Er konnte einfach nicht glauben, dass er hier stand. Inmitten von Schlamm und Dreck, um fünf Uhr morgens, an einem seiner Urlaubstage.
„Setzen Sie ein anderes Gesicht auf, Chester. Je mehr mit anpacken, desto schneller können wir alle wieder nach Hause gehen.", konstatierte Green, der sich nun offenbar als Abteilungsleiter der Forensik ansah, so motiviert wie er im Schlamm wühlte. Milo blickte skeptisch auf den immer noch leeren Plastikbeutel in seinen behandschuhten Händen.
„Im Gegensatz zu Ihnen bin ich kein Schwein und wühle im Dreck."
Green fuhr so abrupt von seiner Hock-Knie-Stellung auf, dass Milo seine Gelenke knirschen hören konnte, wie in einer Arthritis-Werbung. „Sind Ihre ständigen Schikanen wirklich notwendig?", erwiderte der Inspektor nun lauter, sodass sich andere Mitarbeiter Scotland Yards interessiert der Szenerie zu wendeten. Milo rollte seufzend mit den Augen.
„Ich sage was ich denke, so bin ich nun mal."
„Sie meinen: ‚irritierend'?"
Die grünen Augen des Jüngeren funkelten amüsiert auf. Er genoss die Machtspiele mit Green mehr als jeder andere, zumal Milo genau wusste, wie er den Inspektor zur Weißglut treiben konnte.
„Ich dachte Sie stehen auf Zicken."
„Solange es Frauen sind."
Belustigt schnaubend winkte Milo ab. „Sie müssen nicht Zwangshaft versuchen jeden davon zu überzeugen, dass sie hetero sind."
Der Jüngere hockte sich nun doch noch hin, streng verfolgt von den zu Schlitzen zusammen gekniffenen Augen Greens. Theatralisch wühlte Milo im Schlamm herum, richtete sich dann wieder auf, schritt auf Green zu und klopfte ihm – bevor es der Ältere in irgendeiner Weise verhindern konnte – brüderlich mit der schlammbedeckten-Hand auf die Schulter.
„Sie können Ihrem Team doch alles anvertrauen. Sonst plaudern Sie doch auch aus dem Nähkästchen."
Green war hochrot angelaufen und schleuderte die Hand des Jüngeren empört von seiner Schulter, ehe er auch schon erbost auf den grinsenden Jugendlichen zu stiefelte.
„Irgendwann geraten Sie mal mit Ihrer frechen Art an den Falschen.", bedeutsam streifte er den schlammbedeckten Handschuh ab und bohrte seinen Zeigefinger auf Milos Brustbein. „Und dann werden Sie schon sehen, wie weit Sie mit ihren cleveren Sprüchen kommen."
Schmerz durchzuckte Milos bandagierte Schulter, als sein Kollege ihn zurück stieß und eine Sekunde entglitten dem Jüngeren sämtliche Gesichtszüge, als er spürte wie die genähte Schusswunde leicht aufriss. Doch Milo dachte nicht daran, sich zurück zu halten, nicht mal als er den geschockten Blick Greens sah, als diesem offenbar auffiel, dass er den Jüngeren verletzt hatte.
Aufgebracht hatte Milo bereits den Mund geöffnet, da legte ihm auch schon Weddington eine Hand auf die unverletzte Schulter. Der Privatdetektiv konnte den Gesichtsausdruck des Chief Superintendent hinter sich zwar nicht sehen, aber der feste Griff ließ vermuten, dass es kein guter Blick war.
„Wir sind alle aufgewühlt, müde und überarbeitet. Aber können wir bitte versuchen uns wie Erwachsene zu benehmen?", fragte der Kopf Scotland Yard pragmatisch. Seine Stimme triefte vor Enttäuschung. Weddington musste sich mittlerweile manchmal wirklich wie ein Kindergärtner fühlen. Er beäugte besonders Milo mit einem abschätzigen Blick, als wolle er ihm das stetige Provozieren verbieten, dann gab er ihn aus seinem Griff frei und beäugte den Jüngeren kurz mit einem Anflug von Sorge, als Milo beinahe instinktiv die Wunde an seiner Schulter umgriff.
