovon sie auf seine Unterlippe tropfte und schlussendlich in kleinen Rinnsalen von seinem Kinn auf das halb geöffnete weiße Hemd fiel. „Vermutlich habe ich das.", stimmte Raymond zu.
Milo, der seinen Freund mit zusammen gezogenen Brauen gemustert hatte, schnaubte entrüstet und wendete den Blick ab. Zitternd holte der Jüngere Luft.
„Du hast mir Angst gemacht, Ray. Was sollte das?", fragte er schließlich mit erstickter Stimme.
„Das wollte ich nicht, vergib mir."
Der Privatdetektiv musste sich hart auf die Unterlippe beißen, um den anderen nicht anzufahren. Mit unterdrückter Wut in der Stimme, erhob er erneut das Wort. „Entschuldigungen machen es nicht ungeschehen.", er zwang sich dazu den Blick erneut zu Raymond anzuheben und erwiderte den starren Blick seines Freundes.
Der Ältere wäre beinahe zurück gezuckt, als er die von tiefer Trauer gezeichneten Augen Milos sah. Sie wirkten wie der letzte Aufschrei eines gerodeten Waldes. Und auch wenn Raymond deutlich erkannte mit welchem Durchhaltevermögen der Andere versuchte wütend zu bleiben, so verrieten die Augen die unendliche Trauer, die tatsächlich hinter seiner Mauer aus Weißglut stand.
Erst jetzt wurde Raymond sein Fehler erst so richtig bewusst.
„Meine Medikamente wirken nicht mehr.", rückte der Psychiater schließlich mit der Wahrheit heraus. Raymond hatte gedacht, dass es ihn mehr Überwindung kostete, Milo dies zu offenbaren. Dass seine Stimme zittern würde oder er zumindest ein Flauheitsgefühl in seiner Magengegend spüren würde, den Adrenalin-kick während er auf eine Reaktion seines Freundes wartete. Doch Raymond spürte nichts von alledem und genau das war das Problem. Es war als hätte sich ein Schleier aus purem Eis über sein Herz gelegt und so sehr wie Milo ihn berührte, es schien einfach nicht schnell genug aufzutauen und der Psychiater hatte das Gefühl, dass sich eher eine Eiszeit anbahnte, als irgendetwas anderes. Stumm blickte er in die Augen des Privatdetektivs über die sich ein dunkler Schatten gelegt hatte.
Milo hatte die blassen Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst und wirkte so, als hätte man ihm gerade das Ende der Welt offenbart. Es war seltsam, dachte Raymond, dass Milo so tiefe Gefühle für ihn entwickelt hatte, dass er diesen ganzen Mist immer noch ertrug. Er hatte ihn in ein Verbrechen hineingezogen, aus welchem Milo ihn anschließend heraus gezogen hatte und jetzt war er dennoch kurz davor dieselben Fehler erneut zu begehen, obwohl er natürlich ganz genau wusste, dass nichts daran richtig war. Doch er konnte die Zwangsgedanken, die unermüdlich auf ihn einflossen, einfach nicht unterdrücken, egal wie sehr er es auch versuchte.
„Seit wann?", kam schließlich die Antwort des Kleineren.
„Seit ungefähr zwei Wochen. Ich habe die Dosis erhöht, so lange bis ich sie nicht mehr erhöhen konnte. Wenn ich noch mehr nehme..."
Lautlos schnappte Milo nach Luft. Er hatte sich in Sicherheit gewogen, geglaubt, dass sie endlich der Dunkelheit entkommen waren, doch während er voller Hoffnung hinauf zur Sonne geschaut hatte, hatte er völlig vergessen einen Blick nach hinten zu werfen. Raymond war nie völlig aus seiner Dunkelheit heraus gekommen.
„Ich bin krank, Milo. Ich leide an einer der stärksten Zwangsstörungen. Ich bin fremd gefährdend. Und das war schon immer so, man kann mich nicht umpolen. Ich werde es wieder tun."
Milo spürte wie sich sein Brustkorb zuschnürte, das schmerzhafte Ziehen, dass durch seinen Kiefer zog – eine Erinnerung seines Körpers, dass er schon viel zu lange und viel zu stark, die Zähne aufeinander biss – und er spürte das lautlose Schluchzen, dass seinen Körper erschütterte.
„Du kannst mich nicht retten, Milo. Es tut mir so schrecklich leid."
„Hör auf!", Milo hätte gerne wütend geklungen, doch seine Stimme klang in seinen eigenen Ohren mehr weinerlich als alles andere. Er war aufgesprungen und hatte sich voller Verzweiflung einige Schritte von dem Anderen entfernt. Milo spürte den Schmerz in seinem ganzen Körper.
