Table for Two
„Ja, ich möchte einen Mörder melden.", die Stimme am anderen Ende der Leitung war heiser und belegt, als kostete es Chester enorme Kraft die Wörter zu formulieren. Weddington warf seiner Kollegin einen entrüsteten Blick zu, woraufhin sich die Verwunderung auf Jones Gesicht nur noch verstärkte. Sie formte mit den Lippen lautlos den Satz: ‚Wer ist das? ', offensichtlich hatte sie also nicht den Kontaktnamen auf dem Display aufblitzen sehen. Weddington seufzte kaum hörbar, jetzt war es eh schon zu spät, vor wem oder was sollte er Chester noch schützen? Also legte er das Smartphone vor sich auf den Tisch und betätigte den Lautsprecherknopf. Vielleicht gab es für den ganzen Wirbel ja auch eine normale Erklärung. In der Vergangenheit war es schon des Öfteren vorgekommen, dass Chester ihn mitten in der Nacht – meist in verschiedensten Rauschzuständen – angerufen und ihn mit allen möglichen Gedankenszenarien bombardiert hatte. Zwar hatte Chester Abstinenz geschworen, aber vielleicht war er rückfällig geworden? Doch tief in seinem Inneren wusste Weddington, dass dahinter noch mehr steckte. Chester wiederholte seinen Satz – diesmal leiser, als wäre er kurz davor einzuschlafen, jetzt wo auch Jones vernommen hatte, um was es ging, weiteten sich ihre Augen in stummer Überraschung. Weddington wunderte sich, dass er keine Spur Freude in ihrem Gesicht erkannte, dabei war Chester gerade kurz davor ihre Theorie zu bestätigen, doch anstatt Stolz zeigte sich Besorgnis in Jones' Augen. Ihre Iris wirkten beinahe weiß.
Als am anderen Ende der Leitung auf einmal krachende, dumpfe, donnernde Geräusche ertönten und laute, schwere Schritte, die darauf deuteten, dass Chester nicht allein war, verwarf Weddington die Theorie, dass Chester ‚bloß' einen Rückfall hatte und im Rausch wirre Sachen stammelte, stattdessen schob er seinen Stuhl zurück und griff bereits zu seiner Jacke.
„Chester? Was ist los?", fragte Weddington besorgt. Auch Jones war nun in Bewegung und wühlte in Hektik in ihrer Handtasche, bis sie ihre Autoschlüssel gefunden hatte und mit einer Handbewegung Weddington bedeutete ihr zu folgen. Mittlerweile war es am anderen Ende der Leitung verdächtig still geworden. Weddington und Jones konnten eine Art leises Tropfen vernehmen, das einen solch unrhythmischen Takt aufwies, dass es unmöglich von einem Wasserhahn stammen konnte. Der Gedanke daran, was die wirkliche Quelle hinter dem Tropfen sein könnte, sorgte dafür, dass kalte Schauer den Rücken Weddingtons herunter liefen. Die schwere Atmung Chesters hörte sich auch nicht mehr länger so an, als wäre er kurz vorm Einschlafen, sondern eher röchelnd, als hätte er sich verschluckt. Wer auch immer sich in dem Raum mit Chester befand, er war offensichtlich stehen geblieben und bemühte sich darum keine Geräusche zu machen. Aus dem Telefon klang ein leiser, röchelnder Schmerzenslaut, mittlerweile hatten Weddington und Jones fluchtartig das Büro verlassen und rannten durch die Gänge in Richtung Parkplatz.
„Milo? Geht es dir gut? Antworte mir!", Weddington spürte, wie ihm vor Sorge das Herz schwer wurde. Der Junge bedeutete ihm mehr, als er gedacht hatte. Er hatte nie einen Sohn, doch für Chester...für Milo hatte er vom ersten Moment an Gefühle gehabt. Väterliche Gefühle.
