Concerto for 4 Violins in B minor
Stockend und immer wieder stolpernd, schleppte sich Milo den kleinen Hügel, der nun mal bedauerlicherweise auf der Well Road lag, entlang. Normalerweise lief er die Straße, die zu Raymond führte nicht östlich hinauf und kam dabei bisher noch nicht sehr oft an dem nervigen Hügel vorbei. Doch heute, wo ihn Green an der East Heath Road abgesetzt hatte, blieb Milo nichts anderes übrig als von dieser Seite zu Raymond zu gelangen. Sonst nahm er immer die U-Bahn, deren Station weniger als 300 Meter von dem Appartement des Psychiaters entfernt war. Doch er hätte seinem Kollegen ja auch unmöglich sagen können, wo er hin wollte. Green war ohnehin schon skeptisch geworden.
„Kommen Sie nicht aus ‚Waltham Forest'? Was wollen Sie dann in ‚Hampstead'? Sind Sie sicher, dass ich Sie lieber doch nicht ins Krankenhaus fahren soll, sie bluten immer noch.", hatte der Inspektor den Jugendlichen noch vor dessen Ausstieg gefragt, und Milo hatte schon gedacht er wäre dem nervigen Small-Talk bereits entronnen, doch das Universum hatte immer wieder Mist für einen übrig. So wurde es immerhin nicht langweilig, wenn man sich stetig Alibis ausdenken musste. Milo fragte sich insgeheim, ob er bald eine Liste anfangen sollte, mit seinen bisher genutzten Ausreden –nicht, dass er sich irgendwann noch ungewollt selbst belastete. Andererseits war Green auch nicht wirklich eine einschüchternde Person, geschweige denn jemand, gegenüber dem sich Milo rechtfertigen musste. Also hatte er mit einem Schultern-Zucken erwidert: „Ich wüsste nicht, was das Sie angeht.", und hatte den Wagen verlassen. Und während der Jugendliche bereits seinen Weg durch die verschachtelten Straßen suchte, ließ Green noch einmal das Beifahrerfenster herunter und rief seinem Kollegen nach: „Gehen Sie zum Arzt, Sie verdammter Idiot!"
Und in gewisser Weise war Milo ja gerade auch auf dem Weg zum Arzt. Raymond hatte schließlich ein Doktor vor seinem Namen. Der Privatdetektiv hatte die gesamte Situation einfach milde eingeschätzt. Die aufgerissene Schusswunde, die Prellungen nach seinem Sturz und der feine Schnitt an seinem Hals, hatte er im Auto kaum gespürt. Das Adrenalin war ihm weiterhin durch die Adern gerauscht, doch jetzt – nachdem er bereits schon zehn Minuten unterwegs war (sonst brauchte er nur fünf) – begann sich das Hormon wohl langsam aufzulösen und Milo spürte bei jedem Schritt das unermüdliche, schmerzvolle Pochen seiner Schulter. Wenn er versuchte so zu laufen, dass er die Schulterpartie so wenig beanspruchte wie möglich, dann meldete sich wiederherum sein Oberkörper mit einem schmerzenden Ziehen. Der Sturz von der Leiter war wohl härter gewesen, als Milo gedacht hatte. Er hoffte nur, dass er sich nichts gerissen oder verrenkt hatte. Er hasste Chiropraktiker. Bei diesen Ärzten fühlte er sich immer, wie ein übermenschlich großes Knick-licht.
Es war mittlerweile schon früher Nachmittag und einer der Wintertage, in der die Sonne so übertrieben schien, dass man Sätze wie: ‚Ist es schon wieder Sommeranfang? ' als Zeitungsüberschrift an jedem Kiosk lesen konnte. Und trotzdessen, dass gefühlt alle Londoner in T-Shirts herum liefen, zitterte Milo vor Kälte am ganzen Körper.
