Epilog - Rot wie die Liebe
Vorsichtig strich sie mit dem Zeigefinger über die unordentliche Schrift, die den Namen enthielt, den sie unterdrückt verfluchte.
Raymond C. Sutcliffe.
Chester hatte es also schon viel früher heraus gefunden als sie gedacht hatte. Seufzend richtete sie sich mit dem Plakat in der Hand auf.
„Ich hab's gefunden. Chesters Aufzeichnungen über Raymond, meine ich.", sagte sie und schritt auf Weddington zu, der noch immer in einem unübersichtlichen Haufen von Akten herumwühlte.
Sie waren zu Chesters Wohnung gefahren um letzte Beweise zu finden, dass Chester und Sutcliffe in den Fall des Maskenmörders gemeinsam verwickelt waren.
In den Augen des Chief Superintendent stand tiefe Trauer als er das Plakat überflog.
„Sutcliffe war also der Psychiater der Opfer, der Opfer des Maskenmörders. Das wäre ein Motiv für den modernen Racheengel. Jedoch ist das bloß ein Indiz, kein Beweis dafür, dass er tatsächlich der Maskenmörder ist."
Jones raufte sich die - mittlerweile offenen Haare - es war das erste Mal, dass sie bei einer Ermittlung die Haare offen trug. Aber das Gummi war gerissen, weil sie ihren Zopf so oft festgezogen hatte - eine Angewohnheit, die sie besonders wenn sie nervös war, immer und immer wieder durchführte.
„Warum hat Chester uns nichts davon erzählt als er diese Parallele zwischen Sutcliffe und dem Fall herausgefunden hatte, hm? Weil Sutcliffe ihn manipuliert hat! Vermutlich hat Chester ihm sogar geholfen, nachdem er von dem Racheengel inspiriert worden war."
Weddington nickte überlegend. „Das sind jedoch alles nur Indizien. Wir müssen die beiden zuerst finden und befragen."
Natürlich versuchten sie das schon seit Stunden, doch Chester und Sutcliffe waren wie vom Erdboden verschluckt: unauffindbar.
"Ist es nicht verdächtig, dass sie ausgerechnet jetzt - ohne einer Menschenseele davon zu berichten - die Stadt verlassen?", erwiderte Jones.
Weddington seufzte, natürlich dieser Fakt ließ sich nicht von der Hand weisen und führte nicht unbedingt dazu, dass Sutcliffe und Chester unschuldiger wirkten.
Bevor der Chief Superintendent jedoch etwas darauf erwidern konnte, ertönte der schrille Ton seines Funkgeräts.
„Sir, wir haben so eben Kamera-Aufnahmen von Sutcliffe an einer Tankstelle erhalten. Sie begeben sich vermutlich in Richtung Grays."
Jones Augen weiteten sich bei der Erkenntnis, die sich ihnen durch diese Nachricht bot.
„Sie verlassen das Land!"
Weddington reagierte sofort und hob das Funkgerät.
„Ich will sofort einen Hubschrauber, einen Durchsuchungsbefehl für Sutcliffes Wohnung und zwei Dutzend meiner besten Männer und funken sie sowohl die örtliche Polizei an, als auch die internationalen Behörden! Alle Flughäfen und Porte sollen verstärkte Kontrollen durchführen."
Jones warf ihm einen halb belustigten, halb überraschten Blick zu: „Können wir das denn? Wir haben doch nur Indizien."
Weddington warf ihr einen Blick zu, der so hart wie Diamant war. Jetzt verstand Jones warum er all die Jahre ungeschlagen an der Spitze Scotland Yards stand. Sie hatte ihn unbewusst unterschätzt.
„Meine Intuition hat mich noch nie getäuscht. Sollte das hier schief gehen, trete ich als Chief Superintendent zurück. Das geht auf meine Kappe. Und jetzt kommen Sie."
Weddington war wie Wasser. Im einen Moment sanft und erfrischend, im nächsten Moment hart wie Beton: Wenn man überraschend feststellte, dass es aus großer Höhe tödlich war. Und wie sagte man so schön? Hochmut kam vor dem Fall.
„Raymond...", leise drang die Stimme Milos zu Raymond durch. Es war das erste Wort, das dem Kleineren innerhalb einer Stunde über die Lippen gekommen war. Bevor der Andere etwas erwidern konnte sprach Milo schon weiter, diesmal lauter und gefasster: „Raymond...halte sofort den Wagen an."
Geschockt warf der Größere seinem Beifahrer einen Blick zu, der vor Überraschung und Empörung nur so triefte.
