NEUN
»Du hast aber ganz schön viel Krempel über die Jahre angesammelt.« Jonas Stimme klang dumpf in dem dunklen und muffigen Kellerabschnitt. Ich wühlte gerade in einem meiner Umzugskartons rum und wirbelte dabei unzähligen Staub auf, der mir in der Nase kitzelte. Um nicht niesen zu müssen, hielt ich die Luft an und zählte bis zehn. Nachdem ich die Luft wieder ausstieß, war das Gefühl verschwunden und ich konnte Jona antworten.
»Ja, na klar. Du weißt doch, Frauen sind wie Elstern, sie müssen alles sammeln, was glitzert.« Danach kramte ich weiter in dem Karton herum und sortierte die jeweiligen Gegenstände in zwei Kategorien ein: ‚muss-in-die-Wohnung' und ‚kann-im-Keller-bleiben'. Zurzeit überwiegte eher letzteres, da es sich bei den meisten Dingen um alte Kartons von Elektronikgeräten, Unterlagen aus der Ausbildung oder irgendwelche Briefe von vor über hundert Jahren, von denen ich mich einfach noch nicht trennen konnte, handelte. Währenddessen schwelgte ich in Erinnerungen.
Als ich vor Jahren einmal eben diesen Stapel an Briefen durchgegangen war, hatte ich durch Zufall einen fünfzig DM-Schein gefunden. Damals war schon der Euro eingeführt worden und ich war als junges Mädchen hellauf begeistert gewesen, dieses Stück Geschichte in den Händen halten zu können. Natürlich hatte ich ihn in derselben Woche noch in Euro umgetauscht, aber seit diesem Moment warf ich keine Umschläge mehr weg. Es könnte ja sein, dass man erneut durch Glück noch Geld fand.
»Aber ich kann mir gut vorstellen, dass du auch ganz schön viel Müll über all die Jahre gesammelt hast und dieser sich jetzt in den Kartons hier sammelt.« Zur Untermalung meiner Worte zeigte ich auf die anderen Kisten, die nicht von meinem Umzug herrührten.
Jona hielt kurz inne, um sich im Raum stirnrunzelnd umzusehen und mir dann zu antworten: »Also so viel Müll ist es gar nicht. Viele Originalverpackungen von Fernseher, Gaming-Konsole oder sonstiges. Aber zum Beispiel sammle ich keine Lebkuchenherzen.« Demonstrativ hob er vier eben genannter Gebäcke hoch und ich musste schmunzeln.
»Hey, die habe ich als Teenie geschenkt bekommen. Damals war ich noch heißbegehrt und die Jungs haben sich um mich gerissen.« Ich erinnerte mich noch ganz genau, wie ich jeden einzelnen geschenkt bekommen habe. Entweder war es ein Verehrer gewesen, dessen Gefühle ich nicht erwidern konnte, oder einer meiner damaligen festen Freunde. Aber alles super harmlos. Mehr als Küssen und ein bisschen Fummeln ist bei den meisten nicht gelaufen.
»Du bist zum Anbeißen«, las Jona laut vor und riss mich damit aus meinen Gedanken. Mein Kopf ruckte in seine Richtung und ich konnte sehen, wie er mich mit hochgezogener Augenbraue anschaute. Er sah so niedlich aus mit dem Staub in den Haaren und dem skeptischen Gesichtsausdruck, dass ich mir ein Lachen verkneifen musste. »Was machen wir jetzt mit denen?«
»Keine Ahnung.« Darüber musste ich einen Moment nachdenken. »Da hängen Erinnerungen dran. Die einfach wegzuschmeißen, fände ich schon irgendwie schade.«
»Wir könnten sie ja essen«, schlug Jona vor und zuckte mit den Achseln.
»Haha, genau«, lachte ich und hielt mir die Hand vor den Mund. »Weißt du, wie alt die sind?«
»Schon ein paar Jahre, denke ich. Aber die werden ja nicht schlecht.«
»Damit hast du natürlich recht. Aber die sind jetzt so steinhart, die müsstest du in einem Liter Milch auflösen, damit die schmecken«, witzelte ich.
»Also weg damit?« Jona sah mich fragend an. Ich wusste, er würde sie nicht ohne meine Zustimmung einfach entsorgen, aber sie behalten, damit sie hier im Keller verstaubten, war auch keine gute Lösung. Daher stimmte ich seinem Vorschlag schweren Herzens zu.
»Und weg sind sie.« Er warf die vier Lebkuchenherzen in einen Plastiksack und es knallte laut, als sie auf der Erde auftrafen.
