Die Überzeugung
Kuronirokiani riss sie aus ihrer Starre. Ein Farbenmeer aus Rottönen stürmte auf ihre Gedanken ein. Die Intensität der Farbe überraschte sie. Ihre Verbindung zu der Geisterschwinge war noch nicht vollständig geheilt. Dennoch nahm sie seine Regungen deutlich wahr.
„Raus", vernahm sie Kuro in ihren Inneren. „Lass mich frei!". Die Stimme der Geisterschwinge klang in ihrem Kopf wie aus weiter Ferne. Fast wie ein Flüstern im Wind. Dennoch verstand sie jedes Wort und sie erahnte, wie dringlich die Bitte von Kuro war.
Mara gehorchte, legte den Rucksack ab und öffnete die Schnallen. Kuro sprang heraus und positionierte sich schützend vor sie.
„Freund in Gefahr!".
Sie erkannte, dass Kuronirokiani sein Fell auf dem Rücken sträubte. Ein Knurren drang aus seiner Kehle. „Ich werde ... beschützen."
Kiran stellte sich an Kuros Seite und ohne zu überlegen, erschuf der Erdbändiger einen großen Wall neben ihnen, der sie vor den Windströmen schütze.
Matheo wütete weiterhin in den Reihen der Wächter. Die Automobile lagen verstreut auf dem Boden. Die Laternen flackerten aufgrund des Windes. Schreie erklangen durch die Luft und schallten von den Häuserwänden wider. Das Chaos, das der Windbändiger anrichtete, war fatal. Die Angreifer hatten es mit einem unsichtbaren Gegner zu tun. Soweit Mara die Lage einschätzte, war unter den Wächtern kein Luftbändiger, der Matheo Einhalt gebieten konnte.
Mara wand ihren Blick zu ihrem kleinen Freund. In ihren Gedanken vernahm sie den Zwiespalt, der in Kuro tobte. Die wütenden Emotionen nahmen zu und sie bemerkte, wie seine Gestalt größer wurde.
Sie beobachtete, wie um ihn herum die Luft vibrierte. Sein Fell wurde dunkler, bis es komplett schwarz war. Das Flimmern nahm zu und die Form der Geisterschwinge wuchs. Mara wich ein paar Schritte zurück und erblickte, wie Kuro zu dem dubiosen Wesen wurde, das sie vor dem bösen Geist wenige Wochen zuvor beschützt hatte. Vor Mara stand eine schwarze Gestalt, die die Form einer überdimensionalen Geisterschwinge hatte. Das Blau der Flügel war einem dunklen Braun gewichen. Der Körper von Kuro war geschwärzt und seine Augen strahlten in einem intensiven Blau. Die Konturen seines Leibes schienen in der Dunkelheit zu wabern. Mara kam es so vor, als würde sich die Essenz von der Geisterschwinge auflösen.
In ihren Gedanken blieb Kuronirokiani präsent, und sie erkannte seinen Zorn. Die Rottöne waren intensiv und überschatteten fast jeden Denkvorgang in ihrem Kopf. Das Wesen spannte seine Muskeln zum Sprung an. Bereit, dem Luftbändiger zu Hilfe zu eilen.
„Halt!", rief Mara. „Bleib hier!"
Kuro hielt in seiner Bewegung inne. Der große Kopf, der sie um drei Meter überragte, drehte sich zu ihr herum. Ein Schauer durchfuhr sie, als die kristallblauen Augen sie fixierten.
In dem Moment, in dem sich Kuro verwandelt hatte, wurde ihr etwas klar. Matheo hatte seine Worte direkt an die Geisterschwinge gerichtet, und das nicht ohne Grund. Er kennt sich mit den Wesen, die eine besondere Verbindung zu der Natur haben, bestens aus. Die letzten Wochen war der Wissenschaftler nicht untätig und hat versucht, so viele Informationen wie möglich über die Geisterschwingen herauszufinden. Er baute auf Kuros Fähigkeiten und dieses Gefühl teilte sie mit ihm.
„Wir müssen fliehen. Matheo ermöglicht uns die Flucht. Hast du ihn nicht gehört? Er vertraut auf dich und dass du uns von diesem Ort wegbringst."
Der Zorn in Kuro ließ nach. Die Rottöne in ihrem Kopf nahmen ein sattes Orange an. Um Mara besser zu verstehen, senkte er sein Haupt auf Augenhöhe mit ihr.
„Wie?", fragte eine laute Stimme in ihren Gedanken.
„Sei frei und fliege", entgegnete Mara und ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.
Ein Grollen entwich Kuronirokianis Kehle, doch der große Kopf nickte ihr verständlich zu. Die Farben in ihren Gedanken wurden sanfter und seine wütenden Überlegungen flauten ab.
„Kannst du dich noch an unser Gespräch und unser Versprechen erinnern? Du wolltest die Welt hinter der Mauer mit mir sehen. Hier und jetzt haben wir die Möglichkeit, zu entkommen. Gemeinsam. Seite an Seite", fuhr sie unbeirrt fort. Das Tosen des Windes nahm um sie stetig zu, sodass sie gezwungen war, über den Lärm hinweg zuschreien. Doch ihr Freund verstand sie.
Kuro hob seinen Kopf, sah zur Mauer und aus seiner Kehle drang ein lauter Schrei. Der Laut hallte von dem Wall ab und schien anzuschwellen. In ihren Gedanken explodierte ein Farbenmeer und auf Maras Lippen stahl sich ein Lächeln. Sie war froh, dass sie ihrem Freund Einhalt geboten hatte, bevor er eine unüberlegte Tat vollbracht hätte.
