Moonlight Sonata
Der Verhörraum war komplett weiß gestrichen und mit so vielen LED-Deckenlampen ausgestattet, dass man sich glatt vorkam als wäre man in einer Sonnenbank gefangen. Sie saßen an einem langen, schwarzen Holztisch, der mit vier Mikrofonen ausgestattet war, welche ihre Aufnahmen zu einzelnen Diktiergeräten sendeten. Man hatte Grace Ward wenige Stunden vor dem Sonnenaufgang buchstäblich aufgesammelt. Genauer gesagt hatte man sie unter einer der vielen Brücken, die sich über die Themse spannten, hervorgezogen. Ihre blonden Haare waren zu einem wilden Knoten zusammengebunden, aus dem sich etliche Strähnen gelöst hatten, die ihr wie ein wirrer Heiligenschein um den Kopf standen, da sich ihr Haar beim Trocknen gekräuselt hatte. Ihre Kleidung war verschmutzt und sie strahlte einen modrigen Algengeruch aus. Doch ihre Haltung war stärker als eh und je. Nichts war mehr von der einst schüchternen Praktikantin übrig. Vor Milo saß eine Frau, die in Selbstsicherheit gebadet hatte. Ward hatte ihre Hände auf dem Tisch ineinander verschränkt, kleine Risse zierten den gesamten Handrücken, inklusive der schlanken, langen Finger. Es waren Hände, die es nicht gewöhnt waren, fest zuzupacken, die Haut war weich und gab schnell nach. Sie hatte das Kinn nach oben gereckt und betrachtete den Privatdetektiv vor sich analysierend. Milo wirkte konzentriert, beinahe steif. Doch seine Hände, die in seinem Schoß mit dem Saum seines Kapuzenpullovers spielten, verrieten seine Nervosität. Milo hatte begonnen zu sprechen.
„Ich verstehe einfach nicht, was das soll! Sie sagten ich würde mit Chester gemeinsam das Verhör führen und dennoch stehe ich jetzt hier, außen vor!", Jones hatte sich aufgebracht von dem Einwegspiegel, der einen Einblick nur von einer Seite des Verhörraums gestattete, weg gedreht.
„Falls Ihnen das helfen sollte: ich bin auch im Regen stehen gelassen wurden.", warf Sutcliffe ein. Tatsächlich hatten sie das Verhör von Grace Ward zu dritt gestartet. Chester, Sutcliffe und Jones hatten auf die Hauptverdächtige im Mordfall von Jackson Lewis eingeredet, doch sie hatte geschwiegen, wie ein Grab. Schließlich, nach fast einer Stunde, hatte sie ihren Mund geöffnet um die Forderung zu stellen mit Chester allein zu reden, ohne eingeschaltete Mikrofone. Und Weddington hatte eingewilligt, selbstverständlich. Schließlich mussten sie wenigstens irgendetwas über den Fall in Erfahrung bringen und sei es bloß ein Motiv.
„Jones, bitte. Seien Sie professionell." Weddington wimmelte seine Kollegin mit einer abwertenden Handbewegung ab und nahm einen Schluck von seinem dritten Kaffee, den er dringend nötig hatte.
„Nein, da geht doch irgendetwas nicht mit rechten Dingen zu! Wieso will sie ungestört und ungefiltert mit Chester sprechen? Ich kann doch nicht die Einzige sein, der das spanisch vorkommt. Was ist wenn sie zusammen..."
Weiter kam sie nicht, den Sutcliffe hatte sich vor der jungen Inspektorin aufgebaut. Sein Gesicht war völlig entspannt und zeigte keine Spur von Missgunst, aber die Art, wie sein großer, sehniger Körper plötzlich vor ihr aufragte, hatte etwas Bedrohliches an sich. Wie eine Maus, die von einer Katze eingekesselt wurde.
Katzen fingen Mäuse auch zum Spaß, ohne sie anschließend zu verspeisen.
„Haben Sie schon einmal etwas in einer Wolke gesehen? Oder ein Gesicht in einem Astloch? Alle paar Monate erscheint ‚Jesus' den arglosen auf einer Scheibe Toast. Oder doch nicht? Menschen sind Tiere, die nach Mustern suchen. Tausende von Jahren hing unser Überleben davon ab, dass wir Muster in der Natur erkennen konnten, um Raubtiere zu erspüren, die sich in der Wildnis versteckten.", Sutcliffe blickte durch den Einwegspiegel und beobachtete Milo mit einem durchdringenden Blick, den Jones nicht im geringsten deuten konnte. „Und danach suchen wir auch jetzt noch, Jahrhunderte später. Wir suchen in jeder Wolke nach Gesichtern, als ob unser Leben davon abhinge. Unser Glaube daran, dass es ein Muster geben muss ist so stark, dass der menschliche Verstand die Teile zurückweisen wird, die ihm nicht passen. Wo der Pessimist hinter jedem Rücken eine Gefahr sieht, sieht der Optimist Freundschaft." Die dunklen Augen richteten sich nun wieder direkt auf Jones, die plötzlich das unbegründete Verlangen verspürte zurückzuweichen. Die Brünette hörte ihr eigenes Blut in ihren Ohren rauschen.
