
Abneigung
Es gibt Tage, die sind von vorne bis hinten verkorkst. Für Sarah war heute einer davon: Die Arbeit war purer Stress gewesen. Sie hatte doppelt so viele Aufgaben wie sonst in der Hälfte der Zeit erledigen müssen, wurde trotzdem alle fünf Minuten von ihrem impertinenten Chef zur Eile angehalten - wie sie den Satz: „Die Aufgaben erledigen sich nicht von allein, Frau Kiesel", hasste - und hatte ernüchternder Weise nach der Hektik im Büro den schlimmsten Teil des Tages noch vor sich: Das Treffen mit Pauls Eltern. Ja, sie wusste, dass sie tief in die Klischeekiste griff, wenn sie ihren Freunden etwas von ihren „Schwiegermonstern" vorjammerte, aber was sollte sie machen: Es war die Wahrheit. Sie, Nette und Nies konnten sich nicht ausstehen. Allein ihre Namen machten sie aggressiv.
Um sich zu beruhigen, entschied Sarah einen Abstecher in ihr Lieblingscafé zu machen. Ein leckerer entkoffeinierter Vanilla Macchiato mit Sojamilch würde sie sicherlich entspannen. Ein bisschen Zeit hatte sie bis zu ihrem Treffen mit „NieNett", ihr Lieblingsspitzname für Pauls Eltern, schließlich noch. Schwungvoll öffnete sie die Tür des Lokals und rauschte mit Volldampf in einen Mann, der bis eben einen Coffe to go in der Hand gehalten hatte. Jetzt hielt er einen leeren Becher, denn sein vormaliger Inhalt hatte sich mit einem heißen Schwall über Sarahs weiße Bluse ergossen. Statt sich zu entschuldigen, starrte der Mann auf den Fleck über ihren Brüsten und fragte mit einer unfassbaren Chuzpe, ob er ihre Bluse kaufen könne. Sie gab ihm für seine Dreistigkeit eine Ohrfeige. Was war heute bloß los mit den Leuten?
Sarah verfiel endgültig in Stress. Verdammter Bockmist, jetzt würde sie sich vor ihrem Treffen mit „NieNett" umziehen müssen. „Das wird zeitlich richtig knapp", rechnete sie sich aus. Dabei hassten ihre Schwiegereltern Unpünktlichkeit - fast so sehr wie dreckige Kleidung. Sarah sprintete in Richtung ihrer Wohnung und fragte sich auf dem Weg dahin einmal mehr, warum es mit ihr, Nette und Nies derart schlecht lief. Schließlich war sie es gewesen, die Paul nach der unsäglichen Beziehung mit Lisa, die ihn ununterbrochen angelogen hatte, wieder aufgebaut hatte. Musste man dafür als Eltern nicht dankbar sein?
Zugegeben, dass sie Nies, der ihr bei ihrem ersten Treffen großzügig einen Schluck seines alleredelsten Whiskys angeboten hatte, den restlichen Abend über die gesundheitlichen Risiken von Alkohol aufgeklärt hatte, war wohl ebenso unglücklich gewesen, wie die Tatsache, dass sie jedes Jahr den Geburtstag von Nette vergaß. Aber sollte das nicht längst Schnee von Vorvorgestern sein?
Zuhause angekommen, durchwühlte Sarah achtlos ihren Schrank, suchte ein hinreißend sauberes weißes Kleid heraus, hielt es einen Moment in der Hand - und hängte es wieder an seinen Haken. Warum sollte sie sich für „NieNett" umziehen? Sie selbst störte der Fleck nicht wirklich. Er erinnerte Sarah an ein Schloss.
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