Dance Of The Swans
Orientierungslos suchte Milo den Flur vor dem Versammlungsraum nach einer Spur von Raymond ab. Wie konnte sich der Psychiater so schnell bewegen? Milo hatte schon Ausdauerprobleme, wenn er die Treppe zu seinem Appartement hinauf ging. Aus dem Versammlungsraum warf ihm Weddington einen fragenden Blick zu, als wolle er sagen: ‚Was zur Hölle machst du da?' Doch Milo schüttelte bloß den Kopf und formte mit den Lippen das Wort ‚Entschuldigung', er konnte dem Meeting nicht länger beiwohnen. Er musste Raymond finden. Dieser Blick auf dem Gesicht des Größeren, diese unendliche Trauer, die sich in den Augen des Anderen widergespiegelt hatte. Normalerweise war Raymond Milo immer wie ein unerschütterlicher Fels in der Brandung vorgekommen. Er hätte es nie auch nur für möglich gehalten, dass Raymond einmal so wehrlos, so verzweifelt hätte aussehen können. Doch die Augen seines Arztes, hatten eine so tiefe Verwundbarkeit ausgestrahlt, als hätte Milo geradewegs in ein schwarzes Loch gestarrt. Nichts entkam diesem Horizont, nicht einmal Licht. Raymond hatte völlig verloren gewirkt. Milo musste ihn finden.
Der Privatdetektiv spürte die verständnislosen Blicke seiner Kollegen noch im Nacken, als er den Versammlungsraum längst hinter sich gelassen hatte. Aber es gab wichtigeres, als das Ansehen am Arbeitsplatz. Jetzt wusste Milo, was die Nummer eins Priorität in seinem Leben war. Oder besser gesagt: Wer. Dieser Mann bedeutete Milo alles, er liebte ihn.
Auf dem Parkplatz fehlte jede Spur von Raymonds Wagen. Der Wind frischte auf und zog an Milos Locken, als wolle er ihn verspotten. Fröstelnd rieb sich Milo über die nackten Oberarme, er hatte seine Jacke und den Schal im Versammlungsraum vergessen. Die abgeworfenen Laubblätter der Kastanienbäume, die den Parkplatz säumten, flogen Milo um die Füße. Über ihn zogen sich die Wolken bereits verdächtig zusammen.
Mit kalten Fingern zog Milo sein Mobiltelefon aus der Hosentasche und wählte die Nummer des Psychiaters. Es klingelte lediglich einmal, dann ertönten bereits das mechanische Klicken und der dazugehörige Anrufbeantworter. Raymonds Stimme drang kalt und emotionslos in Milos Ohr.
„Dies ist der Privatanschluss Doktor Raymond C. Sutcliffes. Es bedauert mich sehr, doch aus gegebenen Anlässen kann ich gerade nicht abheben. Sollten Sie Fragen bezüglich einer Sitzung haben oder sollte es sich um einen Notfall handeln, bitte ich Sie sich an meine Sekretärin Katrin Rushmore zu wenden oder an meine Dienstnummer. Nach dem Tonsignal können Sie eine Nachricht hinterlassen. Auf Wiederhören."
Fluchend legte Milo auf, Raymond hatte ihn einfach weg gedrückt. Worin bestand der Sinn, dass er ihm seine private Nummer gegeben hatte, wenn Milo ihn eh nicht erreichte? In stummer Verärgerung zogen sich die Augenbrauen des Dunkelhaarigen zusammen. Er kannte keine Katrin Rushmore und auch nicht die Dienstnummer Raymonds. Genau genommen wusste er kaum etwas über den Mann, der ihn angeblich liebte. Ein eiskalter Schauer überkam Milo. Doch er wusste, dass das gerade nicht der richtige Augenblick war, um zu zweifeln. Raymond befand sich in einem psychologischen Stadium, in dem man ihn unmöglich allein lassen konnte. Das sollte er doch zumindest als Psychiater wissen. Milo öffnete die Internetapp seines Telefons und rief das online Telefonbuch Londons auf. Er scrollte bis zum Buchstaben ‚S' und wurde schließlich fündig. Zwar funkelte ihm nicht die Dienstnummer Raymonds entgegen, dafür aber etwas was ihn definitiv auch zum Ziel führen würde. Wenn auch auf Umwegen.