„Und darum sehen wir oft, wenn wir dem Zufall begegnen, eine Verschwörung."
Die Inspektorin hatte den Mund geöffnet, um etwas zu erwidern. Bestürzt stellte sie fest, dass sie keine Worte fand. Der Dunkelhaarige vor ihr warf ihr nun ein so spitzes Grinsen zu, dass Jones das Gefühl hatte, es würde sie schneiden. Scham, der zuvor durch ihre Adern geflossen war, da der Psychiater sie so bevormundete, wandelte sich jetzt in Empörung um und diese fing schnell Feuer. Heiße, lodernde Wut erfasste sie. Doch sie zwang sich dazu, sich nichts anmerken zu lassen. Sie wusste wie ihre Kollegen der Station über sie sprachen, tuschelten unter vorgehaltenen Händen, sie nicht ernst nahmen, weil sie zu temperamentvoll war, weil sie eine Frau war, inmitten von männlichen Detectives. Niemand nahm sie ernst. Sie schluckte schwer und es bedarf ihrer sämtlichen Kraft, sich zu besinnen und mit fester Stimme zu sprechen.
„Ich entschuldige mich für mein kindisches Verhalten, es war anmaßend. Wenn Sie mich nun entschuldigen würden." Sie blickte ihren Vorgesetzten mit gemischten Gefühlen an. Weddington erwiderte ihren Blick. Stolz zeichnete sich in seinen Augen ab.
„Weddington, Sutcliffe.", sie nickte den Beiden zum Abschied zu. Dann wendete sie sich ab, noch immer mit versteckter Wut, die ihr nun in den Augen brannte und sie schlug so schnell sie konnte den Weg zu der Damentoilette ein.
„Warum wollten Sie mit mir sprechen?", begann Milo und zupfte nicht vorhandene Fussel von seiner Hose. Grace lehnte sich gelangweilt zurück, sie wirkte kein bisschen beunruhigt, dass man sie geschnappt und aufs Revier geschleppt hatte.
„Ich dachte wir wären mittlerweile schon beim ‚Du' angekommen?", die Handschellen rasselten als sie die Arme gähnend über den Kopf streckte und sich wie eine Katze reckte.
„Es lenkt den Verdacht auf mich, wenn Sie...wenn du die Forderung stellst, unverkabelt mit mir zu sprechen."
Die feinen Augenbrauen Grace' fuhren nach oben. „So? Wieso sollte man dich denn verdächtigen, Milo Chester, Augapfel des Chief Superintendent? Etwa, weil man die Dunkelheit, die aus deinem Herzen strömt schon aus weiter Entfernung sehen kann?"
Bestürzt wich Milo zurück, als hätte sie ihn geschlagen. „Was redest du da?"
„Du und ich sind gleich, Schätzchen." Grace hatte sich aufgerichtet und Milo machte keine Anstalten sie daran zu hindern, als sie auf ihn zuschritt.
„Du möchtest wissen, wie ich es gemacht habe, oder? Jede Einzelheit. Wie ich ihm die Arterien durchtrennt, ihn langsam ausbluten und schließlich konserviert habe.", sie tat noch einen Schritt auf Milo zu. Der Dunkelhaarige konnte förmlich spüren, wie sich ihm die Nackenhaare bei jedem Wort von Grace aufrichteten. Durch seinen Kopf zuckten wilde Gedanken, wie Stromschläge, die ihm regelrecht Schmerz verursachten. Realen Schmerz. Milo ballte die Hände zu Fäusten, bis sich seine Fingernägel schmerzhaft in seine Handfläche bohrten. „Du hast seine Vergangenheit untersucht, stimmt's? Du hast mein Motiv erkannt. Du verstehst, was ich erreichen wollte?"
„Selbstjustiz.", antwortete Milo heiser. Es war als würde ihm mit jedem Schritt, den sie auf ihn zutat, die Luft aus den Lungen gepresst. Hinter Grace zeichnete sich der Schatten des gegenüberliegenden Aktenschranks ab und nahm langsam Gestalt an. Wie ein Virus breitete sich der Schatten durch den Raum aus und wurde immer länger und größer.
