SECHS
Als ich den Schlüssel im Schloss hörte, saß ich gerade am Tisch in der Küche mit meinem Laptop und recherchierte nach Universitäten in meiner Nähe. Bisher hatte ich vier Favoriten, deren Studiengänge mir zusagten und ich mir vorstellen konnte, sie zu studieren: Soziale Arbeit, Medizinpädagogik, Gesundheitswissenschaft und Politikwissenschaft.
Letzteres war eher eine Schanpsidee, die nicht allzu wörtlich genommen werden sollte. Denn mir kam der Gedanke nicht bei einem Saufgelage, sondern des Nachts. Ich lag in meinem Bett und versuchte einzuschlafen. Leider waren meine Gedanken mal wieder zu meiner Arbeit zurückgekehrt und der Ärger darüber, wie alles dort lief.
Mich störte die Gesundheitspolitik gewaltig. Meiner Meinung nach war die Privatisierung der Krankenhäuser das Dümmste, was man dem Gesundheitssystem hätte antuen können. Gesundheit, oder gar Menschen, sollten nicht als Produkt gesehen werden, aus denen das Krankenhaus Profit schlagen konnte, sondern als das was sie warwen: Individuen.
Schon so häufig hatte ich erlebt, dass nicht der Mensch an oberster Stelle stand, sondern das Geld. Zu häufig wurden alten Damen und Herren noch hier ein Herzkatheter, da noch eine Hüftoperation aufgeschwatzt, obwohl sie das achtzigste Lebensjahr schon längst überschritten hatten, und jeder dieser Eingriffe das Ableben des Patienten zur Folge haben könnte. Nicht selten ward dies auch der Fall.
Eine Freundin hatte mir mal erzählt, dass eine Patientin absolut fit ins Krankenhaus gekommen war. Sie konnte sich in ihrer Wohnung noch super bewegen und die alltäglichen Dinge im Haushalt in ihrem Tempo erledigen, nur das Einkaufen fiel ihr schwer. Wenn sie sich zu sehr anstrengte, blieb ihr die Luft weg. Einen Marathon hätte sie sicher nicht mehr laufen können, doch ich würde behaupten, dass ihr Leben trotzdem noch Qualität besaß.
Aber kaum betrat sie unsere heiligen Hallten, bekam sie eine Diagnose zugeschrieben. Diese lautete: Herzschwäche.
Daraufhin wurde ihr von seitens der Ärzte empfohlen, eine künstliche Herzklappe einsetzen zu lassen. Sie ließ sich von dem Kittel und dem freundlichen Gesicht blenden. Keine zwei Tage später lag sie auf dem Op-Tisch und einen weiteren Tag später lag ihr kalter Körper unter einem schweren Tuch.
Von wegen Engel in weiß, Todesengel hätte es wohl eher getroffen.
Noch immer wurde ich ganz melancholisch, wenn ich an diese Geschichte dachte.
»Na, was recherchierst du da?«, fragte mich Jona, bevor er mir einen Kuss in den Nacken drückte. Er legte seine starke Arme um mich und ich bettete meinen Kopf auf seinem Bauch.
»Ach, ich guck nur ein bisschen«, druckste ich herum.
Neugierig senkte Jona seinen Kopf auf meine Höhe und las über meine Schulter hinweg laut vor, was dort geschrieben stand.
»Medical School of Hamburg, Gesundheitswissenschaft.« Er stockte. »Du willst studieren?« Ein Glucksen drang aus seiner Kehle, das mich zum Aufsehen zwang.
»Wieso denn nicht?«, wollte ich von ihm wissen, da es für mich keinen sinnvollen Grund gegeben hätte, weshalb ich nicht studieren sollte.
Er zuckte mit den Schultern, bevor er antwortete: »Weiß nicht. Bist du dafür nicht ein bisschen zu alt?«
Reflexartig drehte ich mich zu ihm um und sah ich mit zusammengekniffen Augenbrauen an. »Wie bitte?«, blaffte ich ihn an und konnte nicht glauben, was ich da gerade gehört hatte.
»Naja, du wirst doch in zwei Monaten schon sechsundzwanzig. Und... ich meine,... Findest du es da nicht etwas zu spät, noch mit dem Studieren anzufangen?«, druckste Jona herum und zuckte mit den Achseln.
»Und du bist siebenundzwanzig und studierst immer noch!«, zischte ich ihn an und meine Augen sprühten Funken. Hätte er aus Stroh bestanden, wäre er jetzt sicher lichterloh in Flammen aufgegangen.