Seufzend betrachtete der Jugendliche den Weg, der noch vor ihm lag. Er hatte das Gefühl, gar nicht voranzukommen. Und während er sich so auf den Weg konzentrierte - er war wirklich nur wenige Sekunden unkonzentriert gewesen - verloren seine Füße sämtlichen Halt. Unbeholfen stolperte Milo nach vorne und konnte gerade noch die Arme ausstrecken, um seinen Fall etwas abzufedern. Seine bloßen Hände landeten hart auf dem Teerboden und kleine Steinchen bohrten sich in seine Hautoberfläche. Kraftlos fiel der Jugendliche auf die Seite, woraufhin eine weitere Welle des Schmerzes von seiner Schulter hinunter in seinen Arm schoss. Schmerzerfüllt stöhnte Milo auf und stieß eine Reihe Flüche aus, die von der besorgten Stimme einer Frau, welche das gesamte Szenario von der gegenüberliegenden Straßenseite beobachtet hatte und nun eilig die Straße überquerte und auf den Jugendlichen zu schritt, unterbrochen wurden.
„Du meine Güte!", stieß sie etwas außer Atem aus, als sie Milo erreichte, „ich hielt sie für betrunken und habe deswegen nicht sofort eingegriffen, aber sie bluten ja stark!"
Der Dunkelhaarige warf einen Blick über die Schulter, um die Frau, die ungefähr fünfzig sein musste, mit gefärbten roten, aber bereits am Ansatz ergrauten Haaren, zu betrachten. Sie trug ein weites mit blumenbedrucktes Sommerkleid und einen langen schwarzen Mantel darüber, als würde sie verzweifelt versuchen zwei Jahreszeiten miteinander zu kombinieren.
„Soll ich den Krankenwagen rufen?"
Sofort rappelte sich Milo auf. Warum konnte die gesamte Welt ihn nicht einfach in Ruhe lassen?
„Nein.", er warf der Dame noch einen vielsagenden Blick zu, klopfte sich den Dreck von der Hose und machte sich dann weiter an den Aufstieg. Doch die Rothaarige Jahreszeiten-Verknüpferin wollte nicht so schnell aufgeben. Angespornt eilte sie dem Jugendlichen nach.
„Hat man Sie angegriffen? Soll ich die Polizei rufen?"
Milo wusste es gab nur eins, was diese schrullige alte Dame in die Flucht schlagen würde, also drehte er sich ganz langsam zu ihr um, fokussierte sie aus giftig-grünen Augen und sagte so ruhig wie möglich: „Ich habe gerade einen Massenmord begangen und das letzte Opfer hat mich angeschossen."
Und dann rannte die Rothaarige auch schon den gesamten Berg hinunter, während sie gleichzeitig versuchte ihr Handy aus der Handtasche zu fischen. Scotland Yard würde heute wohl Überstunden machen. Wirklich äußerst schade für Green, dachte Milo sarkastisch. Vielleicht war diese Methode ein wenig zu makaber gewesen, doch Milo schrieb es dem Schlafentzug zu, dass er an dermaßen viel Desinteresse und Konzentrationsmangel litt.
Schultern zuckend – ein weiterer fataler Fehler – setzte der Privatdetektiv seinen Weg also weiter fort.
Da war er wieder...Dasselbe mit übertrieben, schicken Ornamenten geschmückte Haus, dieselbe hoch-technologisierte Sprechanlage, dieselbe schrecklich unleserliche Handschrift und dieselbe monotone Stimme, die sich meldete, nachdem Milo: „Ich bin's.", in das Mikrofon gehaucht hatte.
„Ist offen.", Raymonds Aussage wurde von dem dumpfen Surren des Türöffners unterlegt. Seufzend drückte Milo die Haustür auf. Mit einer Schusswunde merkte man erst einmal wie schrecklich Treppen waren. Wirklich, wer zur Hölle brauchte Treppen? Der Privatdetektiv konnte getrost darauf verzichten!
Der Aufstieg allein bis zur Birkenholztür die zur Praxis führte, dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Die Schmerzen waren mittlerweile unerträglich, sämtliches Adrenalin schien wie verflogen und ersetzt durch Müdigkeit, die nun durch Milos Adern zu fließen schien. Er sah bereits schwarze Pünktchen am Rande seines Sichtfelds tanzen.