„Richtig. Ich räche mich für die armen Seelen, die Jackson Lewis drangsaliert hat. Ich würde es immer wieder tun, ihn Töten meine ich. Du etwa nicht? Wenn es nicht verpönt in unser Gesellschaft wäre, würdest du dann nicht auch das Messer erheben, gegen jene die es verdient haben?"
Der Schatten hinter Grace nahm Gestalt an, verdichtete sich und zerfiel wieder, loderte bedrohlich, wie die Flamme einer Kerze.
Grace war ihm nun so nah, dass ihr Atem seine Locken bewegte, wenn sie zu ihm sprach.
„Ich liebe dich, Milo Chester, für die Dunkelheit, die in dir wohnt, die heller strahlt als jedes Licht. Und du wirst mich lieben, für meine Dunkelheit, für das gemeinsame Dunkle, was uns verbindet."
Milo wich so abrupt zurück, dass der Stuhl auf dem er saß, bedrohlich kippelte. Der junge Detective sprang in dem Moment auf, in dem sich der riesige Schatten hinter Grace ein letztes Mal aufbäumte und ihn dann verschluckte. Milo stieß einen Schrei aus. Einen wortlosen Schrei, der höher und höher stieg, der ihm die Kehle aufschürfte und den Geschmack von Metall in seinem Mund spülte. Ein Schrei, als würde man ihm dem Himmel über dem Kopf, die Luft in seinen Lungen für immer entreißen. Seine Knie zitterten und als ihn die Dunkelheit übermannte spürte er, wie ihm der Boden unter den Füßen entrissen wurde. Zu seiner Überraschung sollte er jedoch nie den Aufprall spüren.
„Da stimmt irgendetwas nicht.", die raue Stimme Sutcliffes durchschnitt die analysierende Stille, mit der er und Weddington das Schauspiel beobachtetet hatten. „Darf Sie aufstehen?"
Weddington warf ihm einen verwirrten Blick zu. „Wir haben nur Indizien gegen Sie, keine Beweise, dass sie Lewis wirklich getötet hat, genau genommen dürfen wir sie nicht länger als vierundzwanzig Stunden festhalten. Also ja, sie darf eigentlich alles. Warum fragen Sie?"
Doch Sutcliffe hatte die Hand bereits auf die Klinke des Verhörraums gelegt. Weddingtons Stirn zog sich in Falten. „Was haben Sie denn vor?"
„Chester hat einen Anfall."
Wie aufs Stichwort, sprang Milo vor den Augen Sutcliffes und Weddingtons auf. Den Mund in stummer Furcht aufgerissen, zitternd und hilflos.
Noch bevor der Kleinere umkippen konnte, hatte Sutcliffe bereits die Tür aufgerissen und ihn aufgefangen. Die grünen Augen des Detectives wirkten unschlüssig als er seinen Arzt ansah, mit einem Blick der Sutcliffe bedeutete, dass Milo selbst keine Ahnung hatte, was gerade passiert war.
Langsam zog Sutcliffe den Jüngeren auf die Beine, während Grace Ward das ganze Schauspiel teilnahmslos beobachtete.
„Ich bringe Sie jetzt in meine Praxis, Chester."
Zum ersten Mal seit ihrer Begegnung hatte Milo kein gutes Gegenargument, keinen sarkastischen Spruch auf den Lippen und nickte einfach nur stumm, als wäre er noch in seiner eigenen Welt gefangen. Er starrte die Wand zugrunde, um niemanden der Anwesenden direkt anzublicken und dabei sah er auch nicht den fast raubtierartigen Blick, den Sutcliffe Ward zugeworfen hatte. Die Blondhaarige zuckte zusammen und all die Überheblichkeit, die bis vor wenigen Sekunden ihr Gesicht geziert hatte, war auf einmal wie weggewischt.
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Hallo, ihr Lieben! Ich weiß, dass viele von euch sich einfach nur Konversationen und Momente zwischen Milo und Raymond wünschen, jedoch möchte ich anmerken, dass diese Story auch den Tagg "Krimi" trägt und dies nicht umsonst. Ich möchte nicht, dass die Story unter dem Boy x Boy Genre leidet. Ich hoffe ihr versteht deshalb, wieso sich nicht alles in diesem Buch um die Beziehung von Sutcliffe und Milo dreht. Vielleicht habt ihr schon mein Buch "Unberechenbar" gelesen, in welchem ich ja auch viel Wert auf die Story selbst gelegt habe.
Ich danke für euer Verständnis. Und für die 7K Reads und 1K Votes!
Vielen Dank fürs Lesen! (:
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