Die Flucht
Ein Geräusch riss Mara aus dem Schlaf. Vor Schmerzen keuchend, setzte sie sich auf. Die Verletzungen aufgrund der Folter waren noch immer deutlich an ihren Handgelenken zu spüren. Kuronirokiani sprang verwirrt auf den Boden und blickte in Richtung Zellentür.
Mara folgte seinem Blick und bemerkte, dass Kiran in ihrer Zelle stand. Das laute Geräusch waren die Eisenstäbe der Tür gewesen, die gegen die Wand gedrückt wurden.
„Musst du dich so anschleichen?", fragte Mara verärgert. Ihre Stimme klang unbeabsichtigt hart. Als sie ihren Blick hob, bemerkte sie, dass der junge Mann sie mit seinem Blick fixierte. Ein ungutes Gefühl beschlich Mara. „Was ist passiert?", fragte sie Kiran und ihre Stimme nahm einen sanfteren Ton an.
„Wir haben keine Zeit", erklärte Kiran und seine Stimme klang wie ein Flüstern. Verwirrt blickte sie an den schwarz gekleideten Mann herab. Sein Umhang hing von seinen Schultern, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Erst jetzt bemerkte Mara, dass er auf seinem Rücken einen Rucksack trug und zu seinen Füßen zwei weitere Stoffsäcke lagen. Mit einer fließenden Bewegung schmiss er Mara einen Gegenstand vor die Füße. Beim Hochheben fühlte sie einen Stoff, der ihr bekannt vorkam. „Ist das mein Rucksack?"
„Ja", sagte Kiran kurz angebunden. „Kuronirokiani soll sich darin verstecken."
Mara stand langsam auf und blickte zu Kuro. In seinen Gedanken konnte sie die gleiche Verwirrung erkennen, die auch sie verspürte.
„Kannst du uns bitte erklären, was das soll?"
Kiran seufzte genervt. Mara stellte fest, dass Geduld keine Tugend von ihm war. Sie hoffte, ihn nicht zu sehr zu reizen, um wenigstens ein paar Informationen über sein seltsames Verhalten zu erhalten.
„Ich verhelfe euch zur Flucht und werde euch begleiten."
Mara fuhr erschrocken zusammen. Sie konnte die Worte, die aus Kirans Mund kamen, zuerst nicht begreifen. Erst nach mehreren Überlegungen fand sie ihre Stimme wieder.
„Du verhilfst uns zur Flucht? Aber wieso?"
„Das ist jetzt nicht von Bedeutung. Wir müssen uns beeilen. Wollt ihr aus dieser grausamen Umgebung fliehen oder nicht?"
Mara blickte zu Kuronirokiani. Die Geisterschwinge erwiderte ihren Blick. Das Angebot von Kiran überraschte sie. Durch die Gespräche hatte sie mitbekommen, dass Kiran seinem Meister nicht blind folgte. Dennoch hätte sie nie gedacht, dass er seinem Meister den Rücken kehrte, um ihr zu helfen.
Kiran bemerkte ihre Zurückhaltung und ging einen Schritt auf sie zu. Mara konnte unter der Kapuze seine Augen erkennen, die in einem sanften Blau strahlten.
„Was hätte ich davon, euch hier herauszubringen? Sollten wir entdeckt werden, ereilt mich eine viel schlimmere Strafe, als ihr euch je vorstellen könnt."
„Das mag sein. Dennoch kommt dein Sinneswandel unerwartet." Kuro schickte ihr durch seine Gedanken eine Bestätigung.
Kiran hob eine Hand und legte diese auf ihre Schulter. Sein Blick bohrte sich in Maras Augen, und es schien, als versuchte der Mann, die Tiefen ihrer Seele zu ergründen.
„Misstraut mir. Dazu habt ihr jedes Recht der Welt. Ich vertraue für meinen Teil euch beiden. Ihr habt eine Verbindung zueinander, die einzigartig ist. Ich werde nicht zulassen, dass ihr in dieser Zelle verkümmert. Werdet ihr hierbleiben, wird mein Meister härtere Maßnahmen ergreifen. Dass er euch schon länger nicht mehr zu sich gerufen hat, entspringt nur einem Grund: Er möchte euch noch viel schlimmeren Qualen aussetzen." Kiran atmete tief durch, bevor er seinen Redefluss wieder aufnahm. „Ihr müsst mir nicht vertrauen. Das habe ich aufgrund meiner Taten nicht verdient. Dennoch bitte ich euch, mir eine Chance zu geben, meine Taten wiedergutzumachen."
Mara blickte in die eisigen Augen, die ausnahmsweise keine Kälte verströmten. Kirans Worte waren aufrichtig, das erkannte sie. Ihr Blick wanderte zu Kuronirokiani. „Was denkst du?"
Ein farbenfrohes Blitzen erschien in ihren Gedanken und ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.
