Die Kraft der Elemente
Mit schnellen Schritten lief Mara durch die Straßen. Je weiter sie sich von dem Viertel entfernten, in dem der Geisterangriff stattgefunden hatte, desto mehr Menschen tummelten sich wieder auf der Straße. Zudem erklangen die Sirenen, die das Ende des Angriffes ankündigten. Am Himmel erschienen langsam die bunten Lichter, die dem Tag vertrieben und die Nacht erhellten. Die Lichter schienen heute heller zu scheinen als gewöhnlich.
Mara und Kuro schwiegen den ganzen Weg bis zur Bibliothek und schon bald konnte sie in ihren Gedanken spüren, wie Kuro im Rucksack eingeschlafen war. Mara hing ihren Gedanken nach und versuchte das soeben Geschehene zu verarbeiten. Der fremde Mann, die Verwandlung von Kuronirokiani und der wütende Geist spukten in ihren Gedanken umher. Noch nie hatte sie einen Geist aus der Nähe gesehen. Ihr war es ein Rätsel, wie sie dem Geist quasi in die Arme laufen konnte. Er schien zu Beginn des Alarms der Sirenen weit weg zu sein. Doch die Distanz schrumpfte in kurzer Zeit sehr schnell.
Ihre Verletzungen haben Mara daran gehindert, dass sie, wie die anderen Menschen, davonlaufen konnte. Nach längerem Überlegen gelangte sie zu keiner Lösung und entschied sich, dass es purer Zufall war, dass der Geist genau in ihre Richtung sein Unwesen getrieben hatte.
Mara war froh, dass der Fremde ihnen zu Hilfe gekommen war. Verbissen stellte sie fest, dass der Mann nun das Geheimnis von Kuros Existenz wusste. Sie hatte die Hoffnung, dass er die Geisterschwinge als gewöhnliches Wesen gesehen hatte und nicht als das schwarze Wesen, zudem Kuronirokiani geworden war. In kürzester Zeit hatte sie den jungen Mann mehrmals in ihrer unmittelbaren Nähe gesehen. Zuerst an der Laterne lehnend vor dem Anwesen der Rids, dann in der Bibliothek und jetzt bei dem Geisterangriff. Sie war sich indessen sicher, dass dies keine Zufälle waren. In gewöhnlichen Situationen hätten in Maras Gedanken die Alarmglocken gelitten. Ein Fremder, der sie verfolgte? Das konnte nichts Gutes heißen.
Dennoch war ihr Gefühl alles andere als ängstlich oder vorsichtig. Eher im Gegenteil. Dadurch, dass der Fremde sie und Kuro gerettet hatte, fühlte sie Dankbarkeit.
Das Gefühl in ihren Beinen, dass sich die Erde unter ihr bewegt hatte, hat sie sich nicht eingebildet. Außer dem kleinen Mädchen in ihrer Klasse, das die Luft beherrschen konnte, kannte Mara keine anderen Menschen, die die Elemente beherrschten. Dafür sorgte die Regierung zur Genüge und sperrte diese Menschen weg.
Dennoch war sich Mara sicher. Der Fremde hat die Erde mit seiner Kraft bewegt, um sie vom Angriff des Geistes zu retten.
Mara war so sehr in ihren Gedanken versunken, dass sie nicht bemerkte, wie sie die Treppen zur Bibliothek hinauflief. Erst als sie durch das große Tor schritt und die Dame vom Vortag sie freundlich grüßte, wurde sie aus ihren Gedanken gerissen.
Mara grüßte die Dame ebenfalls und schritt an dem Empfangstresen vorbei. Sie kannte den Weg zu Matheos Räumlichkeiten. Vor der Tür angekommen, klopfte sie an das Holz. Von drinnen kam ein lautes „Herein" und Mara öffnete die Tür, um einzutreten.
Matheo saß hinter seinem Schreibtisch und war in eine Schriftrolle vertieft.
„Ihr seid spät", sagte der Wissenschaftler, ohne den Blick vom Pergament zu lösen. Mara schloss die Tür und trat an den Schreibtisch. Mit einer fließenden Bewegung löste sie den Rucksack von ihren Schultern und öffnete den Verschluss. Kuro sprang mit seinem Satz nach draußen und schüttelte seine Flügel.
„Ich war auf einmal so müde und bin eingeschlafen", sagte die Geisterschwinge und legte seine Flügel an den kleinen Körper.
„Wir möchten uns für unsere Verspätung entschuldigen. Wir sind in einen Geisterangriff geraten."