»Ich glaube, wir hätten uns eh die Zähne daran ausgebissen«, erklärte ich etwas betrübt. Ich versuchte mir nicht anmerken zulassen, dass es mir doch schwerer fiel, mich von all diesen Dingen zu trennen, als anfänglich gedacht.
»Das kann ich mir vorstellen.« Jona gluckste amüsiert und steckte schon wieder mit seinen Ellenbogen in meinen Kartons. »Was machen wir mit deiner Kuscheltier Sammlung?« Erneut hielt ich inne und sah zu Jona rüber. Er hielt gerade einen blauen Sack voller Kuscheltiere in die Höhe. Durch die durchsichtige Folie konnte ich es gelb, blau und braun schimmern sehen.
»Die Minions sind irgendwie zu schade, um sie einfach in die Tonne zu werfen.«
»Minions?«, fragte Jona erstaunt und begutachtete den Sack nun eingehender.
»Ja, Minions. Kennst du die etwa nicht?« Verwirrt runzelte ich die Stirn. Vor ein paar Jahren waren die Minions fast überall zu sehen gewesen und hatten 2015 sogar einen eigenen Film bekommen. Das Jona scheinbar noch nie von ihnen gehört hatte, wunderte mich.
»Doch, doch. Ich kenne die, aber bist du dafür nicht ein bisschen zu alt?« Ich zog eine Augenbraue hoch und sah ihn skeptisch an.
»Sind wir nicht beide zu alt, um GTA auf der Playstation zu spielen?«
»Hey! Das Spiel ist erst ab sechszehn!«, protestierte Jona und ließ den Sack sinken, er berühre die Erde und es knisterte leise. Als Antwort rollte ich mit den Augen, und wollte mich wieder meinem Karton widmen, als Jona erneut fragte: »Also, was machen wir damit?« Damit ließ er mir keine andere Wahl, ich musste nun eine Entscheidung treffen.
»Also die Minions würde ich wohl einfach verschenken. Irgendein kleines Kind wird sich darüber sicher freuen. Tim würde ich gerne behalten und der Rest kann weg. Das sind nur irgendwelche alte, bestimmt schon gammelige, Bären, Schlümpfe, oder Hello Kitty.«
»Hello Kitty? Wenn du mir jetzt noch erzählst, dass Süßigkeiten deine Lieblingsmahlzeit sind, glaube ich wirklich, dass ich mit einer Zwölfjährigen zusammen bin.«
»Haha.« Brüskiert warf ich ihn den ersten Gegenstand an den Kopf, den ich zufassen bekam. Daher flog gerade eine alte Gardine auf Jona zu, die er locker mit der rechten Hand auffing.
»Die soll auch weg?«, fragte er und überging damit meine Attacke gekonnt.
»Jaah«, stöhnte ich. Heute würde wohl sehr viel von meinem alten Leben im Müll landen. Aber um ehrlich zu sein, brauchte ich sie auch einiges nicht mehr. Und meinem Kleiderschrank hatte dieser Frühjahrsputz im Sommer gutgetan. Alte Hosen, Pullover und Shirts, die ich schon seit Urzeiten nicht mehr getragen hatte, sind in einem blauen Sack und später im Altkleidercontainer gelandet. Das hatte sich gut angefühlt, weil ich dadurch Platz für neue Klamotten gewonnen habe.
Jona ließ sich das nicht zweimal sagen, und stopfte die Gardine direkt in den Sack zu den Lebkuchenherzen. Einige Minuten arbeiteten wir schweigend weiter, bis Jona die Stille durchbrach.
»Du hast tatsächlich noch eine Schreibmaschine?«, rief er entgeistert und bückte sich nach dem guten Stück. »Sogar von Olympia.«
»Klasse, oder? Die habe ich von meinen alten Nachbarn geschenkt bekommen, für umsonst.«
»Und was hast du jetzt damit vor? Uff.« Er stöhnte, als er das schwere Gerät hochhob und es auf einem Karton abstellte. Staub wirbelte auf und glitzerte im Schein der Deckenleuchte. »Verkaufen?«, fügte er hinzu und warf mir einen fragenden Blick zu.
»Nein, die verkaufe ich doch nicht. Weißt du eigentlich, wie sehr ich mir als Kind eine Schreibmaschine gewünscht habe?«
»Wann hast du sie das letzte Mal benutzt?«, wollte Jona von mir wissen und ich fühlte mich ertappt. Ich überwand die wenigen Schritte zu ihm und schlang meine Arme um seine Hüfte.