„Ist alles in Ordnung?"
Unbeeindruckt nickte Milo und nahm seine Hand zurück, nachdem er den Verband vorsichtig abgetastet hatte, ließ es sich allerdings nicht nehmen Green noch einen erbosten Blick zuzuwerfen.
Weddington stand noch einen Moment etwas unschlüssig neben der Szenerie und wendete sich dann schließlich kopfschüttelnd ab, als er sich sicher war, dass die beiden Streithähne keine Schlägerei an einem Tatort starten würden. Seine Aufgabe war die Bürokratie und nicht das Streitschlichten, dennoch hatte er des Öfteren das Gefühl, das Scotland Yard einem riesigen Hühnerstall ähnelte. Doch man sagte Inspektoren ja ohnehin eine gewisse Losgelöstheit von der Realität zu, das rührte vermutlich von der ganzen Brutalität her, die sie jeden Tag zu Gesicht bekamen – anders konnte es sich Weddington beim besten Willen nicht erklären.
Milo wartete bis Weddington außer Hörweite war, um leise vor sich hinzu fluchen. „Ich habe verdammt noch mal Urlaub und stehe trotzdem hier im Moor."
Green, der bereits wieder im Schlamm hockte und mit einem frischen Paar Handschuhe den Boden abtastete, schüttelte betreten den Kopf, „Wir machen alle Überstunden, Chester."
„Außer Jones!", zischte Milo angesäuert und ging nun ebenfalls in die Hocke, „sie sollte an meiner Stelle sein. Ich kann nicht glauben, dass ich für sie einspringen muss."
„Sie sagte es sei ein Notfall.", verteidigte Green seine Kollegin. Daraufhin stöhnte Milo bloß unterdrückt, zog die Gummi-Handschuhe höher und begrub anschließend seine Hände im Schlamm des Dartmoor Englands.
Sie befanden sich in der Hügellandschaft der englischen Grafschaft Devon, zu der sie ganze vier Stunden von London gefahren waren. Milo taten von der langen Autofahrt die Glieder weh, noch dazu war er extrem müde, da er die gesamte Autofahrt und somit die gesamte Nacht nicht schlafen konnte. Seine Laune war dementsprechend auch im Keller. Der raue Wind der über die Moorlandschaft blies und stark an Milos Locken zog, machte es auch nicht besser. Diese ganze Mission glich der Suche einer Nadel im Heuhaufen. Eigentlich war dies auch gar nicht ihr Einsatzgebiet, doch die Lokale Polizei von Devon hatte speziell Scotland Yard bei der Sicherung von Beweismaterial im Dartmoor angeheuert, weil das Gebiet zu groß war, um es allein zu bewältigen. Der Fall war zwar aufgeklärt – ein Mörder in Devon hatte sein Opfer zerstückelt und im Moor vergraben, anschließend gestanden und war nun im Gefängnis – doch dennoch mussten die Leichenteile erst entfernt werden, bis der Nationalpark für die Touristen wieder zugänglich gemacht werden konnte. Und jetzt wühlten sie buchstäblich wie Schweine im Schlamm. Was für eine passende Metapher für Polizisten...
„Hey! Ich hab einen Zahn!", rief Green begeistert und hielt das Calcium und Phosphat haltige Körperteil in die ersten Sonnenstrahlen, die die Sonne über die menschenleere Hügellandschaft schickte. Milo verzog angewidert das Gesicht. „Hiernach erwarte ich eine Gehaltserhöhung, die sich gewaschen hat." Der Jüngere rieb sich gestresst die Schläfen, leider hatte er bei dieser alttäglichen Geste vergessen, dass seine Hände schlammbedeckt waren. Fluchend rieb er seine Schläfe am Schultersaum seines Rollkragenpullovers ab. „Wonach suchen wir eigentlich nochmal?", fragte Milo, der bei der Teamansprache natürlich nicht zugehört hatte.