Matheo hob nach Maras Worten seinen Kopf und blickte sie an. Anschließend legte er die Schriftrolle auf die Seite und bat Mara einen Stuhl an. Dankbar nahm sie die Sitzgelegenheit an.
„Erzähle mir, was passiert ist", verlangte Matheo und Mara begann, die Geschehnisse der letzten Stunden zusammenzufassen. Aufmerksam hörte Matheo ihr zu und ließ Mara reden. Kuro sprang auf ihre Beine und rollte sich zusammen. Bereits nach den ersten Worten war die Geisterschwinge wieder eingeschlafen.
Die Frau erzählte dem Wissenschaftler jedes Detail. Das Einzige, was sie ihm nicht erzählte, war der Fremde. Sie hatte das Gefühl, dass sie ihren Retter vorerst niemandem gegenüber erwähnen sollte.
Sobald Mara mit der Erzählung geendet hatte, lehnte sich Matheo in seinem Stuhl zurück und blickte sie aus seinen smaragdgrünen Augen an.
„Der Geist ist nicht in die Stadt eingedrungen", brach Matheo das Schweigen. Mara blickte ihn schockiert an.
„Wie ist der Geist stattdessen in die Stadt gekommen?"
Matheo seufzte. „Der Geist hat sich bereits in der Stadt befunden. Vermutlich wurde der Geist vor der Mauer gefangen genommen und in die Stadt gebracht. Dein ehemaliger Nachbar arbeitet, wie bereits erwähnt, für die Regierung. Sein Spezialgebiet ist das Fangen von Geistern. Somit konnte er Kuro einfangen und unbemerkt in die Stadt schleusen. Selbst die Regierung weiß vermutlich nichts von Kuronirokiani Existenz."
Mara spürte, wie Kuros Schwanz zuckte. Sie blickte zur Geisterschwinge und stellte fest, dass diese erwacht war und Matheos Worten aufmerksam lauschte.
„Was macht die Regierung mit den Geistern?", wollte Mara wissen. Sie konnte sehen, dass in Matheos Augen eine Traurigkeit lag, während er über ihre Frage nachdachte.
„Warum, glaubst du, sind die Wächter so effektiv gegen die Geister? Die Regierung experimentiert mit ihnen und entwickelt Waffen, die effektiv gegen Geister sind. Sie sind Testobjekte. Ihr müsst wissen, dass Geister für gewöhnlich selten böse sind. Die Qualen, die die Geister während der Experimente ertragen müssen, machen sie rasend vor Wut und Schmerz."
Mara konnte spüren, wie sich die Krallen von Kuros Pfoten in ihre Hose bohrten. Ein leises Knurren drang aus der Kehle der Geisterschwinge.
„Sie misshandeln die Geister?", stellte Kuronirokiani wütend fest. Mara konnte deutlich seine wütenden Emotionen in ihren Gedanken spüren. „Ich kann es nicht glauben, dass Menschen zu so etwas fähig sind!" Mara legte eine ihrer Hände beruhigend auf Kuros Körper und versuchte ihn zu trösten.
„Soll das heißen, dass die Geister ihren Fesseln entkommen konnten?" In Maras Stimme schwang ein Funke Hoffnung mit.
„Das hast du richtig erkannt. Nur leider werden die Geister während ihrer Flucht von den Wächtern umgebracht und vernichtet. Durch die langen Qualen sind sie geschwächt und haben keine Chance auf ein Überleben. Bis jetzt hat es noch kein Geist zurück in die Freiheit geschafft."
Eine unangenehme Stille trat ein. Mara konnte es nicht fassen, dass die Regierung zu solchen Gräueltaten in der Lage war. Für sie war die Regierung immer eine schützende Instanz in ihrem Leben gewesen. Sobald jemand für die Regierung arbeitete, war er ein Teil der „Guten". Doch diese Informationen erschütterten ihre Ansicht und wandelten ihren Blick um. Früher waren die Geister gefährlich und böse, doch mit dem heutigen Tag sieht Mara dies anders. Mara fasste einen Entschluss.
„Sollte ich die Chance bekommen, einem Geist zur Flucht zu verhelfen, werde ich diese ergreifen. Die Konsequenzen sind mir egal."
Bei ihren Worten drehte Kuro seinen Kopf herum. Sein Ärger verflog und wich Glück und Entschlossenheit. „Ich werde dich dabei unterstützen, so gut es geht. Auch ich möchte den Geistern helfen."