Dieses Gefühl, wenn man so am Boden zerstört war, dass man nicht einmal mehr weinte. Der eigene Körper erzitterte bloß durch lautlose Schluchzer, die einen so stark durchfuhren, dass man nicht einmal mehr Luft bekam.
„Es muss doch irgendetwas geben. Irgendetwas muss ich doch tun können.", beharrte der Kleinere schluchzend.
Doch Raymond sah ihn so hoffnungslos an, dass schließlich doch die Tränen aus seinen Augen traten. Sie liefen über seine Wangen und über sein Kinn, so unermüdlich als hätte jemand in ihm einen Schalter umgelegt, der Milos innerlichen Damm gesprengt hatte.
„Obwohl du all diese brutalen, grotesken Sachen gemacht hast, habe ich dich dennoch stets bewundert! Ich habe dich verteidigt, an dich geglaubt und dir geholfen. Ich habe mich für dich strafbar gemacht, meine Arbeit, meine Karriere, mein gesamtes Leben habe ich für dich aufs Spiel gesetzt.", jetzt sprudelten die Worte nur so aus dem Jüngeren heraus. Milo fühlte sich, als würde er mitten im Eismeer treiben und versuchen sich mit letzter Kraft irgendwie über Wasser zu halten.
„Ich habe alles für dich riskiert!", fuhr er den Größeren, der immer noch vollkommen emotionslos und ruhig einige Meter vor ihm saß, an. „Weil ich dich trotz allem irgendwo bewundert habe. Du warst die Verwirklichung der Selbstjustiz, das Sinnbild der Gerechtigkeit. Du hast Mörder vor ihr gerechtes Urteil gestellt, wohl wissend, dass dies falsch war, moralisch verwerflich und vermutlich auch bizarr. Doch du tatest es trotzdem, weil es getan werden musste!"
Milo spürte wie sein Herz mehrere Schläge aussetzte, wie sein Blut in Wallungen geriet bei dem Versuch irgendwie zu dem Anderen durchzudringen.
„Aber all diese guten Absichten, die ändern nichts daran, dass es letzten Endes falsch war. Ein Mord, Ray, bleibt ein Mord. Egal wie nobel die Absichten dahinter sind. Ich habe dir die Möglichkeit eröffnet, dich von diesem abscheulichen Verbrechen frei zu sprechen und du beschließt eigenhändig zurück zu gehen? Zurück in diese bösartige Dunkelheit?"
Milo rieb sich vollkommen aufgelöst die Augen. Er sprach so enthusiastisch, dass er kaum Luft bekam. Es fühlte sich an, als könnte sich sein Körper nur auf eine Sache konzentrieren: Raymond zu überzeugen und dabei vergaß er sogar das Atmen. Sein Inneres war bis zum Zerreißen gespannt und Milo fuhr sich bei dem hohen Stresslevel herb durch die widerstandsfähigen Locken.
„Das kannst du mir nicht antun. Du bist nicht länger allein in die Sache verwickelt." Milo suchte verzweifelt den Blick des Anderen, doch entgegen seiner Hoffnungen Verständnis zu erblicken, sah er bloß Verwirrung. Um Raymond tanzten die Lichter der Straßenlaternen höhnend und der Jüngere glaubte abertausende amüsierte Schatten hinter dem Psychiater zu erblicken. Die ihn allesamt auslachten.
„Du ziehst mich mit in die Dunkelheit.", beendete er schließlich seine Ausführungen mit nur mehr einem Hauchen. Mittlerweile hatten die tanzenden Lichter und Schatten eindeutig Gestalt angenommen, sie lachten, flüsterten und verspotteten Milo und als einer auf ihn zuraste, schloss der Dunkelhaarige erschrocken die Augen.
Als er sie wieder öffnete, saß er wieder vor Raymond. Genau an demselben Ort, wie vor seiner Standpauke. Der Psychiater hielt sich die Nase, die stark blutete. Raymond sah schrecklich besorgt aus, doch erschauernd musste Milo feststellen, dass der Größere sich nicht um sich selbst sorgte. Er sah Milo vollkommen entsetzt an.
„Was ist gerade passiert?", fragte Milo mit heiserer Stimme.
Raymond wischte sich das noch immer laufende Blut unter der Nase weg und schniefte.
„Das sollte ich dich fragen, du hast mich aus heiterem Himmel einfach geschlagen."
Um die Stimmung etwas aufzuheitern lachte Raymond leise. „Hab ich was Falsches gesagt?", fragte er scherzhaft.
Doch als er aufsah und das Gesicht des Jüngeren erblickte, lief ihm ein eiskalter Schauer den Rücken herunter.
Zitternd öffnete Milo den Mund.
„Meine Wahnvorstellungen. Sie sind zurück. Stärker als jemals zuvor."
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