Für Elise
Was ist Gerechtigkeit? Was ist gerecht? Ist dieses Wort überhaupt in irgendeiner Weise real, echt und nachweisbar? Oder ist es nicht vielmehr imaginär? Ein Wunschzustand? Etwas, was in unserem Verstand existiert, etwas nach dem noble Menschen streben, Menschen, die ein gutes Gewissen haben – oder es sich zumindest wünschen. Gibt es Gerechtigkeit?
Und wenn ja – wo?
Wir sind schlechte Nachrichten mittlerweile so sehr gewöhnt, dass wir sie mit einem einfachen Schulternzucken abtun können. Unsere Welt ist so mit einander vernetzt, dass Globalisierung fast schon ein zu schwaches Nomen ist, um den Umstand zu beschreiben. Im Minutentakt fließen Informationen auf unser Gehirn, auf unsere Reize ein. So viele, dass wir nur einen Bruchteil davon wirklich verarbeiten können. Doch wir reden uns gerne ein, dass wir dem Ganzen gewachsen sind. Welchem ‚Ganzen' sind wir überhaupt gewachsen? Dem Großenganzen? Was ist das? Wonach streben wir, für wen sind wir ‚gerecht'? Wem dienen wir? Wenn Sie keine Antwort darauf finden, dann sind sie Teil der Menschheit. Wenn Sie dagegen eine Antwort auf diese Frage gefunden haben – sei es in diesem Moment, oder schon seit einiger Zeit, dann sind Sie ein Lügner. Eventuell überrascht Sie diese Bezeichnung nicht, eventuell schauspielern Sie gerade auch Empörung, vielleicht wissen Sie aber tatsächlich und wirklich nicht, dass sie ein Lügner sind. Vielleicht haben Sie sich immer eingeredet, dass Sie das große Ganze verstehen, vielleicht sind Sie einer Wunschvorstellung – oder sollte ich besser Wahnvorstellung sagen – hinter her gerannt. So etwas wie: ‚Wer Gutes tut, dem wird Gutes widerfahren' oder ‚Auch aus Steinen, die dir in den Weg gelegt werden, kannst du etwas Schönes bauen.' Leute, die an solche Sprüche glauben und den ‚guten Dingen' hinter her eifern sind schreckliche Heuchler. Seien Sie ehrlich zu sich selbst: Letzten Endes sind Sie ein Mensch, wie jeder andere. Sie sind nichts besonderes, ich bin nichts besonderes, niemand von uns wird in ein paar Jahrtausenden noch irgendetwas bewirken. Spätestens wenn die Sonne, der Stern unseres Sonnensystems, der das Leben auf unserem Planeten überhaupt erst möglich macht, spätestens wenn diese Lebensquelle verglüht und uns mit sich in den Tod reißt – spätestens dann, wird nichts mehr von uns übrig bleiben. Ironisch nicht wahr? Wir sind Menschen. Wir sind egoistisch. Auch wenn Sie vielleicht einem noblen Ziel nacheifern: Arzt werden, Menschen retten, kleine Hundebabys aus Fluten zerren, so ist dies immer mit dem damit egoistischen Wunsch verbunden, etwas auszumachen. Etwas zu ändern in dieser eklig, stinkenden Welt. Jetzt fragen Sie sich sicher, worauf ich hinaus will. Ich will damit sagen, dass wir – als Menschen – die Antwort nach dem Sinn des Lebens niemals kennen werden.
Sie können die Antwort auf die Frage gar nicht kennen, wenn Sie sie wahrhaftig kannten, dann gäbe es nur zwei Möglichkeiten, wer oder was Sie sind.
Nummer eins: Sie sind Gott und haben diese Welt erschaffen und damit auch den Sinn hinter allem. Nummer zwei: Sie sind geistesgestört, stur und dumm.
Gerechtigkeit – gibt es nicht. Es wird sie niemals in unserer Welt geben. Finden Sie sich damit ab, ein für alle Male.
Gehen Sie hinaus, leben ihr beschissenes Leben - wie wir alle und hören Sie auf zu meckern.
Das fünfte Opfer des Maskenmörders wurde am ersten Dezemberwochenende in einer der vielen überfüllten Einkaufshallen gefunden. Nah an der Decke waren Weihnachtsdekorationen angebracht. Ein großer Plastikschlitten, gezogen von den wohl berühmtesten Rentieren der Welt. Santa hatte die Zügel in der Hand und trug die Maske und damit die sterblichen Überreste des CEO's einer großen Metallverarbeitungsfirma.