„Das ist sehr edelmütig von euch. Ihr dürft nur nicht vergessen, dass die Regierung bereits seit vielen Jahren Geister fängt und erforscht. Sie haben Vorkehrungen getroffen, die gefährlich für euch werden können."
Mara schüttelte ihren Kopf. „Das mag sein, aber wir werden nicht aufgeben."
Matheo seufzte leise. „Ich kann euch nicht umstimmen. Früher oder später wärt ihr in euren Forschungen auf dieses Wissen gestoßen. Ich bin froh, dass ihr den Angriff überlebt habt. Es scheint mir fast, dass der Geist euch gespürt und sich euch gezielt genähert hat."
Mara blickte den Wissenschaftler fragend an. „Er hat uns gespürt?", wollte Kuro wissen und Mara wiederholte seine Frage.
„Ihr habt eine sehr besondere Verbindung. In meinen Forschungen bin ich auf eine Information gestoßen, die euch interessieren könnte", fuhr Matheo fort und legte Mara die Schriftrolle auf den Tisch, die er zuvor in der Hand gehalten hatte.
„Geisterschwingen sind quasi die Verbindung zwischen der Welt der Geister und dieser Welt. Früher lebten die Geister in einer anderen Welt. Aus irgendeinem Grund haben sich die Welten überschnitten und die Geister lebten fortan bei uns. Die Geisterschwingen halfen den Geistern, sich in dieser Welt zurechtzufinden und lange Zeit ging dies gut. Trotzdem gibt es immer Menschen, die die Geister als etwas Böses angesehen haben und begannen sie zu bekämpfen und Städte wie diese zu erbauen. Leider sind die Informationen nur Bruchstücke, doch was ich noch erfahren habe, war, dass mit dem Eintreten der Geister in diese Welt die Menschen begannen, mit Kräften geboren zu werden, die es ihnen ermöglichten, die Elemente zu beherrschen."
Kuro blickte neugierig zu Matheo und auch Maras Interesse war geweckt.
„Wie ihr wisst, können Menschen immer nur ein oder zwei Elemente beherrschen und nicht jeder Mensch kann dies gleich stark. Leider ist dieses Wissen um die Elemente sehr eingeschränkt und strengstens verboten. Jeder Mensch in dieser Stadt, der die Kraft entwickelt und entdeckt wird, wird gefangen genommen. Die Regierung sieht diese Kraft, die in Verbindung mit dem Erscheinen der Geister aufgetreten ist, vermutlich als gefährlich an. Ich schließe nicht aus, dass die Regierung diese Menschen für ihre Zwecke nutzen. Alle anderen Städte praktizieren dasselbe Vorgehen aus Angst vor einer Übernahme der Geister dieser Welt."
Mara ließ ihre Schultern sinken. „Und was haben die Mönche mit all dem zu tun?"
Matheo strich sich kurz über seine Augen. „Die Mönche sind eine Gruppe von Menschen, die bereits vor Eintreten der Geister eine starke Verbindung zur Natur hatten. Um das Gleichgewicht zu wahren, verbanden sich die Geisterschwingen mit den Mönchen und halfen zusammen den Geistern, sich in dieser Welt zurechtzufinden. Ich vermute, die Regierung hat unter anderem das Ziel, die Mönche und die Geisterschwingen auszulöschen. Noch heute stellen sie eine große Bedrohung für die Städte dar. Ihr bekommt das innerhalb der Mauern nicht mit, aber die Mönche kämpfen auf ihre Art gegen den Widerstand der Regierung an. Soweit ich dies aus meinen Schriftrollen herauslesen konnte, beherrscht jeder Mönch bereits vor dem Erscheinen der Geister in dieser Welt mindestens ein Element. Durch die Verbindung mit den Geisterschwingen wird diese Kraft verstärkt. Zudem bekommen die Geisterschwingen durch die Verbindung mit einem Menschen eine größere Macht als zuvor. Ich vermute, dass deine Verwandlung in das große Wesen diese größere Macht ist, Kuro. Leider gehen die Schriften, die ich bisher durchforsten konnte, nicht näher darauf ein."
Kuro zuckte mit seinem Schwanz. „Ich muss lernen, diese Kräfte zu kontrollieren." Ein Gähnen kam aus seinem Mund. „Vor allem sind diese Mächte sehr kräftezehrend." Erschöpft ließ Kuro seinen Kopf auf seine Pfoten sinken. Mara begann, den Rücken der Geisterschwinge zu streicheln. Sie begriff, dass Kuro und sie noch einiges lernen mussten, das weitaus mehr als nur das Fliegen beinhaltete.
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