Mara beugte sich zu Kuronirokiani und hielt der Geisterschwinge die Öffnung des Rucksacks hin. Mit einer fließenden Bewegung verschwand Kuronirokiani in den Tiefen der Tasche, und Mara verschloss die Riemen.
Die junge Frau drehte sich um und blickte Kiran an.
„Danke", sagte er und schenkte ihr ein kurzes Lächeln. Er holte aus einer Tasche einen schwarzen Umhang, den er Mara um die Schultern legte.
„Zieh die Kapuze tief in dein Gesicht, sodass dich keiner erkennt."
Mara nickte ihm zur Bestätigung zu und schulterte den Rucksack. Sie wollte sich soeben nach einem der beiden Stoffsäcke bücken, als Kiran ihre Hände wegschlug.
„Die Taschen trage ich. Du bist verletzt."
Ohne Widerworte hob er die Taschen auf und schulterte sie auf seinen Rücken.
„Bist du so weit?" Mara nickte ihm zur Bestätigung zu.
Kiran drehte sich um und trat aus der Zelle. Mara folgte dicht hinter ihm. Ein nervöses Kitzeln durchfuhr ihren Körper und Kuronirokiani schickte ihr einen beruhigenden Gedanken. Mara wusste, dass sie nicht allein war.
Kiran wendete sich nach links und führte sie aus dem Zellentrakt hinaus. Je weiter sie sich von ihrer Zelle entfernten, desto dunkler wurde ihre Umgebung. Vorsichtig tasteten sie sich weiter vor, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Aufgrund ihrer Umhänge verschmolzen die beiden Menschen mit ihrer Umgebung. Mit langsamen Schritten führte Kiran sie einen Gang entlang. Die seitlichen Wände konnte Mara in der Finsternis nur erahnen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit wendete sich Kiran nach links und blieb vor einer verschlossenen Tür stehen. Unter seinem Umgang holte er einen Schlüssel hervor und sperrte das Schloss auf. Mit einem leisen Klicken schwang die Tür auf und Kiran verschwand in der Öffnung. Mara folgte ihm und schritt durch die Tür. Plötzlich griff Kiran nach ihr und hielt ihren Arm fest. Verwundert blieb sie stehen.
„Vorsichtig", flüsterte Kiran und sie erkannte, dass Kiran auf den Boden deutete. Erleichtert stellte sie fest, dass Kiran sie vor einem Sturz bewahrt hatte. Zu ihren Füßen breitete sich eine Treppe aus, die tiefer in das Erdreich führte.
Mit einem Nicken signalisierte Mara, dass sie ihn verstanden hatte, und sie setzten ihren Weg fort.
So leise wie es ihnen möglich war, schritten sie die Treppe nach unten. Maras Körper war vor Aufregung angespannt. Jedes Geräusch drang doppelt so laut an ihre Ohren. Oft passierte es, dass Mara erschrocken innehielt und sich nach einem Laut umdrehte. Kiran bemerkte wohl ihre Unsicherheit und griff nach ihrer Hand. Mara spürte seine Wärme auf ihrer Haut und sie konnte spüren, wie die Anspannung in ihr langsam nachließ.
Hand in Hand schritten sie die Treppe nach unten, bis diese in einem kleinen Raum endete. An einer Wand befanden sich mehrere Fässer und Kisten. Zudem war die Luft erfüllt von Gerüchen, die Maras Magen knurren ließen. Sie mussten sich in dem Bereich des Gebäudes befinden, in dem die Küche untergebracht war. Der Vorraum diente wohl als Lagerraum für die unterschiedlichsten Lebensmittel.
Kiran schritt an die gegenüberliegende Wand. Erst beim Näherkommen bemerkte Mara, dass sich eine Tür im Gemäuer befand. Vorsichtig legte der Mann ein Ohr an das Holz. Es dauert nicht lange, da riss Kiran die Augen auf und drehte sich um. Mit schnellen Schritten zog er Mara hinter zwei Fässern und ging in die Hocke. Er drückte Mara in die Knie und legte einen Finger an seine Lippen.
Mara nickte ihm zustimmend zu und lauschte auf ihre Umgebung. Mit einem leisen Klicken wurde die Tür geöffnet. Ein lautes Schnaufen war zu hören, und Mara vermutete, dass die eintretende Gestalt etwas Schweres trug.
"Verflixt und zugenäht", fluchte eine unbekannte Stimme. "Wieso muss ich mitten in der Nacht dieses Fass in den Gemeinschaftsraum bringen." Ein Knall war zu hören und mit schlürfenden Schritten entfernte sich die Person.
Die Flüchtlinge blieben so lange hinter dem Versteck sitzen, bis sie keine Geräusche mehr hörten. Mit einem vorsichtigen Blick sah Mara in Kirans Gesicht. Dieser nickte ihr zur Bestätigung zu und sie kamen aus dem Schatten hervor.
