SIEBENUNDZWANZIG
Und schon wieder saß ich in Max Auto vor Jonas Wohnung und starrte anteilnahmslos zu dem Mehrfamilienhaus hinüber. Für kurze Zeit hatte ich mich dort zuhause gefühlt. Da war mein Herz noch voller Liebe und Wärme. Jetzt war es kalt, schlug nur langsam in meiner Brust, als hätte es auch damit zu kämpfen, nicht einfach stillzustehen.
Eine Hand legte sich auf mein Knie und die Wärme drang trotz der Jeans bis zu meiner Haut durch, verbrannte sie regelrecht.
»Wenn du noch nicht bereit dazu bist, können wir auch ein anderes Mal herkommen«, flüsterte Max. Sonst war es im Auto still, weder das Radio lief noch die Lüftung.
Eigentlich müsste mir verdammt heiß sein, laut der Temperaturanzeige waren draußen siebenundzwanzig Grad. Doch ich fror und zog sogar meine Strickjacke enger.
»Nein, schon gut. Heute ist der einzige Tag, an dem ich ihm nicht vielleicht zufällig begegnen könnte«, murmelte ich und hielt noch immer den Blick starr auf das Gebäude gerichtet.
Die Hand verschwand und eine Tür wurde geöffnet. Wenig später erschien Max Gestalt vor meinem Fenster und half mir beim Aussteigen.
Noch immer hatte ich leichter Unterleibsschmerzen, doch sie hielten sich in Grenzen und ich war dankbar. Sie erinnerten mich daran, dass etwas in mir gewachsen war, dass nun etwas fehlte und ich noch da war. Der Schmerz erdete mich und half mir dabei, nicht Vollendes den Halt zu verlieren.
»Danke«, wisperte ich und schlang die Arme um mich.
Gemeinsam betraten wir das Haus und den Keller. Dort unten war es um einige Grad kälte und ich fing am ganzen Körper an zu zittern. Meine Zähne schlugen aufeinander und das klackende Geräusch hallte von der Decke wieder.
Max nahm mich in den Arm und hielt mich fest. Seine Wärme umfing mich und ich schloss die Augen. Für einen kurzen Moment war mir nicht mehr kalt und ich hörte auf zu zittern. Dann löste er sich von mir und erneut umfing mich die Eiseskälte.
»Geh sonst nach oben mit ein paar Kartons und guck da, ob noch etwas fehlt.« Er drückte meine Schultern und sah mich aufmunternd an.
Ich nickte und griff nach zwei Kisten, bei denen ich wusste, dass sie leer waren. Mit schleppenden Schritten kämpfte ich mich in den dritten Stock und oben angekommen rann mir kalter Schweiß den Nacken hinunter.
Als ich meinen Schlüssel ins Schloss stecken wollte, zitterten meine Hände fürchterlich und ich brauchte mehrere Versuche, um in hineinzustecken. Dann endlich schaffte ich es und betrat die Wohnung, die vor kurzem noch mein Zuhause gewesen war. Alles sah wie immer aus. Der gleiche karge Flur, die gleichen kahlen Wände, das gleiche Sofa, der gleiche Schrank. Nur die Bilder an der Wand hatten sich verändert. Meine waren verschwunden und stattdessen hingen nun wieder Gemälde von Maja an den Wänden.
Die Kirschblüten schienen von einer Leinwand zur nächsten zu tanzen und mich zu umwehen. Ich konnte förmlich die Kirschen riechen und den Wind auf meiner Haut spüren. Es löste eine Sehnsucht in mir aus, die sicher auch Maja gespürt haben mochte, als sie die Bilder gemalt hatte.
Auch sie hatte ein Kind verloren und war dann genau wie ich in ein tiefes Loch gefallen. Das Malen hatte sie auf eine Art gerettet und ihr die Möglichkeit gegeben, ihre Gefühle ohne Worte auszudrücken.
Ich musste schlucken und Tränen brannten in meinen Augen, doch meine Wangen blieben trocken. Es war nichts mehr da, was ich hätte weinen können. Daher löste ich mich von den Bildern und machte mich daran, meine Schildkröten aus der Vitrine zu sammeln. Danach folgten Teller, Tassen und Besteck, das mir gehörte. Ich fand in manchen Schubladen noch Stifte, Bilder und mehr von mir und alles warf ich in die Kartons.