Doch Milo erfuhr bereits viel früher, was passiert war.
Und wenn er ganz tief in sich ging, dann hatte er es eigentlich schon immer gewusst. Er wollte die Wahrheit nur nicht wahrnehmen.
Raymond war verschwunden. Sie hatten sich mit der leeren Whiskey Flasche schlafen gelegt und als Milo mehrere Stunden später erwachte, gab es keine Spur von Raymond mehr.
Der Privatdetektiv hatte es eigentlich bereits seit dem Auffinden Mister Peddroks und damit dem dritten Opfer des Maskenmörders gewusst. In der Nacht, in der er und Raymond die Familie Lewis besucht hatten, hatte es Milo herausgefunden. Die Opfer hatten nichts mit einander zu tun gehabt. Sie hatten gar keine familiäre oder zwischenmenschliche Verbindung. Es wirkte als hätte der Serienmörder seine Opfer willkürlich ausgewählt. Doch Milo hatte ein Raster aufgestellt. Auf einem riesengroßen Plakat hatte er alle staatlichen Personen, die mit den Opfern zu tun hatten, aufgeschrieben. Es dauerte mehrere Stunden, dabei wusste er von Anfang an, welcher Name am Ende in der Mitte auftauchen würde. Doch er zwang sich vorher erst jede andere Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Er brachte es nicht übers Herz das Raster zu voll enden. Manchmal war es besser gewisse Dinge nicht zu wissen. Milo entschied sich damals für die Unwissenheit.
Doch jetzt war es anders. Raymond war verschwunden. Mit schleppenden Schritten trottete Milo in seine Küche und zog das zusammengerollte Plakat vom oberen Küchenschrank. Unter der Theke holte er die zusammen gesammelten Akten der Menschen hervor, deren Leben durch die Opfer des Maskenmörders zur Hölle gemacht wurden und durchsah sie ein letztes Mal. Das ganze Leben eines Menschen auf mehreren A4-Seiten zusammen gefasst.
Es gab einen Knotenpunkt. Nur hatte niemand daran gedacht, nicht das Leben der Opfer des Maskenmörders zu studieren, sondern vielmehr das Leben der Opfer, der Opfer – sozusagen.
Sie hatten einen gemeinsamen Psychiater.
Mit zitternden Fingern schrieb Milo den Namen in die Mitte des Plakats, der all die Menschen verband.
Raymond C. Sutcliffe.
Eine Tür aufzubrechen war keine schwere Übung, wenn man bei Scotland Yard arbeitete. Auf einmal machte alles einen Sinn – Raymonds Gefasel über Gerechtigkeit. Außerdem: welcher normale Mensch besaß eine eigene Kühlkammer im Haus? Milo wusste nicht was er erwartet hatte, bezüglich der Gefühle, die er nun fühlen sollte. Doch während er sich leise einen Weg durch das scheinbar leere Appartement bahnte, spürte er, wie er gar nichts fühlte. Er hatte Raymond nicht gemeldet. Er war auf eigene Faust gekommen. In ihm war es so leer, wie lange nicht mehr. Milo hatte eine Entscheidung getroffen. Er würde Raymond zur Rede stellen. Und es zerriss ihm beinahe das Herz. Mit jedem Schritt fühlte sich Milo innerlich erschüttert. Es war als hätte man Fäden an sein Inneres gebunden, die bereits bis zum Zerbersten gespannt waren. Und die ersten rissen bereits.
Raymond saß auf der schwarzen Ledercouch, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, den Kopf gesenkt, schützend unter den eigenen Händen.
„Ich wusste, dass du kommen würdest.", murmelte Raymond.
Skeptisch musterte der Privatdetektiv den Anderen. Raymond wirkte keineswegs wie ein Mörder. Hatte er sich getäuscht? Nur weil er der Psychiater der Opfer, der Opfer war, musste das ja noch lange nicht heißen, dass er wirklich etwas mit den Morden zu tun hatte. Milo schluckte schwer und näherte sich langsam. Blut zeichnete das weiße, aufgeknöpfte Hemd des Psychiaters. Milo überraschte es beinahe selbst, wie ruhig und gefasst er diesen Anblick ertragen konnte. Ohne ein weiteres Wort verschwand er für einige Minuten im Bad, um ein Handtuch anzufeuchten. Im Spiegel blickte ihm ein extrem müder Junge entgegen. Es war als würde sein Spiegelbild ihn fragen: ‚Was zur Hölle machst du?'. Doch Milo hatte keine Antwort darauf, er schüttelte den Kopf und kehrte zurück ins Wohnzimmer. Milo umrandete die Couch und stellte sich direkt vor Raymond.
