Symphony No. 7 in A major op. 92
Der Privatdetektiv spürte wie ihm die Luft geradewegs aus den Lungen gepresst wurde, als er hart auf dem feuchten Steinboden aufkam. Auch wenn er vor Angst eigentlich hätte zittern müssen - schließlich befand er sich in einem unterirdischen Bunker, mit Gott-weiß-wem oder sollte er besser was sagen? Denn was auch immer ihn von der Leiter gezehrt hatte, musste unglaubliche kognitive Fähigkeiten aufweisen. Dieser Jemand hatte nicht nur zuvor die gesamte Leiter erklommen und war dann - während Milo die Tür öffnete - blitzschnell wieder nach unten geklettert, nein - er musste diesen Angriff außerdem geschickt geplant haben. Das Klopfen - als Anlockungsruf - das Zurückziehen in die Dunkelheit und schließlich der lautlose Angriff von hinten.
War er direkt in die Falle gegangen? Aber das war doch nicht möglich, der Mörder saß in Untersuchungshaft, in diesem Bunker sollten nur Leichenteile sein. Milo konnte einfach nicht anders als schmerzerfüllt aufzustöhnen, als seine Schulter regelrecht zu pochen begann. Der Dunkelhaarige riss seine Augen auf und zwang sich trotz der Schmerzen aufzusetzen. Er musste seinen Angreifer ausfindig machen, bevor er ihn endgültig ausschaltete. Milo presste seine zitternde Hand auf die Wunde und spürte bereits Nässe, die den gesamten Saum seines Rollkragenpullovers langsam, aber sicher tränkte. Würde er mehr sehen als tiefe Schwärze könnte er bestimmt gerade sein eigenes rubinrotes Blut begutachten. Milo ließ seine Hand sinken und überprüfte den Boden auf Unebenheiten, irgendetwas was er als Waffe verwenden konnte, doch in seiner Hektik arbeiteten sich bloß kleine Steinchen in seine Handflächen. Doch am schlimmsten war die Stille, die sich wie ein Lautsprecher auf seine Angst auswirkte. Milo hörte seinen eigenen rasselnden Atem wie eine Verhöhnung seiner Angst und entschlossen dieser gesamten Situation wenigstens etwas entgegen zubringen öffnete er den Mund, um der erdrückenden Stille endlich die Stirn zu bieten. Doch seine Worte sollten nie zu Tage kommen, denn er wurde unterbrochen, von nichts anderem als kaltem Metall an seiner Kehle. Milo spürte einen süßen Schmerz, als sich die Messerspitze langsam in seine Haut bohrte und daraufhin warmes Blut seinen Hals hinunter lief und den ohnehin schon roten Saum des Rollkragenpullovers mit Farbe tränkte. Erschrocken stieß der Neunzehnjährige die Luft aus. Er hatte gar nicht gehört, wie der Angreifer sich bewegt hatte. Doch nun spürte er die Präsenz hinter sich ganz deutlich. Er spürte den warmen Atem an seinem Nacken, wie den letzten Hauch des Lebens. Wie ironisch...
Doch während er bereits mit allem innerlich abgeschlossen hatte, was ihm erstaunlich einfach fiel - er war sich nicht sicher, ob das nun gut oder schlecht war, da vernahm er stockenden Atem an seinem Ohr. Und die Messerspitze stoppte, der Druck verebbte und die Klinge verweilte an ihrem Platz. Der Jemand hinter ihm hatte Angst. Diese Erkenntnis traf Milo wie einen Blitz. Er hatte die gesamte Zeit gedacht, dass - wer auch immer ihn von der Leiter gezogen hatte - sein Feind war. Nicht einen Gedanken hatte er daran verschwendet, dass es vielleicht auch genau anders herum war. Dass dieser Jemand dasselbe von ihm dachte, dass er oder sie sich einfach nur verteidigte, weil er oder sie dachte, derjenige, der ihn oder sie in dieses Drecksloch geworfen hatte, zurückkehrte. Es war Notwehr!