„Was?", brachte er bloß aufgebracht heraus.
Der Privatdetektiv richtete sich auf einmal so plötzlich auf als sei er vom Blitz getroffen worden.
„Ich habe gesagt, du sollst anhalten!"
Und ehe es Raymond hätte verhindern können, umgriff Milo die Handbremse und zog sie an.
Der Motor stöhnte auf und schlitternd drehte sich der Wagen in beachtlicher Geschwindigkeit um die eigene Achse, bis das Heck ausschlug und sie von der Straße in den Graben rutschten.
Raymonds Kopf schlug so hart gegen das Fahrer-Fenster, dass er einige Sekunden bloß Sterne sah. Als seine Sicht sich etwas klärte erkannte er grauen Rauch an der Windschutzscheibe aufsteigen. Er hatte das Gefühl das Geschehen um ihn würde in Zeitlupe ablaufen. Alles war so langsam. Er war so langsam. Vorsichtig richtete er sich auf, wobei ein Regen von kleinen Glassplittern auf seine Schultern herab regnete. Er spürte Nässe auf seinem Gesicht und tastete vorsichtig über seine Wange. Und als er die Finger danach begutachtete sah er rot. Dann fiel sein Blick auf den Beifahrersitz. Er war leer. Raymond hatte das Gefühl als sei sein Verstand in Watte gehüllt.
Dann fiel ihm erst die seltsame Seitenlage auf, in welcher er sich befand. Der Wagen war umgekippt und lag nun auf der Seite. Stöhnend zog sich der Psychiater aus dem Fahrersitz und stützte sich auf dem Armaturenbrett ab um aus dem Beifahrerfenster, das bereits herunter gelassen war, zu klettern, denn die Tür war fest verschlossen.
Während sich Raymond draußen noch von der Welle von Kopfschmerz, die ihn überrollte, erholte, klärte sich sein Verstand wieder auf. Die Welt um ihn herum schien wieder in ihrer gewöhnlichen Geschwindigkeit zu laufen und die Geräuschkulisse - von der er gar nicht mitbekommen hatte, dass sie kurzfristig verschwunden war - kehrte zurück. Raymond hörte das letzte Aufstöhnen des Motors seines Wagens und das Rauschen der Wellen.
Das Rauschen der Wellen? Hier war doch gar kein Wasser?
Der Blick des Psychiaters wanderte weiter und in der aufgehenden Sonne sah er ihn: Milo. Er rannte, oder vielmehr humpelte er in beeindruckender Geschwindigkeit auf etwas zu. Raymond betrachtete das Geschehen wie ein Außenstehender: verwundert und erschrocken, aber unwissend über was. Es war als würde sein Verstand ihn anschreien etwas zu tun.
Und dann erkannte er es: Worauf Milo zuhielt, woher das laute Rauschen der Wellen kam und was vor ihnen lag.
Eine Klippe.
Sofort sprintete er los. Milo hielt sich den Oberschenkel und je näher Raymond kam, desto deutlicher wurde der in Blut getränkte Junge.
„Bleib stehen!", schrie Raymond und war selbst überrascht wie laut und erschütternd seine Stimme klang. Doch Milo dachte nicht einmal daran auf den Anderen zu hören. Jedoch war er mit seinen Verletzungen um einiges langsamer als Raymond. Die Schnittwunden waren bei dem gefährlichen Stop-Manöver wieder aufgerissen und an der Art und Weise, wie Milo sich das Bein hielt, konnte Raymond erkennen, dass er sich bei dem Überschlag wohl ebenfalls verletzt hatte.
Raymond hatte ihn relativ schnell eingeholt, für jemanden der vermutlich eine ordentliche Gehirnerschütterung hatte. Auch wenn ihn das Rennen Schwindel und Übelkeit brachte, ließ er nicht nach. Er packte den Jüngeren, als er ihn erreicht hatte und stieß ihn mit sich zu Boden.
Doch Milo wehrte sich mit der Kraft eines wilden Tieres. Sie rollten über den Sandboden, die Hände zu Fäusten geballt, versuchend den Gegenüber auszuschalten, die Hände in den Haaren und Klamotten des jeweils anderen. Staub und Sand wirbelte auf und unter ihnen: das immer lauter werdende Rauschen tödlicher Wellen.
Dann traf Raymond ein gezielt platzierter Schlag direkt gegen die Wange und er sackte zurück. Milo war drauf und dran sich loszureißen, doch Raymond hatte sich mit aller Kraft um das Fußgelenk des Anderen geklammert.