Nach seinem Gefühlsausbruch senkte Kuro seinen Kopf erneut auf ihre Augenhöhe.
„Fliegen?", drang die Frage in ihre Gedanken.
„Wir schaffen das gemeinsam. Stell dir vor, wie du frei von jeder Last in den Himmel steigst."
Kuro zwinkerte ihr zur Bestätigung zu. Mara überwand die Entfernung zu ihm und legte vorsichtig ihre Hand auf seine Stirn. Überrascht stellte sie fest, dass ihre Finger in warmes Fell griffen. Behutsam strich sie der Geisterschwinge über den Kopf. Zufrieden kam ein sanftes Geräusch von Kuro, das seinen ganzen Körper vibrieren ließ.
Ein lauter Knall löste die vertraute Stimmung. Mara sah sich nach Kiran um und entdeckte den Erdbändiger wenige Meter neben sich. Sie sah, dass ein weiterer Erdwall Automobile unter sich begraben hatte.
Der Mann schaute sich zu ihr um und seine Augen trafen auf ihre. Mara winkte ihm zu sich heran. Kiran wandte seinen Blick ab und sah vorsichtig zu der Geisterschwinge.
„Hab keine Angst", sagte sie. „Kuronirokiani ist bei vollem Verstand. Nicht so wie das letzte Mal, als er auf den anderen Geist zugestürmt war."
Kiran nickte. „Wie kommen wir hier raus?"
„Nun, ist es an dir, uns zu vertrauen." Mara beobachtete, wie Kiran verwirrt eine Augenbraue hob, doch nach einem kurzen Zögern stahl sich ein kleines Lächeln auf seine Lippen.
„Kuro, bring uns hier raus."
„Was ist mit Matheo? Wir können ihn nicht allein lassen."
Mara schüttelte ihren Kopf. „Er hat sich dazu entschieden, uns die Möglichkeit zur Flucht zu ermöglichen. Wir sollten diese Chance nutzen und von hier verschwinden."
Kiran nickte ihr zur Bestätigung zu, um seine Stimme vor dem Lärm zu schützen. Ein Windstoß signalisierte den beiden Menschen, dass sich die Geisterschwinge auf seine Hinterläufer gesetzt hatte. Folglich streckte sie ihre Vorderbeine nach ihnen aus. Ohne einen Funken Angst in ihren Gedanken ließ es Mara zu, dass ihr Freund sie in seine Pranken nahm. Vorsichtig schloss Kuro seine Klauen um sie. Mit einem Seitenblick erkannte sie, dass es Kiran ähnlich erging.
Ein weiterer Luftzug verriet Mara, dass die Geisterschwinge ihre Flügel ausbreitete und zunächst etwas unkontrolliert bewegte. Ein Ruck fuhr durch seinen Körper. Die anfänglich unregelmäßigen Bewegungen fanden ihren Rhythmus, und die Geisterschwinge hob vom Boden ab.
„Du fliegst!", rief Mara und aufgrund ihrer Verbindung zu Kuro nahm sie das gleiche Gefühl wahr.
Sie gewannen an Höhe und die Mauer kam mit jedem weiteren Flügelschlag immer näher.
Der Flug kam Mara wie eine Ewigkeit vor. Die Kraftanstrengung, die Kuro aufbrachte, um in die Luft zu steigen, war für die ungeübte Geisterschwinge immens. Noch nie ist es Kuro gelungen, sich eigenständig in die Winde zu erheben. Sein Körper zitterte und in ihren Gedanken vernahm sie von ihm eine unermessliche Konzentration. Dennoch bewegten sie sich kontinuierlich auf die Mauer zu.
Kurz vor ihrem Ziel jaulte Kuronirokiani schmerzhaft auf und sie sanken überrascht nach unten. Mara fand die Ursache von seinem Schmerz wenige Meter über ihr. Ein Feuerball hatte ihn knapp am Flügel getroffen. Sein schwarzes Fell rauchte und Kuros Leiden drang in ihren Kopf.
Ein weiteres Geschoss flog an ihnen vorbei und Mara erblickte, dass dieses aus den Flugzeugen abgeschossen wurde.
„Hör nicht auf, mit den Flügeln zu schlagen!", hörte sie die Stimme von Matheo über den Platz schallen. Unter sich erkannte sie, wie der Professor auf sie zu rannte. Die Wächter waren ihm dicht auf den Fersen. Doch anstatt sich auf seine Verfolger zu konzentrieren, streckte Matheo seine Hände nach oben. Ein Luftzug erwischte die Wächter um ihn herum und Mara umfing eine kühle Brise, die unter Kuronirokiani zunahm. Der plötzliche Windstoß schleuderte die kleinen Flugzeuge durch die Luft und verloren somit ihren Kurs. Aufgrund der Nähe zur Mauer wurden die Flieger an das Gestein gedrückt. Flugunfähig taumelten die Gefährten gegen den Boden. Der Beschuss wurde eingestellt und die Umgebung war wieder sicher.
Die Geisterschwinge fasste neuen Mut und seine Flügelschläge gewannen erneut an Kraft. Mit einer letzten Kraftanstrengung schwangen sie sich über die Mauer und Mara sah am Horizont die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne, die auf die neue Welt vor ihnen strahlten. Kuro griff auf das Gestein der Steinwand und hievte sich über die Barriere. Mit einem Sprung löste er sich vom Untergrund und breitete seine Schwingen aus. Gemächlich und ohne Flügelschläge glitten sie auf den Sonnenuntergang zu.
„Welt ... hinter ... Mauer", drang Kuros zufriedene Stimme in ihre Gedanken. Ein Farbenmeer explodierte in ihrem Kopf und ein Lächlen stahl sich auf ihre Lippen.
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