Milo hob langsam seine noch immer zitternde Hand an. Er hatte eine Theorie aufgestellt, nun galt es sie in der Praxis umzusetzen. Vorsichtig näherte er sich mit seiner Hand der Stelle an seinem Hals, wo er das Messer vermutete. Milo tat dies so langsam und umsichtig als würde er sich einem wilden Tier nähern, das er um keine Umstände verschrecken wollte. Schließlich spürte er es: Die warme Haut eines anderen Menschen, was Milo beinahe surreal vorkam, wo sie sich doch in einem Loch befanden, dass so weit entfernt von Menschlichkeit war, wie sonst irgendwas. Langsam legte er seine Hand um die Hand seines Angreifers, woraufhin er hinter sich einen deutlich überraschten Laut wahrnahm. Sie ist weiblich, schoss es ihm mit einmal durch den Kopf, denn ihre Stimmfrequenz war sehr hoch, beinahe... kindlich?
Milo schwante bereits Übles. Die Hand des Mädchens fühlte sich rau an, als wäre sie mit Narben übersät und sie zitterte so stark, dass die Messerspitze an Milos Hals beängstigend schnell an seiner Haut herum rutschte und kleine Abschürfungen hinterließ. Die blasse Haut des Privatdetektivs wurde dunkelrot gefärbt.
"Ganz ruhig... ", begann Milo vorsichtig und malte mit dem Daumen kleine
Kreise auf den Handrücken des Mädchens, um sie zu beruhigen. "Ich will dir nicht weh tun, ich bin von der Polizei. Wir sind hier um dich zu retten."
Der Dunkelhaarige bemühte sich um eine ruhige und ausgeglichene Stimme, eine Stimme ganz so wie sie Raymond besaß. Auch wenn ihm das alles andere als leicht fiel, die Schmerzen seiner Wunden benebelten sein Denkvermögen.
"Polizei?", kam es stockend hinter ihm, das erste Wort, das seine Angreiferin mit ihm wechselte: Der Beweis, dass sie seine Sprache sprach und mit wem er reden konnte, mit dem konnte er auch verhandeln. Die Stimme des Mädchens klang ausländisch, sie stolperte über Vokale und Silben. Sie kam nicht von hier. Außerdem klang ihre Stimme schrecklich belegt und von Angst gezeichnet, doch sie schien die Bedeutung Milos Worte zu verstehen, denn der Druck der Messerspitze an dem Hals des Neunzehnjährigen ließ merklich nach.
"Du von Polizei und hier für mich?", fragte sie mit belegter Stimme nach, als wollte sie ganz sicher sein, als könnte sie es kaum glauben. Milo wusste nur zu gerne, wie lang sie schon in diesem Drecksloch saß, doch er brachte es nicht übers Herz sie noch vor der Befragung mit Fragen zu bewerfen.
"Beweis, dass du von Polizei?", ertönte die dünne Stimme hinter ihm wieder, das Mädchen musste völlig verängstigt sein. Jetzt erkannte Milo auch den Akzent seiner Angreiferin, es handelte sich um einen vietnamesischen Akzent. Sofort schossen Worte wie: Menschenhandel, Dark-Net und Verschleppung durch Milos Kopf.
"Okay, ich habe Beweise. Ich besitze einen Ausweis von Scotland Yard. Wenn du mich los lässt, dann kann ich ihn dir zeigen.", berichtete Milo. Ein Fehler, wie sich nur kurz darauf herausstellte, denn der Druck des Messers an seinem Hals verstärkte sich sofort, sodass ein weiteres Rinnsal von Blut seinen Hals hinunter lief.
"Was ist Scotland Yard?", fragte die junge Frau, der misstrauische Klang ihrer Stimme ließ Milo annehmen, dass sie nicht viele Jahre älter als er selbst war, sie verfügte über eine zierliche, beinahe kleinlaut wirkende Stimmlage.
