Die Burg
Geisterrose
Blühend erstrecket sich ein Blümelein hervor,
Bohrend durch die dunkle Erde, es streckte sich dem Mondlicht empor.
Weiß wie die Unschuld trug es Blüten,
Beträufelt von Blut seien ihre Mythen.
Der Geist, der Rose, der ihr wohnte inne,
Wie sehr wünschte er sich, dass die Zeit endlich verrinne.
Dass der Bann gebrochen werde,
Dass die unruhige Seele entweder lebe oder sterbe.
Verharren in der Ewigkeit war eine Qual,
Deshalb hoffte sie auf Erlösung, jedes weitere Mal.
Doch das Warten dauerte lang,
Denn es gab niemanden, der die Angst bezwang,
Zweihundert Jahre waren vergangen,
Und jene Seel' dachte, ihre Freiheit würde sie nie erlangen.
Jeden Tag wurden ihre Blüten welk und lose,
Bis jemand sie befreite, die Verdammnis der Geisterrose.
26. Juni 1868
Gold ergoss sich großzügig über den einst so strahlend blauen Himmel, ein lebendiges Rot folgte nach und hinterließ die Welt in einer feurigen und doch wunderschönen Atmosphäre. Die Abendsonne war nichts weiter als ein kleines Fitzelchen Licht, das schon bald für die Herrschaft der Finsternis den Platz räumen würde. Ein warmer Wind zischte vorbei, wiegte Gräser, Blumen und Bäume sanft in den Schlaf, während das schallende Hufgetrampel der Pferde die ewige Ruhe der unberührten Natur störten.
Der Trampelpfad, bereits halb verwildert, war unbekannt, vielleicht sogar die letzten hundert Jahre nicht betreten worden und der trockene Staub wirbelte sich bei jeder Bewegung der königlichen Pferde auf.
Es war ein ruhiger Sonnenuntergang im Gebiet Cisleithaniens und doch lag eine gewisse Spannung in der Luft, die Mensch und Tier einen Schauer über den Rücken laufen ließ.
Roderich, ein junger Adeliger, der sich geradewegs auf den Heimweg nach seinem Aufenthalt in Transleithanien – der östliche Part Österreich-Ungarns – befand, bemerkte nur wenig von der äußerlichen Beeinflussung auf seiner Reise. Geschützt in seiner kleinen, aber schön ausgestalteten Kutsche mit den handbemalten Fensterläden, hatte er seinen Kopf in ein Buch gesteckt, kritzelte angestrengt darin herum und begutachtete die glänzenden Tintenflecken seiner Noten, die sich im Laufe der Zeit ins Papier sogen und kleine Adern schlugen.
Leise summte er eine Melodie vor sich hin, die er schon den ganzen Tag im Kopf hatte. Roderich bemühte sich, die Noten korrekt zu notieren, war aber immer wieder mit Fehlschlägen konfrontiert, obwohl er für einen Prinzen außerordentlich musikalisch begabt war, anstatt mit Waffen und anderen körperlich anstrengenden Tätigkeiten umgehen zu können.
Ein Blick nach draußen verriet ihm, dass bereits die ersten Sterne am Himmelszelt aufblitzten, die die Nacht mit ihrem weiten dunklen Kleid begrüßten. Roderich gähnte. Wie gerne würde er jetzt in einem angenehmen Bett schlafen und die Reise erst am nächsten Morgen fortsetzen.
Der junge Adelige beobachtete die hügelige, weite Landschaft, ehe sie vom schützenden Wall der Waldbäume unterbrochen wurde. Überrascht vom plötzlichen Wechsel und Abkommen der Straße, die ihn nach Wien bringen sollte, wandte sich Roderich sofort an seine Leibwache, der neben seiner Kutsche auf dem Pferd Ausschau hielt und sich in einen waldgrünen Umhang gehüllt hatte.
„Vash, wo genau sind wir hier?" Roderich hatte ein vertrautes Verhältnis zu seiner Leibwache, weswegen sich die beiden duzten und mit dem Vornamen ansprachen.
„Wir sind im Tauchental nahe der Grenze zum Erzherzogtum Österreich unter der Enns. Unser Hauptweg war von einem Steinschlag verschüttet worden, wir müssen also einen Umweg wählen." Vash bemühte sich nicht einmal Blickkontakt mit seinem Vorgesetzten zu suchen und sprach mit einem starken schweizerdeutschen Akzent.
„Es wird demnächst ein stärkeres Unwetter geben, wir sollten in der nächstgelegenen Raststätte logieren. Die Pferde werden bereits müde." Antonio, ein weiterer Begleiter Roderichs, mischte sich ins Gespräch ein. „Wir erreichen demnächst Burg Borostyanko. Sie ist ganz in der Nähe und es dauert nur noch zehn Minuten."
Roderich nickte verständnisvoll, packte allmählich seine benutzten Utensilien zurück in sein Reisegepäck und betrachtete für den Rest der übrigen Reisezeit die vielen Bäume, die sich um sie herumschlängelten und mit ihren Kronen das Sonnenlicht auffingen. Lediglich kleine Lücken schafften es, ein idyllisches Lichtmuster auf den Boden und die Kutsche zu werfen, die genug Wärme schenkten, sodass Roderich für kurze Zeit die Sonnenstrahlen auf seiner Haut spüren konnte.