»Hey! Das ist was anderes!«, protestierte er und stemmte eine Hand in die Hüfte. »Ich muss so lange studieren, um Arzt werden zu wollen. Da kann ich gar nichts für.«
»Und was wolltest du dann damit sagen?«, giftete ich ihn an und erhob mich. Jona war auch schon ohne die Tatsache, dass ich saß, einen Kopf größer als ich und ich fühlte mich langsam unwohl, dass er so auf mich hinabsah.
Jona stieß die Luft aus seinen Lungen und kniff mit dem Daumen und dem Zeigefinger an die Nasenwurzel. »Ich wollte damit doch nur sagen, dass dich ein Studium beruflich zurückwerfen würde. Dann müsstest du deine Arbeit aufgeben, um vollzeit Student sein zu können. Du wüderdest weniger Geld verdienen und müsstest gucken, wie du am Ende des Monats deine Miete bezahlst. Außerdem verdiene ich zurzeit auch noch nicht sonderlich gut, und das wird die nächsten drei Jahre auch so bleiben.«
Endlich sah er mich wieder an und in seinen Augen lag Schmerz. Ja, vielleicht sogar Angst. Aber wovor fürchtete er sich?
»Was ich eigentlich nur sagen wollte, war, bitte überlege es dir gut. Ich möchte nicht, dass du dich in etwas verrennst und dann am Ende die Rechnungen nicht mehr begleichen kannst.«
Autsch, das hatte gesessen. Traute er mir denn so wenig zu? Glaubte er wirklich, ich hätte mir das nicht gut überlegt?
»Ich werde am Wochenende arbeiten. Es gibt genug Zeitarbeitsfirmen, die mich mit Kusshand nehmen würden, und bei denen ich bestimmt besser verdienen würde als bisher im Krankenhaus«, schleuderte ich ihm mein Gegenargument entgegen.
»Ich glaube kaum, dass du Arbeit und Studium unter einen Hut kriegen würdest.«
»Ach, du glaubst, ich würde das nicht hinbekommen? Weil ich zu dumm bin?«, provozierte ihn.
Erschrocken verzog er das Gesicht und hob ergebend die Hände. »Das habe ich nun wirklich nicht gesagt und auch nicht gedacht!«
Meine Wut auf meine Arbeit von den Vortagen kochte wieder hoch. Es fühlte sich wie ein Teekessel an, den man mit einem Deckel verschlossen hatte und sich nun weiter Druck aufbaute. Ich konnte es schon förmlich aus meinen Ohren pfeifen hören.
»Nicht? Was dann? Warum glaubst du, ich wäre dazu nicht in der Lage?«
Auch Jona wurde langsam wütender und seine Stimme lauter. »Mensch Nicky, dreh mir doch nicht meine Worte im Mund herum. Ich will damit doch nur sagen, dass du es nicht unterschätzen sollst. Ich arbeite und studiere nebenbei und glaube mir, wenn ich dir sage, dass es kein Zuckerschlecken ist.« Er hob einen Finger und stupste ihn gegen meine Brust. Wütend schlug ich seine Hand weg, und trat einen Schritt auf ihn zu, er tat einen zurück. Ich stemmte meine Hände auf die Hüften und starrte ihn aus verengten Augen an.
»Das ist was anderes! Das was du studierst, wendest du in der Praxis direkt an. Außerdem würde ich nicht vollzeit arbeiten, sondern nur ein zwei Tage oder vielleicht auch nur Nachtdienste!«
»Und du glaubst, dass wäre nicht anstrengend?«
»Ich habe nie behauptet, dass es leicht werden würde!«, schrie ich ihn an. »Ich bin doch nicht naiv! Ich weiß, es würde anstrengend und harte Arbeit für mich werden, auch dass das Geld manchmal knapp werden könnte, ist mir bewusst! Doch das sollten alles keine Gründe sein, wieso man sich nicht weiterbildet!« In meinem Inneren kochte es. Ich konnte einfach nicht verstehen, wieso Jona es als dumme Idee, ja, fast schon als lächerlich abtat, dass ich studieren wollte.
Jona fuhr sich verzweifelt durch die Haare und bließ die Backen auf. Er ließ die Luft langsam entweichen, während ich ihn weiter anstarrte. Dann erst begann er zu sprechen.
»Ja, ich bin schon siebundzwanzig und ja, ich studiere noch. Aber bald bin ich damit fertig und hatte an etwas wie Familienplanung gedacht.«
Mir fiel die Kinnlade krachend herunter und meine Augen weiteten sich. Damit hatte ich im Leben nicht gerechnet. Mir blieb die Sprache weg.