"Eine Polizeibehörde, die größte über die England derzeit verfügt.", ganz langsam - um sie nicht zu verschrecken - führte Milo seine mittlerweile eiskalte Hand zu seinem Hosenbund um den daran befestigten Ausweis aus der Halterung zu lösen und ihr zu zeigen. Dann, mit der zweiten freien Hand, kramte er sein Mobiltelefon hervor und schaltete es an, damit es einen dämmrigen Lichtstrahl auf den Ausweis warf. Die Lichtquelle war zu klein und schummrig, außerdem stand das Mädchen immer noch hinter ihm, als dass er einen Blick auf sie hätte werfen können. Doch als sie mit der freien Hand nach dem Ausweis griff, konnte er wenigstens einen kurzen Blick auf ihren Arm werfen. Narben übersät und mit blauen Flecken, bestätigte dieser Milos nur seine ohnehin schon große Sorge um das Mädchen.
"Polizei? Cãnh sát?", durch die Aufregung in ihrer Stimme, kam ihr asiatischer Akzent umso deutlicher hervor. Milo sprach zwar nicht viel vietnamesisch, aber das verstand er. Es schickte sich einfach nicht, wenn ein Ermittler Londons - vor allem wenn er auch international agierte - nicht wenigstens einzelne Brocken, die mit seiner Branche zu tun hatten, verstehen und formulieren konnte.
"Du bist Hilfe?", fragte das Mädchen hoffnungsvoll und eifrig nickte der Neunzehnjährige.
"Genau, wir sind die Guten. Ich will dich retten. Verstehst du? Giai thoát."
Das Mädchen stieß einen erleichterten Ton aus, murmelte einige Sätze auf Vietnamesisch, die Milo zwar nicht verstehen konnte, die jedoch einen positiven Klang hatten und dann verschwand endlich das Messer an seinem Hals. Erleichtert stieß Milo die Luft aus, von der er sich nicht einmal im Klaren war, dass er sie angehalten hatte.
"Entschuldigung, für Verletzung."
Die Hand des Privatdetektivs wanderte automatisch an seinen Hals und tastete die frische Wunde ab. Der Riss in seiner Haut war zwar nicht tief, doch Milo war sich sicher, dass er später noch die Auswirkungen der Verletzung deutlich zu spüren bekommen würde. Er wusste nicht, ob das Messer gereinigt worden war und eventuell würde er eine Infektion davon tragen, doch jetzt hemmte das Adrenalin das meiste seiner Schmerzen. Als das Mädchen die Verletzung erwähnte, winkte er ab, auch wenn er sich nicht ganz sicher war, ob sie diese Geste in der Dunkelheit überhaupt ausmachen konnte.
"Ist schon in Ordnung.", versprach er und kaum hatte er den Satz ausgesprochen, ertönte über ihnen ein lautes, markerschütterndes Pochen. Milo zuckte regelrecht zusammen und das Mädchen hinter ihm stieß erschrocken die Luft aus.
"Du Lügner!", fuhr sie den Dunkelhaarigen zugleich an. Abwehrend erhob der Privatdetektiv seine Hände.
"Nein, hör mir zu: Das da oben ist die Polizei, das sind die Guten.", und als sie einen verständnislosen Ton ausstieß, fügte Milo schnell einen Satz hinzu, dessen er sich sicher war, sie würde es verstehen.
"Das sind meine Freunde."
Mit einem lauten Krachen wurde die Messingtür des Bunkers aufgerissen und der Innenbereich wurde so abrupt mit Licht durchflutet, dass es Milo in den Augen brannte. Doch wenigstens sah er sie jetzt: sie hatte lange, verfilzte Haare, die genauso dunkel waren, wie die Schwärze die sie bis vor einigen Sekunden noch umgeben hatte. Ihre Haut war rußbeschmiert und an vielen Stellen erkannte Milo Verletzungen.
Doch ihre Augen...ihre Augen übertrafen die Sonne in ihrer Helligkeit. Und Milo war sich sicher: so musste Hoffnung aussehen.
"Ban bè.", murmelte sie überwältigt.
Und aus irgendeinem Grund legte sich diese Hoffnung auch auf Milo. Vielleicht konnten Raymond und er, vielleicht könnten sie...
Ganz vielleicht würde alles gut werden.
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