„Bei der Befragung haben Sie herausgefunden, dass der Mörder die Knochenteile in einem unterirdischen Bunker versteckt hat, die sind typisch für diese Gegend. Jetzt suchen wir nach einer Art Falltür, die für diesen Schlüssel passt.", erwiderte Green müde und hielt zur Unterstreichung seiner Aussage einen Messingschlüssel nach oben. Milo sah nicht hin, sondern ließ seinen Blick über das Gelände streifen. Er wollte diese ganze Sache so schnell wie möglich über die Bühne kriegen. Er war regelrecht aus einem intimen Moment mit Raymond gerissen worden und als er sich bei seinem Partner flüchtig entschuldigt und verabschiedet hatte, hatte Raymond schlagartig ein wenig verloren gewirkt. Milo machte sich wirklich Sorgen um den Anderen. Raymond tat sich schwer seine Zwangsgedanken im Zaum zu halten.
Je schneller er wieder bei ihm war, desto besser. Und Milo sah es nicht ein bis zum Nimmerleinstag im Schlamm zu wühlen, ohne richtiges System. Der Privatdetektiv ermittelte die Himmelsrichtungen mithilfe des Sonnenaufgangs und wendete sich dann Norden zu. Wenn man Englands Kriegsgeschichte kannte und somit die ungefähren Koordinaten für die damalig angelegten Bunker, dann konnte man dieses Schema auf die Hügellandschaft des Dartmoors anwenden. Milo schloss die Augen und versuchte sich in Gedanken die Landschaft als eine Art Computermodell vorzustellen, mit Höhen und Tiefen. Wenn man nun bedachte, dass die Bunker Nordwestlich angelegt waren, in einem Schachbrettmuster, dann müsste sich in diesem Gelände ein Bunker in rund 150m westlich von ihnen befinden.
Der Privatdetektiv öffnete wieder die Augen und schritt unbeeindruckt an Green vorbei, der verwirrt dreinblickte, während er seine Schritte als Metermaß zählte.
„Chester, wie wäre es, wenn Sie endlich mal mit anpacken würden?"
„Hören Sie auf zu reden und folgen Sie mir.", wies der Jüngere seinen Kollegen an. Hilfesuchend blickte Green sich um, stöhnte dann entnervt auf und folgte Milo schließlich. Der Braunhaarige stoppte so abrupt, dass Green beinahe in ihn hinein gelaufen wäre. Absolut konzentriert bückte sich der Jüngere.
„Was soll denn diese Geheimniskrämerei?", fragte Green, dem langsam der Geduldsfaden riss. Dann hörte er ein Klopfen unter dem Schlamm und fast zur Bestätigung drehte Milo den Kopf zu seinem Kollegen. Sein Gesicht war gezeichnet von einem überheblichen Grinsen, während er mit den Händen den Schlamm zur Seite wischte und eine Messingtür im Boden zum Vorschein kam. Bedeutungsvoll schnappte Green nach Luft. Es war nicht zu verleugnen, dass der Privatdetektiv etwas auf dem Kasten hatte. Die Meinung Greens von Milo stieg ohne, dass er es hätte verhindern können.
„Geben Sie mir mal den Schlüssel.", wies der Jüngere an und streckte seinem Kollegen eine mit Dreck besudelte Hand entgegen. Skeptisch zog Green die Augenbrauen zusammen.
„Sie wollen reingehen?"
„Nein.", Milo rollte übertrieben mit den Augen. „Ich will mir daraus eine hübsche Halskette basteln. Und jetzt her damit!"
Und mit dieser charmanten Aussage sank die Meinung von Green über Milo sofort wieder. Seufzend übergab er dem Privatdetektiv schließlich den Schlüssel, denn auch ihm juckte es in den Fingern, was hinter der Tür war.
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