Gymnopédie No. 1
Er war ein Mörder. Dies ließ sich jetzt nicht mehr abstreiten. Alle Karten lagen nun auf dem Tisch und es war an Milo eine Entscheidung zu treffen. Wie gerne hätte er die Worte gesagt, die ihm auf der Zunge brannten?
‚Raymond C. Sutcliffe, ich verhafte sie aufgrund des eindeutigen Tatbestandes ‚Mord' in fünffacher Ausführung, nach dem Paragraph 211 im Strafgesetzbuch. Sie haben das Recht zu schweigen, alles was sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen sie verwendet. '
Doch diese Worte kamen ihm nicht über die Lippen. Das Schrecklichste daran war, dass er nicht einmal sauer auf Raymond war. Er war enttäuscht und geschockt, aber nicht weil sein Freund ein Serienmörder war, sondern vielmehr, weil er Milo nichts davon erzählt hatte. Milo gab sich alle Mühe die Gefühle eines normalen Menschen zu spüren. Wie würde man reagieren, wenn man herausfand, dass der Partner so viel Blut an den Händen hatte? Würde man aus Verzweiflung schreien, weinen, voller Angst vergehen, wütend all' den angesammelten Frust heraus lassen, oder einfach alles gemeinsam? Doch Milo spürte nichts dergleichen. Er spürte eine seltsam distanzierte Begeisterung, ein schleichendes Gefühl der stummen Anteilnahme.
Raymond hatte sich nicht von der Stelle gerührt, während Milo immer und immer wieder versuchte, eines der Gefühle zu verspüren, die nun der Norm entsprechen würden. Doch beim besten Willen – es gelang ihm einfach nicht.
„Wow.", sagte er schließlich in die Stille hinein. „Meine Güte, ich bin kranker, als ich gedacht habe."
Er musterte sein Gegenüber mit stummer Distanz. Raymonds Augen starrten den Parkettboden nieder. Seine Augenbrauen waren in Verzweiflung zusammen gezogen und er wirkte wie ein kleiner Junge, der seine Mutter im Einkaufsladen verloren hatte.
„Und du bist auch kranker, als ich jemals zu denken gewagt hätte.", Milo seufzte tief. „Und sowas schimpft sich Psychiater."
Raymond reagierte nicht. „Na gut, Ray. Sieh' mich an.", beendete Milo seine Ausführungen. Dunkle, beinahe schwarz wirkende Augen, starrten ihm entgegen. Sie wirkten gläsern und an ihnen haftete eine Melancholie, die Milo beinahe den Atem raubte.
„Du verhaftest mich?", sagte Raymond. Es klang mehr wie eine Feststellung, als wie eine Frage. Langsam schüttelte Milo den Kopf. Er konnte nicht glauben, was er Inbegriff war zu tun.
„Nein, nein, das werde ich nicht. Was du getan hast...was du tust", verbesserte sich der Jüngere, „das ist in unserer Gesellschaft umstritten. Doch ich komme nicht ohnehin dein Werk zu bewundern. Du bist...ein Racheengel. Diese Menschen, diese Masken – ich verstehe, wieso du sie umgebracht hast. Sie haben es verdient.", die Worte kamen ihm überraschend einfach über die Lippen, hinterließen allerdings einen bitteren Beigeschmack auf seiner Zunge.
„Von nun an, Ray...musst du...müssen wir, sehr viel vorsichtiger vorgehen."
Eine strafrechtlich relevante Beihilfe im Sinne des Paragraphen 27 Abschnitt 1 des Strafgesetzbuchs, wenn der sogenannte Gehilfe vorsätzlich einen Täter bei der Begehung einer Straftat (erfolgreich) unterstützt. Als Gehilfe wird bestraft, wer vorsätzlich einem anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat Hilfe geleistet hat.
„Ich kann es einfach nicht glauben, Milo Chester. Du hast die Fäden besser in der Hand, als jeder Marionetten Spieler südlich des Äquators."
Grace Ward lehnte sich gegen die abgetragene Holzlehne der Parkbank und streckte sich wie eine Katze, die gerade erst erwacht war und sich nun bereits für das nächste Nickerchen rüstete. Im Hydepark war die Luft weniger diesig als in den anderen Teilen der Stadt und der Himmel über ihren Köpfen besaß eine Farbe, die man fast schon als blau bezeichnen konnte. In der Mitte der Allee schlenderte ein offensichtlich frischverliebtes Pärchen, Hand in Hand. Ihr vergnügtes Lachen erfüllte die winterfrische Brise, die Graces blumengetupftes Kleid um ihre Beine flattern ließ.
Entlang des Wegs flanierten zahlreiche Spaziergänger und unter vielen Bäumen standen Stühle und Bänke, auf denen Menschen allen Alters saßen, leise miteinander sprachen oder die Luft mit Tabakrauch schwängerten. In einem anderen Teil der Welt hätte man diesen Tag wahrscheinlich als einen der solchen bezeichnet, an welchem man wohl lieber im Bett geblieben wäre – aber nicht in London. Es musste nur ein Umstand gegeben sein, damit Londoner das Wetter nicht als schlecht bezeichneten: Es durfte nicht regnen. Es konnte stürmen, blitzen, donnern – für Londoner, ein unvergleichlich schöner Tag. Im Norden war man abgehärtet.
„Was meinst du?", fragte Milo, der seine mittlerweile eiskalten Hände vergebens versuchte in den Taschen seiner Kapuzenjacke aufzuwärmen.
Symbollisch zog die blonde Forensikerin ihr Mobiltelefon hervor und hielt es Milo vor die Nase. Es zeigte seine eigene Nachricht.