Kiran schritt schnell zur Holztür und öffnete diese. Im Dunkeln traten sie in einen größeren Raum. Das Zimmer war so gewaltig, dass Mara die Wände in der Dunkelheit nicht erblicken konnte. Im Innenraum befanden sich mehrere Kochnischen und Regale. Daraus schloss Mara, dass sie sich in der Küche befanden. Mara hatte keine Zeit, die Umgebung naher zu betrachten, da Kiran sie an den Kochfeldern vorbeizog. Seine leisen Schritte näherten sich der gegenüberliegenden Wand. Vor einem großen Tor blieben die beiden erneut stehen.
Mara begriff, dass Kiran mit ihr durch den Eingang für Lieferungen fliehen möchte. Die Idee war gut durchdacht. Mitten in der Nacht würde sich kaum jemand in diesen Räumlichkeiten aufhalten. Die Küchenkräfte waren im Bett, um das baldige Frühstück vorzubereiten. Bis auf den unglückseligen Mann, den sie im Vorraum gehört hatten, würde keiner zur späten Stunde sich in der Küche aufhalten.
Kiran ließ ihre Hand los und griff an einen sperrigen Riegel am Tor. Mit einer ruckartigen Bewegung schob er den Holzverschluss auf die Seite und öffnete den Durchgang. Seine Handbewegung zeigte Mara, dass sie durch den Ausgang schlüpfen sollte.
Ohne erneute Aufforderung trat sie durch die Öffnung. Mara schlug eine angenehme Luft entgegen und da wusste sie, dass sie sich im Freien befanden. Erleichtert atmete sie tief durch ihre Nase und ließ die Frische ihre Lungen füllen. Ein glückliches Gefühl ging von Kuronirokiani aus und in Maras Augen traten Tränen. Nie hätte sie gedacht, dem Horror zu entkommen. In ihrem Körper breitete sich eine Wärme aus, die der Kälte der Luft entgegenwirkte. Ein Lächeln stahl sich auf Maras Gesicht, und sie drehte sich zu Kiran um. Dieser hatte das Tor hinter ihnen bereits wieder geschlossen und trat an ihre Seite.
Kiran beugte sich zu ihr nach unten und flüsterte: "Endlich seit ihr wieder im Freien."
Mit einem Lächeln hob er seine Hand und Mara legte ihre Finger in seine. Mit schnellen Schritten überquerten sie eine freie Fläche. Kiran nutzte jede dunkle Ecke, um sich dahinter zu verstecken. Mara vermutete, dass sich im Außenbereich Wachen aufhalten können und war froh um Kirans Vorsicht.
Ihr Weg führte an ein weiteres Tor. Doch dieses Mal war es geöffnet und anhand der Spuren auf dem Boden vermutete Mara, dass dies der Lieferanteneingang für Fahrzeuge war. Kiran schlüpfte durch den Ausgang und sie folgte ihm. Die Dunkelheit wurde durch den sanften Schein einer Laterne unterbrochen. Erleichtert stelle Mara fest, dass sie sich dieses Mal außerhalb des Grundstückes befanden. Der Mann führte sie zu einer nahen Häuserwand und schritt diese entlang. Ihr Weg führte weiter und die Entfernung zur Festung wurde zunehmend größer. Nach einer gefühlten Ewigkeit blieb Kiran stehen und ließ ihre Hand los. Die Stoffsäcke ließ Kiran zu ihren Füßen gleiten, um seinem Rücken eine Erholung zu gönnen.
"Den ersten Teil haben wir überstanden. Nun muss ich euch zur Mauer bringen und von dort in die Wildnis dahinter."
Mara blickte Kiran verwirrt an. Auch von Kuro kam ein Gefühl des Erstaunens.
"Du willst uns vor die Barriere der Stadt bringen?"
Kiran nickte. "Du möchtest doch dein Versprechen gegenüber Kuronirokiani einlösen, oder?"
"Das stimmt. Ich dachte nicht, dass du uns begleitest."
"Habe ich denn eine andere Wahl? Mein Meister wird spätestens in ein paar Stunden herausfinden, was ich getan habe. Danach wird er nach mir und euch suchen lassen. Die ganze Stadt wird in Aufruhr sein. Wir werden nirgendwo sicher sein, außer vor der Mauer."
Mara ließ sich seine Worte durch den Kopf gehen. "Du hast recht", sagte sie. "Aber bevor wir der Stadt den Rücken zukehren, muss ich noch etwas erledigen."
Die Frau konnte sehen, wie sich in Kirans Gesichtsausdruck Verwirrtheit abzeichnete.
"Ich muss zu einem Freund. Ich möchte nicht aus der Stadt verschwinden, um mich wenigstens bei ein paar Menschen für ihre Hilfe zu bedanken. Zudem hat diese Person nützliches Wissen, das für uns außerhalb der Mauer überlebensnotwendig sein könnte."
Ein genervter Seufzer kam von Kiran. "Also schön. Du wirst nicht nachgeben. Dann gehen wir zu diesem Freund. Wo müssen wir hin?"
Mara lächelte Kiran an.
"Ich danke dir. Wir müssen zur Bibliothek."
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