Zum Schutz
"Halt still!", fauchte Rabe, der so langsam die Geduld verlor. "Sonst hält der Verband nie."
Widerwillig streckte Shadow sein Bein aus, zuckte jedoch bei der Berührung von Rabes Pfoten, die mit einer dicken Schicht aus Spinnenweben umhüllt war, zusammen. Es war ein unangenehmes Gefühl, wie der schwarzgetigerte Kater sein Bein immer wieder anhob und die weißen Fäden sorgfältig darum wickelte.
"Das ist ein ziemlich tiefer Biss. Komm nächste Nacht noch einmal zu mir, damit ich den Verband erneuern kann", nuschelte Rabe, der gerade ein paar Kräuter zerkaute.
Shadow rümpfte die Nase, als er den Brei auf eine weitere Schicht Spinnenweben spuckte. "Was machst du denn da alles rein?"
Rabe zuckte mit den Schultern. "Etwas Schwarzwurz und Schachtelhalm. Große Klette kommte auch gleich noch dazu."
Schwarzwurz? Was für ein Halm? Shadow verstand keines der Wörter, die der Kater da miaute, und war wieder einmal erleichtert, nicht der Heilerausbildung unterzogen worden zu sein.
Mond hätte noch tausend weitere Fragen gestellt, sagte er sich gedanklich. Ich werde nie verstehen, wie sie sich für diesen stinkenden Kram begeistern konnte. Es klingt für mich weniger verständlich als die Sprache, in der Wolke Staub beim Traumwandeln beschworen hat. Aber Mond, sie liebte es, wenn sie bei einer Behandlung zusehen durfte. Er hatte noch lebhaft die Situation vor Augen, in der seine Schwester mit Finsternis gestritten hatte, als sie erfahren hatte, dass sie niemals ihre Heilerausbildung antreten könnte.
In Erinnerungen versunken fuhr Shadow mit einer seiner Krallen über den kalten Boden. Das altbekannte Gefühl, bei dem sich alles in ihm zusammenzog und das Atmen verweigerte, kam zurück.
"Besteht für Eule wirklich keine Hoffnung mehr?", krächzte Shadow, um sich von seinen eigenen Gedanken abzulenken.
Rabe blinzelte, überrascht von seiner Frage. "Na ja, genau genommen ist sein Husten heilbar, aber dafür fehlt uns Rainfarn und der wächst nicht auf unserem Territorium. Vor allem nicht bei diesem Wetter." Er deutete zum Himmel hinauf, wo sich erneut die dunklen Wolken - vermutlich gefüllt mit Regen oder Schnee - zusammenstauten. "Normalerweise trocknen wir ihn, aber ich habe unseren Vorrat schon zu Beginn der Blattleere aufgebraucht."
Shadow sah zu Boden und wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Trotzdem war er dankbar, dass Rabe ihn mit seiner ausführlichen Erklärung aus seinen Gedanken gezogen hatte.
Schweigend ließ er seinen Blick über die Lichtung schweifen, auf der auch die restlichen Verwundeten versorgt wurden. Die Luft war von dem intensiven Duft nach Kräutern erfüllt und gab Shadow, als dieser einen tiefen Atemzug nahm, nicht das Gefühl, an der frischen Nachtluft zu sein.
Einige Schwanzlängen neben ihm standen Blut und Düster, die sich vor Eules provisorischem Einzelbau neben dem der Lehrlinge mit gedämpften Stimmen unterhielten. Der schwarze Kater spitzte seine Ohren, konnte jedoch nichts verstehen. Dafür konnte er deutlich die Angst spüren, die von den beiden Katzen ausging.
Angst wovor? Eules Tod? Nein, so viel Einfühlungsvermögen haben sie nicht, fügte Shadow mit ironischem Unterton hinzu.
"...dauert wohl nicht mehr lang. Bald werden sie ihn töten."
Diese Stimme stammte weder von Blut noch Düster, sondern von Skorpion, der gemeinsam mit Narbe und Schleier vor dem Kämpferbau kauerte.
"Ich finde, Shadow hat recht", miaute Narbe und Shadow verschluckte sich fast bei diesen Worten. "Eule sollte nicht getötet werden."
Skorpion peitschte mit dem Schweif. "Du redest Fuchsdung! Damit willst du dich doch bloß bei deinem neuen Sohn einschleimen. Eules Krankheit ist eine Gefahr für uns alle und das weißt du."
Narbe warf ihrem Bruder einen empörten Blick zu, doch ehe sie etwas erwidern konnte, kam Schleier ihr zuvor. "Ich sehe das so wie Skorpion. Warum sollten wir das Wohl des ganzen Stammes riskieren? Das ist bloß ein Leben doch nicht wert."
Shadow fuhr ein Schauer den Rücken entlang. Die Grausamkeit in den Worten des sonst verhältnismäßig friedlicheren Katers schockierte ihn. Denken sie alle so? Dass man ein Leben mit dem anderen aufwiegen kann? Obwohl, wenn man bedenkt, dass sie einen Tod mit einem Tod vergelten wollten...