Nachdem ich die gesamte Wohnung einmal auf dem Kopf gestellt und alles, was mir gehörte, zu den Kartons gebracht hatte, wandte ich mich noch einmal den Bildern zu. Sie ließen mich nicht los.
Schon als ich das erste Mal hier gewesen war, hatten sie mich in ihren Bann gezogen. Eine Idee schoss mir in den Kopf und ließ mich nicht mehr los. Bevor ich zu lange darüber hätte nachdenken können, ging ich ihr nach und trat auf mein liebstes Bild zu. Es war fast so groß wie ich. Zu sehen war ein kleines Boot, das auf einem Fluss schwamm und darauf stand eine Frau. Über ihr schwebten tausende Kirschblüten und vermittelten dem Betrachter, dass sie davonstoben, anstatt auf das Boot zu sinken. Es vermittelte das Gefühl von Freiheit, Sehnsucht und Unendlichkeit. Ich stellte es zu den Kartons, die bereits unter einem Berg anderer Habseligkeiten vergraben lagen.
Dann griff ich in meine Gesäßtasche und zog einen Brief hervor. Er war bereits zerknickt vom vielen auf- und wieder zusammenfalten. Ich sah auf ihn hinab, erkannte meine Handschrift. Es war mein Abschiedsbrief für Jona.
Ich hatte ihm noch einmal mein Herz ausgeschüttet. Ihm alles erzählt, von dem Tag an, als wir uns kennengelernt haben bis heute. Auch das Ultraschallbild hatte ich dazugelegt und ihm von meiner Fehlgeburt berichtet. Ich beteuerte ihm, dass es sein Kind war, und erklärte ihm, wie es mir dabei ging. Es war ein verzweifelter Versuch, wieder alles zwischen uns zu richten. Vielleicht könnte er mir vergeben. Vielleicht könnte ich ihm vergeben. Doch dafür bedurfte es an Zeit, die ich mir nun nehmen würde, um wieder zu heilen.
Den Brief platzierte ich gut sichtbar auf dem Couchtisch. Jona würde ihn finden und hoffentlich lesen. Alles andere lag nun an ihm. Ich hatte darüber keine Kontrolle mehr.
Nach und nach trugen wir alle Kartons, Taschen und das Bild aus der Wohnung und zurückblieben kalte, weiße Wände, für die ich nichts mehr empfand. Das hier war nicht mehr mein Zuhause, vielleicht war es das auch nie gewesen.
Ohne mich noch einmal umzusehen, schloss ich die Tür ab und ging die Treppen hinunter. Unten angekommen löste ich den Schlüssel zu Jonas Wohnung von meinem Bund und warf ihn in den Briefkasten. Laut fiel er in den metallenen Kasten und das Geräusch hallte ohrenbetäubend von den Wänden wider.
Max griff nach meiner Hand und das erste Mal seit Tagen lächelte ich ihn ehrlich an. Es war nur ein zartes Lächeln, doch das reichte aus, um sein Gesicht erstrahlen zu lassen. Er drückte mir einen Kuss auf die Stirn und zusammen traten wir vor die Tür.
Wärme begrüßte mich wie ein alter Freund und der Wind spielte mit meinem Haar. Das erste Mal seit Tagen war mir nicht mehr so schrecklich kalt. Etwas war von mir abgefallen und mit ihr auch die Anspannung in meinem Körper. Ich konnte plötzlich wieder freier atmen.
Als wir im Auto saßen, sah ich nicht noch einmal zurück. Ich starrte auf die Straße, leerte meinen Kopf und versuchte, an nichts zu denken.
Die nächste Woche strich so an mir vorbei. Ich schaffte es von Tag zu Tag, mich früher aus dem Bett zu quälen und mehr zu erledigen.