Jona sah mich gequält an und rieb sich über den Oberarm. »Ich weiß, wir sind noch nicht sehr lange zusammen und über Kinder und Hochzeit zu sprechen ist vielleicht etwas zu früh. Aber ich kann nicht leugnen, dass ich mir Kinder wünsche und das gerne schon vor meinem dreißigsten Lebensjahr.« Langsam schloss ich den Mund wieder und schluckte meine wirren Gedanken hinunter.
Er wollte Kinder? Und das am liebsten schon sehr bald? Wollte ich Kinder? War ich schon bereit dafür? Wäre ich eine gute Mutter? Weiß ich überhaupt, was eine gute Mutter ausmachte?
Jona schien meine Gedanken gelesen zu haben und fügte schnell hinzu: »Ich will dir wirklich kein Druck machen. Es ist nur so, eehm«, er legte eine Pause ein und schaute zu Boden, »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.« Flehend sah er zu mir auf und ich musste mich setzen. Diese Beichte schockierte mich dann doch.
Ich hatte mir die letzten Jahre wegen einer Heirat und Kinder keinen Stress gemacht. Ich dachte immer, wenn es passiert, dann passiert es einfach. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass es noch in meinen zwanzigern geschehen würde. Ich hatte noch viel vor, ich wollte noch viel erleben, die Welt sehen, mich ausprobieren, frei sein. Ein Kind bedeutete immer Verantwortung. Die gab man nicht so einfach ab, man musste sich dafür entscheiden.
Mein Verstand raste und ich versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Ich traute mich kaum, ihn auszusprechen, doch ich musste es wissen. »Du willst also, dass ich nicht studiere, weil du gerne in den nächsten zwei bis drei Jahren schon Kinder haben möchtest.« Es war als Aussage gedacht, klang aber eher nach einer Frage, die mir Jona auch beantwortete.
»So ähnlich. Ich weiß halt nicht, ob du es schaffen würdest, Studium, Arbeit und Kinder unter einen Hut zu bringen.« Er bewegte sich langsam auf den Stuhl neben mir zu und ließ sich nieder. Eine Hand legte sich auf meine, die zu Fäusten verkrampft auf meinem Schoß lagen, und seine Finger verflochten sich mit meinen.
»Nicky«, er flüsterte meinen Namen und zwang mich zum Aufschauen, »Ich würde mich für dich freuen, wenn du studieren würdest. Aber ich bitte dich, eine Nacht darüber zu schlafen, bevor du dich überstürtzt für irgendetwas entscheidest.« Er drückte meine Hand, und es legte sich ein schwerer Stein in meinen Magen nieder.
»Die Einschreibungsfrist geht nur noch zwei Tage.« Meine Worte waren wie ein Flüstern. Ich war mir meiner Sache nicht mehr so sicher, wie vor einer halben Stunde. Ich hatte schon herausgesucht, was ich alles für Qualifikationen und Unterlagen mitbringen müsste, um mich zu bewerben. Doch seine ehrlichen und aufrichten Worte hatten alles ins Wanken gebracht.
»Na, dann hast du doch noch genug Zeit.« Er klappte meinen Laptop zu und zog mich auf die Füße. Seine Hände legten sich auf meine Schultren nieder und er sah zu mir hinunter. »Lass es dir noch einmal durch den Kopf gehen. Nicht, dass es eine Kurzschlussreaktion wird, und du es am Ende bereust. Mmmh?«, brummte er und schüttelte mich leicht.
Geknickt sah ich zu ihm auf. Ob er damit recht hatte? Sollte ich lieber noch einmal drüber nachdenken? War es nur eine Kurzschlussreaktion wegen dieses einen grauenhaften Dienstes?
»Wieso willst du überhaupt studiere? Ich dachte, du liebst deinen Job?«, fragte mich Jona und holte mich ein weiteres Mal aus meinen Gedanken.
»Ja, ich liebe meinen Job«, wisperte ich. »Aber...«, doch Jona ließ mich nicht ausreden.
»Na, siehst du!« Ein Grinsen zauberte sich auf seine Lippen und er nahm mich in den Arm. »Dann ist doch alles in Ordnung. Schlaf eine Nacht drüber und vielleicht redest du morgen mit einer deiner Freundinnen darüber. Und dann kannst du dich notfalls immer noch bewerben.«
Zaghaft hob ich auch meine Arme und erwiderte die Umarmung. »Ich glaube, du hast recht«, murmelte ich an seinem Shirt.
Aber hatte er wirklich recht? War es dumm von mir, jetzt noch ein Studium zu beginnen? Ich wäre mit Sicherheit eine der Älteren, aber das müsste ja nichts bedeuten. Lernen lag mir schon immer gut. Auch in meinem Examen hatte ich bei den theoritischen Prüfungen besser abgeschnitten als bei der praktischen.