Es war eine bildhübsche Gegend, fand der Österreicher, doch seine immer merkbarer werdende Müdigkeit machte es ihm schwer, diese Schönheit zu genießen. Er wollte nur noch schlafen und seine Augenlider wurden zunehmend schwerer, sodass er sich bemühen musste, nicht einzunicken. Seit Stunden war er nun unterwegs gewesen und seine Reise von Budapest Richtung Wien hielt viel Anstrengung versteckt. Deswegen wäre eine kurzweilige Reisepause äußerst angebracht. Er hoffte nur, dass die alte Burg seinem Gemüt zusagte.
***
Aus dem dumpfen Schritt der Pferde wurde lautes Klappern, der Transport in der Kutsche wurde buckelig und vom Wackeln heimgesucht. Sie mussten wohl auf eine steinerne Straße gestoßen sein, die sie zum Tor der Burg Borostyanko leitete. Seiten wurden umgeblättert, schnitten für einen Moment in den Zeigefinger und hinterließen ein mieses Brennen, das hoffentlich bald aufhörte. Roderich hatte in seinem Historienbuch nach Informationen bezüglich Borostyanko gesucht. Etwas war eigenartig an dieser Burg, das spürte er und nicht zuletzt war das kleine Fitzelchen Erinnerung an eine alte Sage, die er vor vielen Jahren hörte, ausschlaggebend dafür.
Angestrengten Blickes überflog er die Seiten, prägte sich die abertausenden Ziffern und Buchstaben sowie deren Bedeutung ein, behielt ein lebendiges Abbild der wiedergefundenen Sage in seinem Kopf. Man munkelte, es spuke in jenem Schloss und eine geisterhafte junge Frau erscheine an bestimmten Nächten und das seit über zweihundert Jahren. Man vermutete eine unruhige Seele, deren Herzschmerz man mit dem spurlosen Verschwinden ihres Gatten verknüpfte. Sie war seitdem aus der Trauer und Sehnsucht an den irdischen Boden gefesselt, war wie ein zerbrochener Spiegel nur noch eine Scherbe ihres alten Selbst, die ruhelos auf die Wiederkehr ihres Geliebten wartete.
Ein Schauer jagte Roderich über den Rücken, hinterließ ihn frierend und unsicher auf seinem Platz. Er glaubte nicht an magische Wesen, sah dieses Gerücht einer Sage nur als einen Haufen Humbug, der möglichst viele schaulustige Besucher anlocken wollte und doch trug er ein angespanntes, mulmiges Gefühl in seinem Bauch, das ihn nach und nach in den schier unendlichen Wahnsinn aus Angst, Einbildung und Hyperventilieren trieb.
Nein, das bildete er sich nur ein. Mit der Burg Borostyanko hatte es nichts Komisches auf sich. Es war lediglich eine abgewandelte Geschichte, ähnlich der, des imaginären Schlossgespenstes der Hohenzollern, nicht wahr?
Die Pferde wurden immer langsamer, das Waldgebiet neigte sich dem Ende zu und ein gigantischer Steinbogen begrüßte die kleine Gruppe. Steinerne Wasserspeier schmückten das Portal, schauten mit ihren finsteren Gesichtszügen auf die neuen Gäste, fast so, als würden sie sie beobachten, sich mit ihren Blicken in ihre Seele bohren. Fast schon andächtig reisten Roderich und seine zwei Begleiter durch den einsamen, alten Torbogen und letztendlich auch durch das, von zahlreichen Schlachten abgenutzten, Burgtor, das trotz seines massiven dunklen Holzes, tiefe Einkerbungen und Dellen besaß. Roderich schluckte.
Er hasste es, trotz seiner Verleugnung der Angst, immer wieder in seine zerbrechliche Erscheinung zu rutschen, die nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich, wie Porzellan wirkte, das jeden Moment zerbrechen könnte. Er war ein Prinz, sollte eigentlich nur so vor Mut trotzen und der Gefahr ins Auge sehen können und doch war es einfach eine riesige Herausforderung, die ihm zu schwer wurde, allein zu tragen.
Er war nicht stark.
Er war nicht mutig.
Er war nur ein ängstliches Kind, das zu groß wurde.
Er war wie das zerbrechliche, zarte Blütenblatt einer...
„Rose...?"
Roderich stockte abrupt, als ihm eine wild gewachsene Rose am Rande des Steinweges ins Auge stach. Ihre Blüten waren schneeweiß, die an den Enden ins Geisterhafte, fast Durchsichtige verschwammen. Schwach erleuchtet von einem hellen Schein streckte sie ihre Blütenkelche in die Höhe, als erkämpfe sie sich das goldene, beinahe schon rötliche Sonnenlicht.
Roderich rieb sich die Augen, putzte seine Brille noch einmal gründlich, bevor er am Vorplatz der Burg ausstieg. Eine leuchtende Rose konnte es nie und nimmer geben, es gab bestimmt eine logische Erklärung dafür. Hierbei war der junge Adelige sich sicher.
Räuspernd richtete er seine Brille und warf instinktiv einen Blick zum selben Platz, an der einst die geisterhafte Rose wuchs. Doch mehr als ein paar Gänseblümchen war nicht mehr zu sehen...
Gänsehaut überraschte ihn und ließ ihn in der Position verharren, ehe sich Vash zu ihm gesellte, ihn aus seiner Starre zerrte und ihm bot, sich ein Gemach für die heutige Nacht aufzusuchen, denn der letzte Sonnenstrahl würde bald erlöschen.
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