Miserere mei, Deus
„Nur um das Mal klarzustellen, du hast es auch Klopfen gehört, oder?", fragte Green seinen Kollegen, welcher bereits knöcheltief im Schlamm hockte. Jetzt schien es Milo offenbar nichts mehr auszumachen, dreckig zu werden. Er erinnerte Green an einen Jagdhund der Blut geleckt hatte und jetzt alles daran setzte, die Spur zu verfolgen, nichts ahnend davon, was um ihn passierte. Milo kniete mittlerweile im Moor und der feuchte Schlamm fraß sich in das Gewebe seiner schwarzen Jeans, bis Milo die Kälte des Dartmoors an seiner eigenen Haut spürte. Mit den Händen wischte der Jüngere das Moor beiseite, bis die Konturen der Messingtür freilagen und die Ärmel seines weißen Rollkragenpullovers so schlammbedeckt wie seine Handschuhe waren.
„Natürlich habe ich es Klopfen gehört, ich bin doch nicht taub.", antwortete Milo ungeduldig und suchte das Schlüsselloch.
Green konnte nicht einmal im Ansatz verstehen, wie ruhig Milo bleiben konnte, wo sie doch eindeutig ein Klopfen kommend aus einem unterirdischen Bunker, der eigentlich nur Leichenteile enthalten sollte, gehört hatten. „Sollten wir nicht...", überfordert sah sich Green nach den Anderen um, die allesamt rund zweihundertfünfzig Meter entfernt im Schlamm standen und offenbar noch nichts von Milos Fund mitbekommen hatten, „...sollten wir nicht, die Anderen benachrichtigen?"
„Dann machen Sie das doch.", seufzte Milo verständnislos. Er begriff nicht, wieso Greens Lebensaufgabe darin bestand, ihn mit sinnlosen Fragen zu nerven. „Ich kann Sie doch nicht allein lassen, mit – was auch immer da geklopft hat!"
Entgeistert wich Milo herum und starrte seinen Kollegen missbillig nieder. „Verdammt Green, jetzt scheißen Sie sich mal nicht gleich in ihr Unterhöschen. Ich habe geklopft, okay? Wie können Sie das jetzt erst begreifen?", die grünen Augen des Privatdetektivs rollten in dessen Augenhöhlen umher, wie zwei hübsche Bowlingkugeln, ehe er sich wieder der Messingtür zuwandte.
Peinlich berührt ließ Green die Schultern sinken und brachte nur einen erleichternden Ton hervor. Natürlich mochte er es nicht von Milo beleidigt zu werden, aber Leichen, die klopften, mochte er noch weniger. „Dann werde ich mal den Anderen Bescheid sagen.", meinte der Inspektor und wendete sich ab. Green wollte nämlich sein Frühstück noch etwas bei sich behalten und er befürchtete, dass eine verrottende Leiche in einem Bunker, nicht wirklich etwas war, was er mit einem koffeingefüllten Magen vereinbaren konnte.
Seufzend steckte Milo den Messingschlüssel in das unter einer Drehscheibe versteckte Schlüsselloch.
„Idiot.", murmelte er vor sich hin. Natürlich hatte nicht er geklopft, wie hätte er dies auch tun sollen, wo doch noch der ganze Schlamm auf der Tür sein Klopfen gedämmt hätte? Das Klopfen musste vom Inneren des Bunkers gekommen sein. Er hatte Green nur nicht die Wahrheit gesagt, weil er selbst herausfinden wollte, wer in diesem Bunker hockte und sich nicht an die einfache Beschreibung: ‚tot', halten wollte. Mit einem Knacken gab das Schloss endlich nach und Milo umfasste den Messingring, um die Falltür aufzustemmen. Quietschend antwortete das Scharnier und der Privatdetektiv blickte in nichtssagende Dunkelheit. Er erkannte nichts außer einer Leiter am Rand des rechteckigen Lochs, die allerdings in tiefer Schwärze endete. Es musste sich um eine ordentliche Tiefe handeln, mindestens fünfzehn Meter, überlegte Milo. Außerdem war es auch noch zu Dunkel, die Sonne war gerade erst beim Aufgang, als dass ihre Strahlen Licht in das Dunkle hätten bringen können.
