Schicksal
Als ich ihn das letzte Mal sah war er neun und ich sieben. Wir waren Kinder. Kinder, deren Leben noch in Ordnung war. Kinder, die von der Welt und den Tücken des Schicksals noch nichts wussten.
Und jetzt – Jetzt sind wir erwachsen. Da ich neunzehn bin, muss er jetzt einundzwanzig sein. Sein Geburtstag ist der dritte Juli, das weiß ich noch. Und ich kann mich auch noch genau an das warme, goldene Braun seiner Augen erinnern. Es sind immer noch dieselben Augen. Derselbe forschende Blick, bei dem ich schon immer das Gefühl hatte, er könnte durch alle meine Fassaden bis direkt in meine Seele schauen. So auch jetzt. Er schlägt die Dornenhecke, die ich um mich errichtet habe einfach nieder. Aber er wird nicht finden, was er sucht. Denn ich bin nicht mehr das kleine Mädchen von damals. Ich brauche ihn nicht mehr. Schon lange nicht mehr. Als er damals einfach gegangen ist, musste ich das auf die harte Art und Weise lernen. Ich hatte mit diesem Kapitel meines Lebens längst abgeschlossen. Dachte ich.
Bis sich vor genau sechsundzwanzig Minuten seine Arme um mich schlangen und mich zurück auf den Bordstein zogen. Ich weiß das so genau, weil ich kurz zuvor noch auf die Uhr geschaut hatte, um zu überprüfen, wann der Zug endlich kommen würde. Wann der ganze Scheiß endlich zu Ende sein würde. Wann mein Leben zu Ende sein würde.
Ich hatte mich für den Drei-Uhr-Zug entschieden, weil dann niemand mehr auf dem Bahnsteig sein würde. Ich wollte das. Ich hatte das geplant. Aber ich hatte die Rechnung ohne ihn gemacht. Warum musste er auch genau heute, um diese Uhrzeit um die Ecke kommen? Warum war er überhaupt hier? Zwölf Jahre! Zwölf Jahre hatte er sich nicht blicken lassen, aus was für Gründen auch immer. Und jetzt war er wieder da? Einfach so?
Warum kann mir das Schicksal, wenn es mir schon so ein beschissenes Leben bereitet, nicht wenigstens diesen einen Wunsch erfüllen, es zu beenden?
Jetzt steht er da vor mir, die Hände in den Taschen seines Sweatshirts vergraben und weiß vermutlich nicht, was er mit mir anfangen soll. Ich wusste doch gleich, dass es eine Scheißidee war, sich mit auf sein schon verdammt geiles Motorrad zu setzen. Er hatte mich mit in seine kleine Plattenbauwohnung genommen.
Seit damals hat er sich verändert, obwohl ich nicht genau sagen kann, wie. Er ist einfach erwachsen. Seine Gesichtszüge sind schärfer, aber auch feiner, und seine Haare kürzer geworden. Seine Schultern breiter und muskulöser. Doch das schiefe Lächeln ist immer noch dasselbe. Genau wie der Ausdruck in den warmen Augen und die feine Linie aus Leberflecken an seiner Schläfe. Es sind sechs. Ich habe sie gezählt, damals wie heute. Er sieht gut aus, geradezu verboten gut. Im Gegensatz zu mir. Während mich die Zeit gezeichnet hat, hat sie ihn geschliffen.
„Du kannst mit mir reden, wenn du möchtest. Ich werde dir zuhören."
Ganz sicher nicht.
„Es ist nicht mehr wie damals", sage ich geradeheraus. Euphemismen habe ich schon längst hinter mir gelassen. „ICH bin nicht mehr die von damals. Du hast bist einfach gegangen, du hast dich nicht verabschiedet, nicht ich."
Ich merke, wie alles wieder hoch kommt. Die ganze Vergangenheit, die ich in den letzten Jahren erfolgreich verdrängt habe und der ich heute endgültig ein Ende bereiten wollte.
Was er mir versaut hat.
„Ob du es willst oder nicht, ich werde dich jetzt nicht mehr aus den Augen lassen. Denn, obwohl dir das gerade vielleicht nicht so vorkommt, gibt es tatsächlich Menschen, die möchten, dass du weiterlebst."
„Aha. Wen denn?"
„Mich."
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