Max versicherte mir, dass ich bei ihm wohnen bleiben und ich mich ausbreiten dürfte. Also tat ich das. Meine Schildkröten verteilte ich in der gesamten Wohnung und wenn Max eine entdeckte, lächelte er. Jona hätte sicher mit mir geschimpft und sie weggestellt. Er war so penibel, konnte keine Veränderungen ertragen. Wenn ich so darüber nachdachte, hatte ich das Gefühl, dass er nicht bereit für mich war. Nicht bereit für eine feste Beziehung. Es war seine Idee gewesen, zusammenzuziehen, aber wir hatten uns das nicht so gut überlegt. Er hatte es sich nicht gut überlegt. Manchmal glaubte ich, dass er nicht eine Sekunde daran gedacht hatte, das zusammenziehen auch bedeuten würde, dass wir uns die Wohnung teilen müssten. Er hatte sich ein Frauchen gewünscht, dass ihm den Haushalt machte, die Wäsche wusch und sich um die Kinder kümmerte. So ähnlich hatte er es schließlich zu mir gesagt.
Aber das war nicht ich! Und ich würde mich auch nicht verbiegen lassen.
Mein Handy blieb in all der Zeit still, Jona meldete sich nicht einmal. Bloß mein Vater und meine Großeltern erkundigten sich regelmäßig bei mir, wie es mir ginge. Sie hatten sich große Sorgen gemacht, als sie erfuhren, dass ich im Krankenhaus lag. Den Grund dafür hatte ich ihnen nicht genannt. Meine Trauer reichte mir schon, da brauchte ich nicht auch noch ihre. Und wer weiß, ob das das schwache Herz meines Opas überstanden hätte. Ich hätte mir niemals verziehen, wenn ihm etwas passiert wäre.
Irgendwann hatte ich die Hoffnung aufgegeben und Jonas Kontakt überall gelöscht. Ich wollte seine Bilder nicht mehr sehen. Nicht mehr sehen, wie er sich im Studio nicht die Hände wund trainierte, oder wie er mit seinem Kumpel - dessen Namen mir leider entfallen war - vor der Kamera poste und seinen Bizeps präsentierte.
Jedes Mal, wenn ich sein Gesicht sah, verpasste es mir einen Stich. Daher fiel es mir leichter als gedacht, ihn überall zu löschen. Mein Finger schwebte bereits mehrmals über dem Button Blockieren. Doch ich betätigte ihn nie. Ich wollte ihm die Chance lassen, sich bei mir zu melden. Wer konnte schon sagen, wann und ob er meinen Brief las? Womöglich brauchte er auch seine Zeit, um damit klarzukommen, und meldete sich später bei mir. Zumindest redete ich mir das ein. Es half mir, den ganzen Scheiß der letzten Wochen zu verdrängen.
Eines Nachts hatte ich einen furchtbaren Alptraum. Ich träumte davon, dass ich ein Kind gebar und es mir Heinrich mit einem fiesen Grinsen auf den Lippen aus den Händen riss. Ich schrie und brüllte, dass er es mir wieder zurückgeben sollte. Und als er es dann tat, lag es kalt und tot in meinen Armen.
Ich wachte schweißnass und schreiend auf, hatte das Gefühl, dass mein Bauch brannte.
Plötzlich riss jemand die Tür auf und Max stand heftig atmen in der Tür. »Ist alles gut?«, fragte er mich und keuchte.
Ich nickte und erklärte ihm, dass es bloß ein Alptraum war. Er nickte und wollte sich wieder abwenden, da fragte ich ihn: »Bleibst du hier?«
Er stand mit einer Hand am Türgriff und sah zu mir zurück. Sein Oberkörper war entblößt und das Licht des Mondes umspielte seine Muskeln auf Rücken und Bauch. Er trug bloß eine enge Shorts, die viel zu viel preisgab. Trotz meiner Scham und meiner geröteten Wangen sah ich nicht weg, starrte ihn weiter an.
Endlich schloss er die Tür und kam zu mir ins Bett gekrochen. Er legte sich auf die Seite und ich kuschelte mich an seine Brust, sog seinen Duft ein. Er platzierte einen Arm unter mir und den anderen schlang er um mich, zog mich fest ans eine Brust. So schliefen wir ein und kein Alptraum belästigte mich mehr in dieser und keiner darauffolgenden Nacht.
Er war es schon immer gewesen, bei dem ich mich geborgen gefühlt hatte. Bei dem ich ich sein konnte, mich nicht verstellen brauchte. Es war schon immer er gewesen, doch mir musste erst so etwas Schreckliches passieren, damit es mir klar wurde. Max. Es war schon immer Max gewesen.
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