„Hallo?", fragte Milo deshalb stumpf in die Dunkelheit. Seine Stimme hallte wie ein leeres Echo durch den Bunker, woraufhin er sich schrecklich blöd vorkam. Hatten er und Green sich das Klopfen nur eingebildet? Es gab nur einen Weg das herauszufinden. Der Privatdetektiv blickte sich kurz um, doch die Anderen waren hinter einer der Hügelkuppen und er konnte nur in weiter Ferne einige Forensiker sehen, die sich langsam auf den Weg zu genau dieser Hügelkuppe machten, vermutlich stand dahinter Green und erklärte dem Team alles. Kurz rang Milo mit dem Gedanken, einfach auf den Rest der Ermittler zu warten, doch wenn tatsächlich noch jemand im Bunker war, wenn dieser jemand sogar verletzt war, dann galt es keine Zeit zu verlieren. Schultern zuckend, diese Geste jedoch sofort aufgrund der Schusswunde bereuend, ließ Milo seine Füße auf der rostigen Leiter nieder und umgriff mit eiskalten Händen, das noch kältere Eisen, eher langsam die Leiter hinunter stieg, bis er nicht einmal mehr die Hand vor Augen sah. Während seine Augen zunehmend unnützer wurden, schärfte sich dafür ein anderer Sinn: das Hören. Milo nahm beinahe surreal das leicht platschende Geräusch von kalter Haut auf feuchtem Metall war, wann immer er umgriff. Er hörte seinen beschleunigten Atem und hin und wieder sein eigenes schmerzerfülltes Stöhnen, aufgrund seiner Schulter – sein Schmerzmittel ließ langsam nach – von den hohen Wänden echoartig wieder hallen. Doch in seinem Kopf hallte bloß ein einziger Satz stetig wieder: ‚Bloß nicht abrutschen! '
Der Privatdetektiv hatte keinen blassen Schimmer, wie tief der Bunker tatsächlich war und er wollte sich nicht ausmalen, was passierte, wenn er abrutschte und fiel.
Der Abstieg kam ihm unendlich lang vor. Der Umstand, dass seine Schulter jedes Mal, wenn er die nächste Sprosse umgriff, einen stechenden Schmerz seinen Arm hinunter und seinen Hals hinauf sendete, machte es auch nicht besser. Milo hatte striktes Sport und Hebeverbot vom Arzt verschrieben bekommen, eigentlich sollte er auch nicht mehr als 3.000 Schritte pro Tag laufen. Die Kugel hatte zwar nicht sonderlich viel Muskelgewebe zerstört, aber dafür hatte sie einen Nerv gestreift, welcher nun erst einmal nach wachsen musste, samt Myelin-Scheide. Natürlich würde sich dieser Nerv nie wieder ganz erholen und Milo würde immer ein Taubheitsgefühl in dieser Schulter plagen, aber wenigstens würde der Schmerz früher oder später nachlassen. Vermutlich würde dies relativ früher eintreten, wenn Milo sich seiner Verschreibung nicht so radikal entgegen stellen würde. Doch der Jüngere nahm als Ausgleich einfach doppelt so viel Schmerzmittel. Ein Kompromiss der vielleicht medizinisch nicht vertretbar war, aber das war nicht unbedingt etwas, das Milo je in der Vergangenheit aufgehalten hatte.
Es tat gut in den eigenen Gedanken zu versinken, während der Körper zunehmend in Dunkelheit versank, denn ungelogen, wenn der Braunhaarige seine Zeit nicht mit Gedankenschleifen vertrieb, dann würde er früher oder später daran denken, wie dunkel es war, wie tief es wohl noch ging oder was wohl geschehen würde, wenn er abrutschte. Allessamt Gedanken, die seine gesamt Situation nicht wirklich positiv beeinflussten und lediglich dafür sorgten, dass seine Handflächen noch schwitziger wurden.