‚Kenneth C. Sutcliffe'
Was man nicht alles tat.
Es klingelte genau wie bei Raymond zuvor einmal, dann schallte eine hysterische Stimme in Milos Ohr.
„Jo, jo, jo! Eins, vier, acht, die drei zur drei, zur sechs, zur neun! Was geht, Bruder?", eine kurze Pause entstand, da Milo erst einmal das Gehörte verarbeiten musste. Als daraufhin die Stimme von Kenneth, oder wie er sich selbst nannte: Kenny, erneut erklang, war sie um einiges leiser und gefasster. „Oder...Schwester? Sorry, ich weiß ja, dass man heutzutage ein bisschen mit den Begriffen aufpassen muss. Ey, ich wollt' dich echt nicht verletzten, Süße! Bist du noch dran?"
Milo erfasste ein erneuter Schauer, diesmal war dieser allerdings nicht der Kälte geschuldet, sondern dem Umstand, dass Kenny ihn ‚Süße' genannt hatte.
„Ja, ich bin noch dran. Hier spricht Milo Chester. Kannst du dich noch an mich erinnern?"
Kurz herrschte Stille, dann vernahm Milo ein belustigtes Schnauben am Ende der Leitung.
„Bist' ja doch n' Dude! Hey, klar kann ich mich noch an dich erinnern! Du bist der Bulle, der mit meinem Bruder schläft.", kam es unverblümt zurück. Milo verschluckte sich beinahe und spürte, wie ihm trotz des kalten Wetters auf einmal heiß wurde.
„Ich...Das ist nicht das, was...", setzte Milo stockend an. Dann besann er sich eines Besseren: Hier ging es nicht darum, irgendwelche Diskussionen zu beginnen, die ins Nichts führten. Hier ging es darum, Raymond zu finden.
„Hör zu, ich weiß, dass wir nicht gerade den besten Start hatten. Aber dennoch denke ich, dass uns eine Sache verbindet: Raymond. Und der ist gerade scheinbar über alle Berge verschwunden und ich muss ihn finden. Ich glaube, er braucht meine Hilfe. Aber dafür brauche ich zuerst deine. Weißt du, wo ich ihn finden kann?"
Am anderen Ende der Leitung wurde es verdächtig still. Dann ertönte ein sehr gedehntes: „Jo."
Milo fragte sich echt, wie man es schaffte ein einsilbiges Wort zu so vielen unterschiedlichen Gefühlsbetonungen umzuformen.
„Ich denke ehrlich gesagt, dass Raymond gerade echt allein sein will.", die Stimmlage Kennys hatte sich abrupt geändert. Sie klang nicht mehr unnötig verzogen, jetzt klang er ernst und gefasst. Dieser Umstand sorgte nicht wirklich für eine Verbesserung Milos Gefühlslage.
„Kenneth, ich meine Kenny, glaub mir bitte, wenn ich dir sage, dass Raymond – was auch immer es ist, das ihn bedrückt – gerade wirklich nicht allein sein sollte. Ich will nur mit ihm reden und wenn er mich wegschickt, dann gehe ich auch. Aber du musst mir bei dieser Sache vertrauen.", Milo schluckte schwer. „Weißt du, ich liebe Raymond. Das tue ich wirklich."
Das ganze auszusprechen, fühlte sich so seltsam an. Aber irgendwie richtig. Nichtsdestotrotz hinterließ es einen bitteren Beigeschmack. Sie hatten es sich noch nicht einmal richtig von Angesicht zu Angesicht gesagt, diese Sache mit dem großen L.
Kenny schien intensiv über die gesamte Situation nachzudenken.
„Okay, Romeo.", ertönte es schließlich. „Das mir das ja nicht zum Verhängnis wird!", drohte er an.
Milo konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.
„Das...ist ein Auto?", skeptisch musterte Milo die rote Rostlaube, die vermutlich vor ewigen Zeiten einmal ein Polo gewesen war. Jetzt hatte Milo das Gefühl, dass jeder Blick, der auf dem Auto lastete, schon zu viel Gewicht verursachen und damit den gesamten Karren zum Einsturz bringen würde. Empört strich sich Kenny die silberblonden Haare aus den Augen.
„Wir können ja auch deinen Wagen nehmen.", symbolisch schaute sich der Größere auf dem Parkplatz um, der bis auf den kleinen, roten VW gespenstisch leer war. Aber schließlich war es auch erst halb fünf Uhr morgens.