Er erinnerte sich noch gut an ihre erste Begegnung. Es war ein einfacher Mord aus Leidenschaft gewesen. Damals war es noch strittig gewesen, ob es sich bloß um Totschlag oder Mord gehandelt hatte. Der Zeuge, der das damalige Opfer gefunden hatte, hatte sofort Scotland Yard angerufen und dennoch - als Weddington und seine Kollegen an dem Tatort ankamen, saß inmitten der noch ungesicherten Spuren ein Siebzehnjähriger Milo. Er hatte einfach nur auf die Leiche gestarrt und war anschließend vom Sicherheitspersonal abgeführt wurden. Als er dabei an Weddington vorbei geführt wurde, hatte er bloß gesagt: „Mord aus Leidenschaft." und das hatte gereicht. Der Chief Superintendent war schon immer offen für neue Taktiken gewesen. Er wollte damals Scotland Yard neu formieren und lebte für den Gedanken einer Revolution. Jones war damals der erste Schritt in die richtige Richtung gewesen, mit ihrer unkonventionellen Ermittlungen und nach ihr folgte Milo. Man hatte ihn belächelt, gesagt er wäre doch bloß ein Junge, der ein wenig Aufmerksamkeit brauchte und Detektiv spielen wollte, doch Weddington hatte Potential gesehen. Und es hatte sich ausgezahlt ihn auszubilden. Hätte er nur damals schon gewusst, dass er dabei einen gewaltigen Preis zahlte. Milo Selbst. Jetzt – im Nachhinein – zeigten sich erst die Auswirkungen und Weddington konnte die gewaltigen Schuldgefühle, die er verspürte nicht einmal mehr greifen.
Während Jones und er ins Freie sprinteten und auf das Auto von Jones' zu hielten, war es am anderen Ende der Leitung immer noch ruhig. Weddington hörte nur die schweren Schritte erneut, die eindeutig nicht von Milo stammten, er wollte gerade etwas sagen, da ertönte ein lautes Knallen und im nächsten Moment brach die Verbindung ab. Jones sah ihren Vorgesetzten mit zusammengezogenen Brauen skeptisch an und warf sich förmlich auf den Fahrersitz.
„Beeilen wir uns, bevor es zu spät ist.", kommentierte der Chief Superintendent bloß, während Jones den Zundschlüssel umdrehte und Weddington bereits seine Mitarbeiter anfunkte und ein Team bereitstellen ließ.
Er raste über den Highway in Richtung St. Albans. Raymond hatte nicht wirklich lange darüber nachgedacht, wo genau er hinfahren sollte, letzten Endes war es erst einmal am wichtigsten aus London herauszukommen. So weit weg von Scotland Yard wie möglich, das würde ihm Zeit verschaffen. Zeit um seine nächsten Schritte zu planen. Raymond hatte gewusst, dass es irgendwann einmal so weit kommen würde, dass er in Hektik die Stadt verlassen würde und anschließend das Land, im besten Fall irgendwo untertauchen, von neuem beginnen...doch er hätte nie gedacht, dass das Spiel so schnell zu Ende gehen würde und das nicht eine der Spielfiguren auf dem Schachbrett die Schuld traf, sondern sein Mitspieler. Er hätte nie gedacht, dass Milo sich selbst anzeigen würde.
Raymond hatte das gesamte Spiel geplant. Anfänglich hatte er Milo noch als eine Art Anker gesehen, derjenige der es ihm ermöglichen würde Scotland Yards Schritte zu erkennen, noch bevor sie einen Schritt taten. Es war fast schon zu einfach gewesen, wenn er jetzt einmal im Nachhinein darüber nachdachte: Weddington hatte ihm den entscheidenden Rettungsring quasi selbst zugeworfen, indem er den Jungen in seine Obhut gegeben hatte. Und das Milo dann auch noch die Empathie-Störung hatte, was es Raymond fast schon zu einfach gemacht hatte, mit der Anwendung der richtigen Therapie ihn an sich zu binden. Alles war nach Plan gelaufen.