"Ich möchte nur einmal klarstellen, dass ich mich nicht einschleime", motzte Narbe und hob trotzig ihr Kinn.
"Vertrau uns, wir können das besser beurteilen. Immerhin sind wir schon etwas älter und haben mehr Erfahrung." Skorpion zwinkerte Narbe neckisch zu.
Schleier schnurrte belustigt und stimmte mit ein. "Deine Schwärmerein für Gewitter haben dich echt verweichlicht."
Narbe schleuderte ihren Brüdern einen genervten Blick zu. "Das sind keine Schwärmereien. Wir lieben uns."
Shadow starrte die hellgraue Kätzin mit offenem Mund an. Sein Unglauben verwandelte sich in Wut und seine Schwanzspitze zuckte unruhig hin und her. Am liebsten würde er seine Krallen in den Boden bohren und fauchen, doch er wollte keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Nicht schon wieder.
Sie lieben sich? Was hat sie falsches gefressen, dass sie so einen Unsinn miaut? Mein Vater ist nicht fähig zu lieben. Er will ja nicht einmal etwas mit seinen eigenen Jungen zu tun haben! Seinem eigenen Fleisch und Blut. Er beobachtete, wie auch Narbes Gesichtszüge sich wütend verzerrten.
"Wenn ihr Gewitter so kennen würdet wie ich, würdet ihr nicht so reden", fuhr die Kämpferin mit schneidender Stimme fort. "Er ist der beste Kater, den ich kenne, also wagt es nicht, nur ein schlechtes Wort über ihn zu verlieren."
Schleier riss die Augen auf und tauschte einen überraschten Blick mit Skorpion. "Wieso bist du denn auf einmal so wütend? Wir machen doch bloß Spaß."
Doch Narbe schenkte den beiden nur ein Knurren, ehe sie mit hin und her peitschendem Schweif über die Lichtung stolzierte und dort begann, sich die Pfoten zu putzen, ohne noch einen Blick zurück zu werfen.
"So, wenn du dich jetzt ein paar Nächte schonst, sollte dein Bein bald ohne Probleme verheilt sein und...Alles in Ordnung?" Rabe beäugte Shadow misstrauisch, der unwissentlich seine Ohren angelegt und sein Nackenfell gesträubt hatte.
"Natürlich, danke Rabe." Rasch gab Shadow sich alle Mühe, sich zu entspannen und spürte, wie sein Zorn verrauchte. Rabe sah ihn noch kurz skeptisch an, seufzte dann aber.
"Gut. Und nicht vergessen: schonen." Damit tappte er davon, um sich Tunnel und ihrer zerkratzten Wange zu widmen.
Shadow sah ihm noch kurz hinterher, schloss dann aber seine Augen und legte den Kopf auf seinen Pfoten ab, das verletzte Bein ausgestreckt. Der Kampf und der lange Weg hatten ihn erschöpft. Seine Muskeln schmerzten, wenn auch nicht so stark wie seine Wunden.
Ein Jaulen unterbrach seinen Versuch, für einen Moment zu dösen und er schlug missmutig seine Augen auf. Düster stand auf der toten Esche, wie so oft in letzter Zeit. Sein Kinn war hoch erhoben, obwohl sie doch eben eine Niederlage hatten einstecken müssen.
"Ich weiß, ihr seid wütend und das zurecht", began der Anführer seine Ansprache. "Ihr werdet eure Rache bekommen, das verspreche ich."
Aufgeregte und zustimmende Rufe folgten seinen Worten und Shadow konnte nur mit den Augen rollen. Am liebsten wäre er aufgestanden und hätte irgendetwas über die Dummheit seiner Stammesgefährten gefaucht, aber er hatte keine Lust auf die ständigen Diskussionen. Sollen sie sich doch in das nächste Gemetzel stürzen.
Eine Stimme in seinem Kopf wandte ein, dass ein weiterer Angriff auch eine weitere Gefahr für Joel bedeutete, doch er vergrub diese Stimme noch tiefer in seinen Gedanken. Er hat mich hintergangen. Warum sollte ich überhaupt noch an ihn denken?
"Zunächst gibt es jedoch etwas anderes zu verkünden." Düster machte eine kurze Pause, damit der Tumult abklingen konnte, dann setzte er erneut an. "Wie ihr wisst, besteht für Eule keine Chance mehr, weswegen wir ihn erlösen müssen."
Erlösen? Shadow hätte beinahe gelacht, auch wenn es ein hohles und verzweifeltes Lachen gewesen wäre. Das ist nicht die einzige Lösung, bloß die egoistischste von allen. Und ihr nennt das doch nicht wirklich Erlösung? Das ist Mord!
"Sonnenaufgang ist es soweit", endete Düster und deutete mit dem Schweif gen Himmel, dessen tiefes Schwarz allmählich in ein dunkles Blau überging.