„Okay.", sagte er, „zieh dein Hemd aus."
Verwundert hob Raymond eine Augenbraue.
„Keine Sorge, ich werde schon nicht über dich herfallen.", stieß Milo ungeduldig hervor. „ich kann den Anblick deines nackten Oberkörpers durchaus verkraften, ohne gleich in Ohnmacht zu fallen."
„Bist du sicher?", hakte Raymond nach, streifte aber das Hemd von den Schultern. „dieser Anblick hat schon bei vielen Frauen zu ernsthaften Verletzungen geführt – weil sie rücksichtslos aufeinander rumgetrampelt sind, nur um mir möglichst nahe zu sein."
„Ja, ja, ist schon gut. Ich sehe hier aber sonst niemanden außer mir und das letzte Mal, als ich nachgeschaut habe, war ich definitiv männlich. Ich will dir nur das Blut abwischen."
Vielleicht gab es ja eine vernünftige Erklärung für alles.
Gehorsam lehnte sich Raymond zurück. Dunkles Blut hatte seinen Brustkorb und seinen Bauch mit krustigen Striemen versehen. Doch als Milo vorsichtig mit den Fingern darüberfuhr, erkannte er, dass es sich um flache Schnittwunden handelte. Raymond wandte ihm das Gesicht zu und schloss die Augen, während Milo seine Haut mit dem feuchten Handtuch behutsam sauber wischte, bis sich das weiße Baumwollgewebe rosa verfärbte. Vorsichtig rieb er die getrockneten Blutflecken an Raymonds Hals weg, tauchte das Handtuch kurz in das Glas Wasser auf dem Beistelltisch und widmete sich dann seinem Oberkörper. Raymond hatte den Kopf in den Nacken gelegt und beobachtete Milo dabei, wie er das Handtuch über seine muskulösen Schultern gleiten ließ, über die glatten Konturen seiner Arme und schließlich über seine breite Brust. Vorsichtig berührte Milo Raymonds Schulter.
„Willst du mir erzählen, was passiert ist? Woher du diese Verletzungen hast und wessen Blut das ist?"
Raymond holte tief Luft. Die Kratzer zeichneten sich deutlich und dunkel von seiner Haut ab.
„Ich habe jemanden getötet."
Seine Worte trafen Milo wie der Rückstoß einer abgefeuerten Waffe. Das blutige Handtuch fiel ihm aus der Hand und als er sich bückte und es aufhob, starrte Raymond nur stumm auf ihn herab. Im Licht der kalten Glühbirnen wirkten seine Gesichtszüge elegant, kantig und traurig.
„Wen?", fragte Milo leise.
„Das weißt du doch schon längst. Ich bin der Maskenmörder."
Milo hatte es gewusst, doch es jetzt aus dem Mund des Anderen zu hören, war etwas völlig anderes. Nie hätte er sich darauf vorbereiten können. In ihm schrie alles, doch äußerlich starrte er den Mann, den er liebte, bloß tonlos an.
Raymond starrte stumm zurück.
Und es war als würde die ganze Welt die Luft anhalten.
Die Ruhe vor dem Sturm.
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Viele von euch haben es bereits geahnt und schon Theorien aufgestellt, jetzt ist es offiziell raus: Raymond ist der Maskenmörder. Was denkt ihr, wie wird Milo nun agieren? Als Ermittler Scotland Yards oder als treuer Freund? Ich bin gespannt auf eure Theorien!
Side Note: Ich lese immer mal wieder, dass ihr meine Bücher – wenn sie im Regal stehen würden – tatsächlich kaufen würdet. Das zu lesen ist immer wieder so überwältigend für mich. Leider ist dies noch ein entfernter Traum. Falls einer von euch mich allerdings finanziell unterstützen mag, ist hier meine Ko-fi Page: http://ko-fi.com/lazypazific
Dort könnt ihr mich, wenn ihr mögt, mit ein paar Euros unterstützen. Natürlich ist das kein Muss und bitte fühlt euch in keinster Weise dazu gezwungen. Es würde mir lediglich viel bedeuten und mir in meiner finanziellen Situation weiterhelfen. (:
Weiterhin bleibt ‚Geistesblitz.' aber natürlich ein völlig kostenlos zur Verfügung gestelltes Buch und ich danke euch fürs Lesen!
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