„Touché.", machte Milo und musterte Kenny abschätzig, der trotzt der frühen Morgenstunde kein bisschen müde aussah. Er trug eine weite, blaue Baggyjeans, deren Ende mit Schlammspritzern gesäumt war, ebenso wie die blanken Füße des Größeren. Kenny musste seinen Blick gespürt haben, denn er zuckte bloß mit den Schultern.
„Hab' meine Schuhe irgendwie verloren.", erklärte er.
„Ah, ja..."
Während sich der Jüngere auf den angebrochenen Beifahrersitz setzte, bei dem offensichtlich die ein oder andere Feder bereits den Geist aufgegeben hatte, drehte Kenny den Zündschlüssel um, woraufhin der Wagen tatsächlich ansprang, jedoch verhältnismäßig viele Warnsignale aufleuchteten. Milo zog die Stirn kraus, wenn er diese Fahrt überleben sollte, dann waren ihm die Götter wirklich gut gestimmt. Der Privatdetektiv warf einen Blick in den Rückspiegel und sah dunklen Rauch.
„Ist das normal?"
Kenny drehte den Kopf nach hinten, während sich das Auto bereits in Bewegung gesetzt hatte.
„Ach, das? Keine Ahnung, aber ich meine er fährt ja, oder nich'?", der Silberblonde grinste seinen Beifahrer an und Milo beschloss, dass es wohl sicherer sei, das Ganze dabei zu belassen. Wenn sie nicht redeten, dann konzentrierte sich Kenny wenigstens auf die Straße.
Da die meisten Menschen Londons erst gegen halb sechs zur Arbeit fuhren, waren die Straßen verhältnismäßig leer und sie kamen gut voran. Außerdem überschritt Kenny die zulässige Höchstgeschwindigkeit konstant mit 20km/h zu viel.
„Willst du mir eigentlich langsam einmal erzählen, was überhaupt passiert ist, oder mir zumindest einmal sagen, wo wir hin fahren?", fragte Milo schließlich, als er die Spannung nicht mehr aushielt. Die Sorge lastete wie große Betonklötze auf seinen Schultern.
Sein Fahrer warf ihm einen langen Seitenblick zu. Wenn Raymond und sein Halbbruder eins gemeinsam hatten, dann waren es ihre monotonen, undurchdringbaren Blicke. Milo konnte beim besten Willen nicht deuten, welche Gefühle Kenny gerade hegte. Und dabei war genau das Deuten von Menschen sein Spezialgebiet. Nur die Sutcliffe Brüder waren wie meterdicke Stahlwände.
Kenny seufzte ergebend. „Du weißt ja bereits, dass wir nur Halbbrüder sind.", begann er schließlich. „Wir haben einen gemeinsamen Vater. Ein renommierter Rechtswissenschaftler. Raymond ist ungefähr eineinhalb Jahre älter als ich. Unser Vater war schon vor Raymonds Geburt mit meiner Mutter, ebenfalls Juristin, verheiratet. Lernte dann allerdings Raymonds Mutter kennen. Marilyn war Sekretärin, genauer gesagt die Sekretärin unseres Vaters. Sie hatten eine Affäre, bei der Raymond entstand. Ungewollt. Natürlich hat sich unser Vater der Verantwortung angenommen, doch Marilyn – Raymonds Mutter – wurde aus ihrem Dienst und aus der Familie regelrecht entlassen."
Milo musterte Kenny, dessen Augen sich urplötzlich schrecklich für die Straße zu interessieren schienen. Er hatte den Blick bewusst abgewandt. Jetzt brach die undurchdringbare Mauer doch ein wenig ein. Milo erkannte vor allem eins: Schmerz.
Er schluckte schwer und wappnete sich mental.
„Was ist passiert?"
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Ich möchte euch für 30K Reads und fast 4K Votes danken! Das bedeutet mir wirklich viel, ebenso wie eure ganzen lieben Kommentare im letzten Kapitel. (:
Es tut mir leid, dass in den letzten Kapiteln kaum Interaktionen zwischen Raymond und Milo stattfanden, doch ihre mentale Distanz ist wichtig, für den Fortgang der Story. Ich hoffe ihr versteht das. (:
Danke fürs Lesen!
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