Und Kinder? Wollte ich wirklich schon welche haben? Ich hatte nie so richtig darüber nachgedacht und selbst wenn mein Vater sich Enkel wünschte, und damit wohl auf Jonas Seite wäre, könnte ich es wohl noch nicht. Aber das Jona zu sagen, brachte ich in diesem Moment nicht übers Herz.
»Gut«, er löste sich von mir und sah sich in der Küche um. »Was gibt es zum Essen?« Kaum hatte er das gesagt, drehte er sich um und hob die Deckel der Töpfe an.
»Ich habe nichts gekocht, bin auch erst seit einer Stunde hier und hab mich direkt an den Laptop gesetzt.« Eben diesen hob ich an und wollte ihn in die Wohnstube rüber tragen.
»Und was soll ich dann essen?«, wollte Jona wehleidig wissen und machte einen Schmollmund.
»Heute gibt es kalte Küche. Mach dir ein Brot«, rief ich ihm hinterher, als ich das Wohnzimmer bertrat. Ich konnte ihn in der Küche brummen hören, verstande aber nicht, was er sagte. Mir war es auch egal. Ich war zu deprimiert.
Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass Jona sich darüber freuen würde, ja, sogar hell auf begeistert darüber wäre, dass ich den Wunsch hege zu studieren. Bisher war ich mir selbst nicht einmal hundert Prozent sicher gewesen, dass ich das tun wollte und jetzt, nachdem ich seine Predigt gehört hatte, wusste ich es noch weniger.
Ich sollte wirklich noch mit jemand anderen darüber reden, um so eine dritte Meinung einzuholen. Wen kannte ich denn noch, der studierte? Der auch Erfahrungen in diese Richtung gesammelt hat? Mia! Ja genau! Sie könnte mir sicher helfen.
Schnell eilte ich zurück in die Küche, fischte mein Handy vom Tisch und beobachte Jona kurz, wie er sich eine Pizza im Ofen aufwärmte.
»Massephase?«, fragte ich ihn, um ihn zu necken. Er warf mir einen giftigen Blick zu und ich musste kichern. Danach lief ich wieder zuück und ließ mich auf dem Sofa nieder. Flink entsperrte ich mein Telefon und suchte den Chat mit Mia raus.
Hey Mia. Hast du morgen vielleicht Zeit?
Ich hätte da etwas, worüber ich unbedingt mit
dir reden müsste. : [Ich - 16:21]
Keine Minute später war sie online und hatte mir geantwortet.
[Mia - 16:22]: Klar, voll gerne.
Wollen wir uns bei dir treffen?
Muss leider viel lernen und hätte
daher nur so eine Stunde Zeit.
Kein Problem. Passt dir
13 Uhr? :[Ich - 16:22]
[Mia - 16:23] Perfekt.
Dann bis morgen <3
Bis morgen :) :[Ich - 16:24]
Kurz darauf kam Jona mit einer lecker duftenden Pizza in die Wohnstube und setzte sich neben mich. Er legte seine Füße auf den Tisch, knapp neben meinem Laptop, ab und begann zu essen. Dieses Verhalten entlockte mir ein Augenrollen. Schnell brachte ich meinen Rechner in Sicherheit.
Im Schlafzimmer angekommen, schaltete ich in noch einmal an, um die ganzen Tabs zu schließen. Dabei sprang mir das Logo der MSH ins Auge und ich zögerte. Ganz tief in meinem Inneren begann sich etwas zu regen, und den Stein, der immer noch in meiner Magengrube lag, zur Seite zu rollen. Tatsächlich sehnte ich mich danach, etwas anderes zu probieren. Ich wollte etwas Neues lernen, mich weiterbilden, neue Leute kennenlernen und ein neues Berufsfeld.
Aber Jonas Worte hallten mir im Kopf wider: »Ich glaube kaum, dass du Arbeit und Studium unter einen Hut kriegen würdest.«
Andere schafften es doch auch, wieso sollte ich es nicht schaffen?
»Ich arbeite und studiere nebenbei und glaub mir, wenn ich dir sage, dass es kein Zuckerschlecken ist.«
Das wusste ich doch. Ich sah ihn schließlich jede freie Minute über seinen Büchern hängen und wie sehr er auf der Arbeit schuftete. Doch ich wusste, ich war auch stark genug, das zu schaffen. Jona würde schon sehen. Hoffentlich würde mich Mia morgen in meinem Vorhaben stärken und nicht wie Jona, mich davon abbringen wollen. Ich hatte nur noch zwei Tage, viel Zeit zum Nachdenken blieb mir nicht.
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