»Ich habe sie noch nie benutzt«, gestand ich ihm und schmiegte meinen Kopf auf seine Brust.
»Und woher weißt du dann, dass sie funktioniert?«
»Ich habe sie natürlich getestet«, erklärte ich ihm, als wäre es selbstverständlich.
»Wann?« Oh Mann, erwischt.
»Keine Ahnung.« Ich zuckte mit den Achseln und überlegte. »Vor vier Jahren?« Ich konnte ihn seufzen hören und drückte mich noch fester an ihn.
»Mensch Nicky, du musst auch mal lernen, dich von Dingen zu trennen.«
»Das tue ich doch«, rief ich entrüstet, und drehte ihm mein Gesicht zu. Die schummrige Lampe an der Decke zeichnete tiefe Schatten in Jonas Gesicht und er sah um Jahre gealtert aus. »Ich habe mich doch schon von meinen Kuscheltieren, den Lebkuchenherzen, meinen alten Klamotten und noch viel mehr getrennt.« Endlich erwiderte Jona die Umarmung und legte sein Kinn auf meinem Kopf ab.
»Das mag zwar sein, aber trotzdem liegt hier noch allerlei Krempel herum, den du entweder noch nie benutzt oder es zumindest das letzte Jahr nicht getan hast.«
»Na und?«, jammerte ich.
»Benimm dich doch bitte nicht wie ein Kind. Du bist erwachsen, Nicky!«
»Ja, Sir«, erwiderte ich. Mir gefiel nicht, in welche Richtung dieses Gespräch verlief. Jona müsste mich doch langsam mal kennen, oder? Ich hatte mich ihm gegenüber nie verstellt. Mal ganz ehrlich, schon bei unserem ersten Zusammentreffen müsste ihm doch klar gewesen sein, dass ich keine normale Erwachsene war. Ich war gegen einen Laternenpfahl gelaufen! Musste ich da noch mehr sagen?
»Jetzt bist du trotzig!« Jonas Stimme klang gereizt. Scheinbar gefiel es ihm auch nicht, wie sich dieser Tag entwickelte. Dieses Mal lag es an mir, laut zu seufzen und ich gab die Umklammerung auf.
»Tut mir leid«, begann ich und starrte dabei zur Erde. »Aber mein ganzes Leben steckt in diesen Kisten und es einfach wegzuwerfen bringe ich nicht übers Herz.« Während meiner Beichte hatte sich ein Kloß in meinem Hals gebildet, den ich nun versuchte, krampfhaft hinunterzuschlucken. Eine Hand legte sich an mein Kinn und hob es an. Damit war ich gezwungen, Jona in die Augen zu schauen. In seinen blauen Iriden lag eine gewisse Trauer, aber auch Schmerz.
»Das weiß ich doch. Du sollst dein altes Leben auch nicht einfach in den Müll schmeißen. Aber ich bitte dich, etwas zu sortieren. Nach den Dingen, auf die du definitiv nicht verzichten kannst und die, die wegkönnen. Dann haben wir hier unten wieder mehr Platz, um uns neue Dinge anzuschaffen und die Kartons hier unten zu lagern.«
Mit seinen Worten traf er genau ins Schwarze und ich gab meinen Widerstand auf. Meine Schultern sackten nach vorne und ich fühlte mich von einem Moment auf den anderen niedergeschmettert.
»Okay«, flüsterte ich und wandte mich von ihm ab.
»Also kann die Schreibmaschine weg?« Traurig sah ich zurück und starrte den schwarzen Koffer meiner heißgeliebten Olympia an. Als Kind hatte ich davon geträumt, meine Hochzeitseinladung auf einer solchen Schreibmaschine zu verfassen, aber das konnte ich Jona nicht gestehen. Dann würden wir bloß wieder das Thema Heirat, Kinder und Studium aufwärmen und ich müsste ihm beichten, dass mich Mia an verschiedenen Unis beworben hatte.
Bisher war das Thema studieren nicht mehr zur Sprache gekommen. Jona hatte es einfach bisher noch nicht wieder angesprochen und ich hatte es nicht für nötig gefunden, mit ihm darüber zu sprechen. Er hätte es mir eh wieder versucht, auszureden.
»Okay«, wisperte ich und drehte mich wieder um. Ich konzentrierte mich nun lieber auf meinen eigenen Karton und sortierte weiter aus. Doch mein anfänglicher Optimismus war verflogen. Nun war es keine Zeitreise mehr zurück in meine Jugend, nun glich es eher einem Schlachtfeld und das Opfer war meine eigene Vergangenheit. Ich hasste es.
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