Krähe reckte seinen Kopf, damit Düster ihn sehen konnte. Shadow meinte, in seinem Gesicht tatsächlich etwas wie Trauer zu sehen. "Dürfen wir uns von ihm verabschieden?"
Doch der dunkle Kater schüttelte den Kopf. "Die Gefahr einer Ansteckung ist zu groß", erwiderte er und damit trat auf Krähes Gesicht wieder der übliche Missmut. Niemand darf Eule etwas sagen? Shadow musste tief Luft holen, um die Fassung zu wahren. Das Letzte, was der alte Kater hören würde, wäre vermutlich das Gurgeln in seiner eigenen Kehle. Der junge Kämpfer drehte den Kopf zur Seite und betrachtete Eules Bau, aus dem ein gedämpfter Huster ertönte. Das ist nicht richtig.
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Mit kribbelnden Pfoten legte Shadow sich in sein Nest, aber es fühlte sich falsch an, jetzt versuchen, zu schlafen. Schlafen zu können, bedeutete, dass alles in Ordnung war und keine Gefahr bestand. Aber das stimmte nicht, zumindest nicht für alle. Nur wenige Schwanzlängen von ihm entfernt saß Eule in seinem Bau und wartete auf den Tod.
Ob er vielleicht einfach wegläuft?, überlegte Shadow. Er könnte in den östlichen Teil des Düsterwaldes fliehen und dort versuchen, zu überleben. Er erschauderte bei der Vorstellung, durch das unbekannte Gebiet zu streifen, wo die Bäume so dicht beieinander wuchsen, dass es dort sogar noch dunkler war als ohnehin schon.
Doch er musste diesen Gedanken verwerfen. Eule wird gar nicht erst aus seinem Bau verschwinden können, dafür ist er zu gut bewacht. Ich bezweifle, dass Donner ihn - auch wenn er ebenfalls nicht überzeugt von der ganzen Sache ist - gehen lassen würde. Und selbst wenn, in seinem Zustand würde er vermutlich nicht lange überleben. Dem schwarzen Kater entwich ein Seufzen. Es war hoffnungslos.
Plötzlich ertönten Schritte und Shadow spitzte die Ohren. Auf der Lichtung tat sich etwas. Ohne sich groß zu bewegen, spähte er durch einen Spalt nach draußen.
Die dünne Frostschicht glitzerte in den ersten Sonnenstrahlen, die sich gierig ihren Weg durch die hohen Wipfel zwängten. Auf der gegenüberliegenden Seite des Kämpferbaus hockte Donner im Schatten, sein Blick war auf Düster und Blut gerichtet, die geradewegs auf ihn zu kamen.
Blut murmelte ihm etwas zu, woraufhin Donner zuerst verunsichert, doch dann eilig zu den restlichen Kämpfern lief und sich in ihren Bau legte. Jede Faser seines Körpers bebte vor Anspannung, das konnte Shadow selbst über den Haufen aus Katzen hinweg spüren. Es ist soweit.
Die beiden Katzen auf der Lichtung wechselte einige leise Worte, die Shadow nicht verstand, dann machte Blut einen Schritt nach vorn. Ein Blick über die Schulter zu Düster und sie verschwand im Bau.
"Glaubst du, sie werden es schnell machen?", flüsterte Kratzer und lehnte sich zu Shadow.
"Ich hoffe es." Und das war die Wahrheit. Shadow meinte, Blut inzwischen zu gut einschätzen zu können, um den Gedanken, sie könnte sogar ihrem eigenen Stammesgefährten einen grausamen Tod bescheren, als verrückt anzusehen.
Auf einmal drangen gedämpfte Stimmen aus dem provisorischen Bau. "Bitte...Blut" Ein Huster. "Können wir nicht..."
Ein Knurren unterbrach Eules Flehen, daraufhin ein heiseres Wimmern. Shadow presste seine Ohren an seinen Kopf. Er wollte das nicht hören. Plötzlich zerris ein schrilles Kreischen die Luft, ein Gurgel, ein Fauchen, der dumpfe Aufprall eines leblosen Körpers. Dann war es still.
Shadow starrte auf die Lichtung, er konnte seinen Blick nicht abwenden, er war wie gelähmt. Ein Ziehen in seiner Brust ließ ihn nach Luft schnappen. Er hatte nicht gemerkt, dass er den Atem angehalten hatte.
"Ist es vorbei?", fragte jemand - die Worte klangen brüchig -, doch niemand antwortete.
Stattdessen trat Blut auf die Lichtung, ihr grimmiger Gesichtsausdruck auf Düster gerichtet. Würde man sie nicht kennen, hätte man nicht gewusst, was sie gerade getan hatte. Aber Shadow fiel der Unterschied sofort auf und den Katzen um ihn herum mit Sicherheit auch. Das Rot an den Pfoten der Stellvertreterin war dunkler als sonst.
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