„Milo, bitte...", stieß er aus und seine Stimme klang so verzweifelt, wie das Reißen der Seiten eines alten Buches. Milo musste die Augen zusammenkneifen um nicht in Tränen auszubrechen, als er neben den anderen auf den Boden sank.
„Ich kann so nicht weiter leben, Ray. Nicht mit dem, was ich getan habe..."
Der Psychiater hob den Kopf. Sein Gesicht war vollkommen blutverkrustet, an seinem Haaransatz prangte eine große Platzwunde und sein Blut mischte sich mit Sand und Staub.
„Milo...du hast nichts getan!", fuhr er ihn an. „Das sind deine Wahnvorstellungen. Ich habe versucht es dir zu sagen, du wolltest nicht auf mich hören. Deine Anfälle sind einfach zu stark und das sind sie...wegen mir."
Milo erstarrte, blickte bloß in die dunklen Augen seines Freundes und versuchte verzweifelt ein Anzeichen dafür zu finden, dass er ihn täuschte - dass er log. Doch Milo wusste, dass Raymond ihn noch nie angelogen hatte.
„Ich glaube ich habe gerade ein Déjà-Vu."
Raymond brachte es nicht übers Herz dem Menschen, den er am meisten liebte, in die Augen zu schauen. Stattdessen fokussierte er den Abgrund hinter Milo, nur einen halben Meter von ihnen entfernt und darunter: Spitze Felsen, Wellen die so hoch schlugen, dass die Gischt grell-weiß gegen die Steine schlug.
„Ich bin wie ein sinkendes Schiff. Ich hätte dich nie kennen lernen dürfen. Ich habe dich bloß mit mir herunter gezogen und jetzt sind wir beide am Abgrund, unfähig zu atmen.", stieß der Größere heiser aus.
Milo blinzelte perplex, seine Gedanken rasten durch seinen Kopf, wie kleine Stromschläge, die ihm beinahe Schmerzen zufügten.
„Was? Ich verstehe nicht..."
Raymond lachte heiser. Es klang vollkommen herzzerreißend. Über ihnen ertönte das ohrenbetäubende Rauschen eines Helikopters, der langsam näher kam.
„Milo du hast niemanden getötet. Ich habe diese Menschen umgebracht. Du hast mir lediglich geholfen, jedoch nie selbst Hand an diese Leute angelegt.", er ergriff die zitternde Hand seines Freundes, „Wenn es einer verdient hat zu sterben, dann bin ich das, nicht du. Ich habe dich manipuliert. Ich habe den dunklen Samen in Dir ausgenutzt um ihn zum Blühen zu bringen. Es tut mir leid. Ich hätte dich nie, niemals in all das hinein ziehen dürfen."
Mittlerweile liefen Milo die Tränen über das Gesicht, wie kleine Rinnsale.
„Raymond...nein, ich..."
Der Psychiater richtete sich etwas auf und umrahmte das Gesicht Milos mit seinen Händen.
„Es tut mir so leid, Milo, alles."
Der Jüngere schüttelte so kräftig den Kopf, dass der Sand in seinen Haaren in alle Richtungen flog.
„Entschuldige dich nicht, es war meine freie Entscheidung dir zu folgen. Es war falsch, aber ich würde es immer wieder tun."
Hinter ihnen ertönte das symbolische Geräusch eines eingeschalteten Lautsprechers und dann drang die blechende Stimme Weddingtons von dem Helikopter zu ihnen durch: „Sutcliffe! Lassen Sie auf der Stelle den Jungen los, wir haben Ihre schicke Kühlkammer gefunden! Ich will Ihre Hände über Ihrem Kopf sehen, sofort!"
Milo zuckte erschrocken zusammen, hilfesuchend erwiderte er den innigen Blick seines Freundes, der nun langsam die Hände sinken ließ und sie anschließend hob.
„Keine Sorge. Sie haben keine Beweise gegen dich. Ich sage vor Gericht aus, dass ich dich psychologischer Manipulation unterzogen habe und du wirst gegen mich aussagen, hast du das verstanden?", Raymond sprach ruhig, doch Milo erkannte das unterdrückte Beben in seiner Stimme und die gläsernen Augen.
„Nein!", widersprach er entschlossen und es zerriss ihn innerlich, als sich Raymond langsam aufrichtete und - Milo immer noch zugewandt - langsam rückwärts in Richtung der Polizei schritt.