„'Treffen im Park. Bitte komm.'", wiederholte Grace die Nachricht in einem parodierenden Tonfall und ließ das Telefon anschließend in die Tasche ihrer Cordjacke zurück gleiten. „Bin ich dein persönlicher Dealer für Informationen? Meine Güte, kannst du dir nicht einen weniger ominösen Ort, als einen Park aussuchen? Oder zumindest mehr schreiben, als ‚im Park'? Ich hab gefühlte Stunden damit verbracht dich hier zu suchen."
Milo zog in stummer Verwunderung die Augenbrauen zusammen. „Du hast mich einmal in ein verlassenes, abgebranntes Parkdeck bestellt.", verteidigte er sich im monotonen Tonfall. Kurz starrte Grace vor sich hin, als suchte sie nach einer schlagfertigen Antwort, doch dann schüttelte sie den Kopf und winkte ab, wobei einige blonde Strähnen sich aus ihrem lockeren Dutt lösten und ihr locker um ihr Gesicht fielen. „Hast du den Mörder mittlerweile gefunden, oder wieso bin ich hier?"
Innerlich zuckte Milo zusammen, ließ sich jedoch nichts anmerken.
„Ich wollte dich lediglich noch einmal befragen.", erklärte er tonlos.
Grace lachte kurz verbittert auf. „Ach, bitte! Du weißt doch schon längst alles. Worüber sollte ich dir denn noch Auskunft geben?"
Diesmal wusste Milo tatsächlich nicht, was er darauf antworten sollte. Überfordert stammelte er eine Frage zusammen. „Du weißt...?"
Grace verdrehte die Augen. Sie wirkte wie ein Atomphysiker, der versuchte Unterbelichteten das Zerfallsgesetz zu erklären. „Natürlich weiß ich Bescheid. Man sieht es dir regelrecht an, Chester. Du strahlst als hättest du die Gravitationsgleichung geknackt. Alles an dir wirkt...zielsicherer."
Milo konnte seine Überraschung nicht verbergen. Grace war intelligenter, als er von ihr gedacht hatte, wenn sie durch seine sonst so undurchdringliche Maske hindurch schauen konnte.
„Tatsächlich?"
„Nö, eigentlich nicht. Ich geb's ja schon zu, ich stehe im ständigen Kontakt mit Sutcliffe, er hat mir kurz vor unserem Treffen Bescheid gegeben, dass du alles weißt.", sie zuckte ungehobelt mit den Schultern.
Milos Respekt vor ihr, war wie weggefegt.
„Ich habe nur eine Frage an dich.", erklärte Milo sachlich und drehte sich zu der Älteren. „Wieso?"
Graces hellrosa Lippen umspielte ein angedeutetes Grinsen. Sie zog die Beine an und stellte ihre schweren Boots auf der Sitzfläche der Parkbank ab, anschließend schlang sie die Arme darum und legte ihr Kinn auf den Knien ab. Überlegend beobachtete sie die tanzenden Blätter im Wind.
„Sutcliffe hat mich nie gezwungen, wenn du das denkst. Er hat viele Helfer.", sie schürzte die Lippen, als sie Milos unverständnisvollen Blick bemerkte. „Freiwillige Helfer.", verbesserte sie. „Ich für meinen Teil kenne ihn seit mehreren Jahren. Ich war seine Patientin und bin sofort auf seine Vision angesprungen. Er hat mich sozusagen rekrutiert.", erklärte sie. „Was ihn antreibt...sein einziges Motiv war Gerechtigkeit. Aber mit Elias Traitman hat er über die Stränge geschlagen. Ich glaube er mordet nicht mehr länger für Gerechtigkeit, sondern für den Rausch. Ich werde aussteigen, mich irgendwo absetzten, mit fremden Namen und neu anfangen."
„Er hat über die Stränge geschlagen?", harkte Milo nach.
Bedächtig nickte die Blonde. „Er hat sich von seinen Gefühlen leiten lassen. Bis dato war er ein objektiver Racheengel. Doch mit Elias Traitmans Mord wurde er subjektiv. Er hat den Tatort mit Blut beschmutz, er hat seine Ordentlichkeit, seine Fassung verloren. Jetzt mordet er, um zu morden.", sie richtete ihre blaugrauen Augen nun direkt auf Milo. „Wirst du ihn verhaften?"
Der Jüngere musste schwer schlucken. „Das hab ich noch nicht entschieden.", log er.
„Natürlich, wirst du das nicht.", die Forensikerin durchschaute Milo mit einem Blick. „Sutcliffe befindet sich auf einem sickendem Schiff, Chester. Er wird dich mit nach unten ziehen."
Entschlossen reckte Milo das Kinn. „Würdest du für denjenigen, den du liebst, nicht auch alles tun?"
„Für dich würde ich fast alles tun.", sagte Grace leise. „Ich würde für dich vermutlich auch sterben. Das weißt du genau. Aber würde ich jemand anderen...einen unschuldigen Menschen töten? Oder sogar mit dem Leben unzähliger Unschuldiger spielen? Mit der ganzen Welt? Ist das wirklich Liebe, wenn man Jemanden sagt: Vor die Wahl gestellt zwischen dir und jedem anderen Leben auf dem Planeten, würde ich mich für dich entscheiden? Ist das...ich weiß auch nicht...ist das überhaupt noch eine moralisch vertretbare Art von Liebe?"
„Liebe ist weder moralisch, noch unmoralisch. Liebe ist einfach Liebe.", erwiderte Milo.
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Hallo ihr Lieben! Tut mir leid, dass so lange nichts mehr kam, aber ich hatte eine echt große Schreibblockade. Doch jetzt bin ich frisch und erholt zurück und werde hoffentlich wieder jede Woche ein neues Kapitel hochladen können. (:
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