Raymond hatte sich inzwischen gefangen. Zumindest redete sich der Neunundzwanzigjährige das seit ungefähr zwei Tagen ein. Er hatte damit begonnen, sich selbst der Therapie auszusetzen, die er jemanden mit Zwangsgedanken auferlegen würde. Er war ein renommierter Psychiater, es wäre doch gelacht, wenn er nicht ein ebenso guter Patient war...oder? Wie viele Leute mit mörderischen Zwangsgedanken hatte er in seiner Laufbahn schon behandelt? Er konnte sie nicht einmal mehr an zwei Händen abzählen. Eigentlich hätte diese Therapie also wie am Schnürchen laufen sollen. Doch wie viele von diesen Patienten, hatten ihre Zwangsgedanken auch in der Realität umgesetzt? Schwer schluckend durchforstete Raymond sein Bücherregal. Mit der Hand strich er über die Bücherrücken. Er hatte sich eine Woche Urlaub genommen, ganz einfach um wieder...klar zu kommen, um für Milo da zu sein und damit Milo auch für ihn da sein konnte. Der Privatdetektiv hatte sich ebenfalls Urlaub genommen, allerdings arbeitete er schließlich nicht umsonst bei Scotland Yard und war somit immer auf Bereitschaft. Und heute Nacht war er zu einem Einsatz gerufen worden. Raymond hatte ihn gebeten nicht zu gehen, schließlich war der Jüngere verletzt, doch Milo hatte nicht hören wollen. Die einen arbeiteten um zu leben, die anderen lebten um zu arbeiten, dachte Raymond bedrückt. Wem wollte er schon etwas vormachen? Er selbst war doch auch ein riesengroßer Workaholic. Nur durch Milos Vorschlag hatte er das erste Mal seit einem Jahr Urlaub genommen. Und das obwohl er selbstständig war und eigentlich jeder Zeit seine Praxis Schließen und Öffnen konnte – je nach Belieben. Unbewusst war seine Hand bei einem Thriller von Stephen King stehen geblieben. Die langen, eleganten Finger strichen gedankenverloren über den Einband. Kopfschüttelnd wendete sich Raymond ab und fuhr sich mit zitternder Hand durch die ungegelten Haare, die daraufhin in dünnen Strähnen vor seine Augen fielen. Zwangsgedanken fingen klein an. Er musste sie im Keim ersticken. Den einen Moment hatte er noch den Thriller von Stephen King über Mord und Totschlag in der Hand...und im nächsten Moment eine Spritze und ein Skalpell. Nein, er hatte es Milo hoch und heilig versprochen, er hatte es sich selbst versprochen.
Der Psychiater drehte seiner eigenen kleinen Bibliothek den Rücken zu und stieg die Wendeltreppe nach oben, die ihn aus seiner Praxis in den Wohnraum führte. Mit schleifenden Schritten durchquerte er das unordentliche Wohnzimmer und fand sich schließlich in der Küche wieder. Ganz von allein öffnete er den oberen Küchenschrank und griff nach einer halbvollen Tablettenbox. Das Orange schimmerte im gedämmten Licht vorwurfsvoll. Es war okay, sagte er sich selbst, wäre er ein Patient mit solch ausgeprägten Zwangsgedanken, würde man ihm auch Serotoninwiederaufnahmehemmer, sowie das tricyclische Antidepressivum Clomipramin verschreiben. Und während er die weißen Tabletten an seinen Mund führte, flüsterte eine kleine Stimme in ihm: ‚Das ist zu viel. ' Doch Raymond schenkte ihr keine Aufmerksamkeit, denn er hatte geschworen alle Gedanken, die nicht Milo galten, auszublenden, aus Angst sie könnten am Ende wieder Gewalt über ihn haben. Betäubend kam die Welt um ihn herum ins Schwanken und er musste sich an der Kücheninsel abstützen. Die stetigen Stimmen, die in ihm schrien wurden leiser und verblassten schließlich gänzlich.
Und mit zittriger Stimme flüsterte er ins Nichts.
„Endlich Ruhe."
Milo ächzte vor Schmerz. Wieso um alles in der Welt, hatte man keinen Fahrstuhl in diesen Bunker gebaut? Er wünschte sich nichts anderes, als endlich normalen Boden unter den Füßen zu spüren. Und als würde das Universum auf groteske Art und Weise auf diesen Wunsch reagieren, spürte er auf einmal wie zwei Hände aus der Dunkelheit sich in seine Schultern klammerten und ihn von der Leiter zogen. Der Aufprall war so hart, das Milo Sterne sah. Und als seine letzte Hoffnung noch darin bestand, dass er sich das Ganze nur eingebildet hatte, dass er einfach abgerutscht war und die Hände, die er gespürt hatte, lediglich eine Halluzination seiner Schmerzmittel waren, da hörte er es:
Ein bestialisches Schnauben, direkt neben ihm. Und Milo gefror das Blut in den Adern.
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