Bis es auf einmal nach hinten los gegangen war. Raymond war kein Unmensch, er hatte nie geplant Milo für seine Taten verantwortlich zu machen, anfänglich wollte er den Jungen nur als eine Art interne Wanze um besser von den Plänen Scotland Yards Bescheid zu wissen. Doch wie sich herausgestellt hatte ließ Milo ihn fühlen. Er hatte ihn verändert. Ob zum Guten oder zum Schlechten war fraglich. Durch Milo war Raymond aufgetaut. Der Jüngere war wie ein Verstärker für sein Temperament und seine Gefühle. Nie im Leben hätte es der Psychiater für möglich gehalten, dass er einmal so fühlen könnte. Er hatte stets gedacht er sei psychisch auf Grund seiner Zwangsstörung einfach nicht in der Lage dafür, doch Milo hatte etwas an sich das Raymonds Inneres durch mürbte, wie ein Fluss der Jahrzehnte durch ein Gebirge floss und schließlich aus hohen und spitzen Bergen ein tiefes und ruhiges Tal formte. Milo war wie ein Katalysator, doch offenbar konnten sie einander zwar Gefühle schenken, aber keine psychische Sicherheit.
Raymond hatte Milos Wahnvorstellungen verstärkt, das wusste er eindeutig und bei diesem Gedanken hatte er das Gefühl kleine Messer würden sich in seinen Oberkörper hinab sinken. Und Milo hatte wiederum seine Zwangsstörungen verstärkt. Sie taten dem Anderen nicht gut und doch brauchten sie einander, denn Raymond hatte sich noch nie in seinem Leben zu Jemandem so hingezogen gefühlt. Noch nie hatte er sein eigenes Leben dermaßen für das von jemand anderen zurück gestellt.
Es fühlte sich an als sei man allergisch auf das was man am dringendsten benötigte.
Raymond warf einen panischen Blick – der zehnte innerhalb einer halben Minute – auf den Beifahrersitz, auf dem Milo wie ein Häufchen Elend, zusammengesunken und die Beine unter dem Körper angezogen – lungerte.
Raymond hatte die Wunden nur oberflächlich versorgen können. Sie hatten keine Zeit um die tiefen Schnitte sorgfältig zuzunähen. Scotland Yard war nach Milos Anruf sicherlich schon alarmiert und in wenigen Minuten würden sie eins und eins zusammen zählen und heraus finden, wer hinter dem Maskenmörder steckte.
In der Hektik hatte Raymond die Schnittwunden seines Freundes nur mit Druckverbänden versorgen können, doch der weiße Stoff war mittlerweile schon durchtränkt mit scharlachrotem Blut und an den besonders tiefen Stellen, da wo Milo die Aorta angeschnitten hatte, lief das Blut in kleinen Rinnsalen unter dem weißen Stoff hervor, als wolle es Raymond verspotten.
Der Jüngere hatte die Augen geschlossen, sein Gesicht war schmerzverzerrt und unter seinen Lidern befanden sich tiefe Schatten. Raymond hatte das Gefühl, dass er sich beim Anblick von Milo innere Verletzungen zufügte.
Als er mit zweihundert Sachen über den Freeway bretterte und einige Straßenschäden das Innere seines Q7 durchrüttelten, gab Milo einen herzzerreißenden Schmerzenslaut von sich. Das erste Geräusch von ihm, seit einer halben Stunde.
Sofort legte Raymond besorgt eine Hand auf den Körper des Jungen. Milo fühlte sich fragil an, nur weiches – mittlerweile blutverklebtes - Haar und harte Knochen, als bestände er aus Muschelschalen und Löwenzahn-Flaum, zusammengehalten durch einen Seidenfaden.
„Milo halte bitte durch, hörst du? Wir müssen es nur nach Grays schaffen. Sind wir erst mal auf dem Wasser, sind wir sicher."
Aber Raymond war nicht sicher ob er versuchte Milo oder sich selbst mit seinen Worten zu beruhigen. Vielleicht eine Mischung aus beidem.
Er wusste, dass er seine eigene Angst zurück stellen musste. Dass er rational denken musste, für sie beide. Aber man konnte mit der eigenen Angst nicht reden, konnte ihr nicht die Wahrheit erzählen, damit sie verschwand: Angst lebte in den Knochen.
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