Und Milo sah die Lichtstrahle der Taschenlampen, fast wie Rampenlicht und er sah die roten leuchtenden Punkte auf Raymond von den Scharfschützengewehren, fast wie Glühwürmchen und er sah Raymond im hellen Schein, die Arme ausgebreitet, nur umgeben von Licht, fast ein Engel.
Und er konnte sich keinen Zentimeter bewegen. Er kniete im Sand unfähig die Beamten aufzuhalten als sie Raymond übermannten, ihn auf den Boden drückten und ihm Handschellen anlegten. Es war als würde man dabei zusehen, wie einem Engel die Flügel abgesägt wurden.
Und er sah wie Weddington auf ihn zu gerannt kam mit einer Decke, ganz wie der Vater, den Milo nie wirklich hatte.
„Stopp!", schrie Milo so laut, dass es ihm fast die Kehle versenkte und es war als würde tatsächlich alles verstummen. Und niemand bewegte sich mehr. Doch vor allem sah Raymond ihn endlich an.
Und aus Milo sprudelten die Worte, wie das Blut aus seinen Wunden: brennend, unermüdlich und unglaublich schmerzvoll.
„Weißt du noch bei unserem ersten Date? Wir tranken Kaffee und es regnete. Ich fragte dich wofür das C in deinem Namen stand: Raymond C. Sutcliffe und du antwortetest, dass du es mir nicht verraten würdest. So stur wie ich bin meinte ich, ich würde es selbst herausfinden, woraufhin wir eine Wette abgeschlossen hatten.
Weißt du es noch?
Ich weiß es jetzt.
Das hier ist mein und dein Ende, es tut mir leid, Raymond Charles Sutcliffe, doch ich kann nicht mit und auch nicht ohne dich leben. Nicht in diesem Leben. Aber...ich werde dich immer lieben. In jedem Leben."
Und dann trat Milo einen Schritt zurück. Der wohl bedeutendste Schritt in seinem Leben.
Ein Schritt ins Nichts. Und er hörte das Schreien der See und er sah die spitzen Felsen, fast wie Hände, die nach ihm langten.
Als die Sonne aufging ertönte ein markerschütternder Schrei eines Geliebten und Liebenden. Doch die Wellen ließen sich davon nicht beirren. Sie schlugen weiterhin lautstark gegen die Brandung und doch klangen sie dabei fast schon melancholisch.
Und die Gischt war nicht länger schneeweiß und unschuldig, sondern blutrot.
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Danksagung
Hallo ihr Lieben!
Während dieses letzten Kapitels war ich sehr nostalgisch, ich wollte dieses Buch in einem emotionalen Höhepunkt enden lassen und ich hoffe das ist mir gelungen. „Geistesblitz." ist mein fünftes Buchprojekt und mein bisher - zumindest aus meiner Sicht - mein Bestes.
Ich bin sehr zufrieden mit diesem Ende. Für mich gab es von Anfang an in dieser Story kein Happy End für Milo und Raymond. Ich hoffe ihr könnt das nachvollziehen. Raymond handelte zwar aus dem Willen der Gerechtigkeit, doch Mord bleibt Mord. Ich hätte es als unrealistisch empfunden mit einem Happy End zu enden.
Ich finde Milos und Raymonds Liebe ist wie ein Feuerwerk - versenkend, wunderschön und vor allem eins: kurzweilig. Und so sollte auch ihr Ende sein.
Während dieser Zeit haben mich eure Kommentare sehr geprägt. Ich habe es geliebt eure Theorien zu lesen und wie nah ihr dem Plot immer kamt.
Mir bleibt also nur zu sagen: Danke fürs Lesen!
Was kommt in Zukunft so von mir?
Einige von euch, die mich schon länger verfolgen, wird es sicherlich freuen zu hören, dass ich „Fuchsschweif" (mein zweites Projekt) wieder aufleben lasse. Ich werde die Story komplett überarbeiten und die Kapitel neu hochladen. Natürlich verändere ich dabei nicht den Plot. Nur die Grammatik und die Schreibweise - denn die waren damals grauenhaft, haha.
In Angriff nehmen werde ich auch wieder „Paper Love - unsere Geschichte" (mein viertes Projekt) und ich werde diese Story diesmal auch zu Ende bringen, haha.
Und ich werde mich an einem neuen Genre versuchen: Horror! Ich arbeite gerade an verschiedenen Horror Kurzgeschichten. (:
Es würde mich unheimlich freuen, wenn ihr bei meinen anderen Büchern vorbeischauen würdet.
Und vielleicht liest man sich ja mal wieder!
Dankeschön!
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