Der Dunkelhaarige brauchte offensichtlich so lange, dass Raymond ungeduldig die Wendeltreppe hinunter in seine Praxis Schritt, um die Wohnungstür für seinen Freund bereits zu öffnen. Wer weiß, vielleicht transportierte Milo ja irgendetwas Schweres oder er hatte jemanden im Treppenhaus getroffen, mit dem er sich jetzt unterhielt. Andererseits passte ‚diskutiert' wohl besser zu Milo, als ‚unterhielt'. Womöglich musste Raymond ja Streitschlichter spielen.
Also öffnete der Psychiater die frisch polierte Birkenholztür und was er sah, versetzte ihm einen solchen Schock, dass der halbvolle Kaffeebecher ihm aus der Hand glitt und mit einem lauten Dröhnen auf dem Parkett zerschellte. Milo hatte den Fuß der Treppe erreicht und stützte sich taumelnd und mit schmerzverzerrtem Gesicht an der Wand ab. Sofort hechtete Raymond nach vorne und fing den Jüngeren auf, als dieser sich – offenbar sicher, dass er es auch ohne eine Stütze schaffen würde – von der Wand abstieß und seine Knie beinahe synchron unter ihm zitternd einknickten.
Raymond schlang die Arme unter die Schultern des Jüngeren und hielt ihn sanft und vorsichtig auf den Beinen.
„Milo...", hauchte er erschrocken und strich dem Privatdetektiv die Locken, die nass an seiner mit Schweißperlen überzogenen Stirn klebten, aus den Augen. Mit runzelnder Stirn bemerkte der Psychiater das offensichtlich starke Fieber seines Freundes.
„Du verglühst ja, was ist passiert?", fragte er sofort und fügte dann mit einer anderen Stimmlage, die Milo an den Warnruf eines wilden Tiers erinnerte, hinzu: „Wer war das?"
„Mir ist kalt.", brachte Milo als Antwort zu Stande und schlang die Arme um seine neu gewonnene Wärmequelle. Seufzend musste sich Raymond eingestehen, dass er in diesem Zustand vermutlich keine Antworten mehr aus dem Jüngeren herausbekommen würde. Besorgt beäugte er die Verletzungen seines Freundes. Der weiße Rollkragenpullover war beinahe bis zum Saum mit Blut getränkt. Raymond kannte diese Verletzung bereits, die Schusswunde von O'Kelly, die in den letzten Tagen immer mal wieder aufgerissen war. Schließlich bewegte man die Schulter ständig irgendwie und gerade Milo, der immer mal wieder über das Körpergefühl eines Elefanten auf einem Seil verfügte, schaffte es stetig durch zu schnelle Bewegungen, die feinen Drähte, die die Wunde zusammenhalten sollten, aufzureißen. Doch bisher hatte er es noch nicht geschafft, dass die Schusswunde so zerklüftet dalag, als hätte man nochmal auf ihn geschossen. Auch der feine, aber tiefe Riss an Milos Hals bereitete Raymond Sorgen. Die Ränder der Wunde verfärbten sich bereits dunkel, das erste Anzeichen für eine Infektion.
Vorsichtig versuchte Raymond die Position von Milo in seinen Armen zu ändern, lange konnte er ihn so nicht halten, doch der Jugendliche stieß einen wimmernden Laut aus, der dem Älteren wie ein Schnitt durchs Herz ging. Besorgt blickte er auf Milo herunter, doch dieser hatte die Augen schmerzerfüllt geschlossen und schien nicht ansprechbar.
„Kleiner, das wird jetzt etwas wehtun, lass mich dich nur hochheben, okay? Wir können hier nicht mitten im Treppenhaus stehen bleiben.", sagte Raymond – mehr zu sich selbst, als zu Milo. Dann löste er vorsichtig die Arme des Jugendlichen, welche sich um den Rumpf des Psychiaters geschlungen hatten, ging etwas in die Knie und legte dann jeweils einen Arm unter die Kniekehlen und den Rücken des Dunkelhaarigen. Milo stöhnte, als der Ältere seine Position änderte, wehrte sich allerdings nicht dagegen.
„Dann flicken wir dich mal wieder zusammen.", hauchte Raymond und trug den Privatdetektiv in seine Praxis.
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