Fugenmasse
Es ist 23.10 Uhr. Ich bin müde, aber irgendwie auch nicht. Ich habe mal wieder diese Phase, in der ich nicht weiß, wie ich mich fühlen soll. Mein Kopf ist leer und meine Brust zerrissen. Der Teil, der meine Seele sein könnte, vielleicht aber auch nur mein Zwerchfell, wird in verschiedene Richtungen gezogen. Hin und her zwischen Wut und Freude. Hin und her zwischen Trauer und Glück. Hin und her zwischen Schreien und Lachen.
Ich tue nichts. Es gibt keinen Auslöser. Die Welt ist zu still, obwohl sie wohl nie still ist. Ich höre es nur nicht. Und alles, was ich hören kann, will ich nicht hören. Ich glaube, in diesem Moment würde ich mir sogar wünschen, mich richtig mit jemandem zu streiten, nur damit es laut ist. Könnte ja gut klingen.
Ich bin ein Jahreswagen, voller Energie und doch eingefroren, weil das Öl fehlt.
Der Sturm, der in mir toben will, aber es nicht kann, wird stärker und gefesselter, weil ich immer nur dasselbe sehe, die gleichen Gespräche führe und alles runterschlucke, weil ich nicht weiß, ob es das Richtige ist. Ob es das ist, was mein Ich tun würde.
Ich habe das Gefühl, ich gleiche einem Kleinkind, das erst noch Laufen lernen muss. Nur mit dem Unterschied, dass ich lernen muss, wer ich bin.
In meinem Kopf existieren so viele verschiedene Personen. Ich denke sie mir aus. Lese Bücher über sie. Wenn es gute Geschichten sind, behalte ich sie bei mir. Ich will sein wie sie, weil mir mein eigenes Leben zu langweilig ist und mir nicht genügt. Es ist egal, wie viele Probleme sie haben, Hauptsache, ihre Welt ist ein Rocksong.
Und irgendwann haben sich meine Vorstellungen mit der Realität vermischt und die feine Grenze zwischen mir selbst und meiner Fantasie ist verwischt.
Es gibt so wenig Dinge, die ich über mich selbst weiß. Ich könnte ein Dutzend Flüsse in Asien aufzählen oder eine quadratische Gleichung lösen, aber von mir selbst habe ich keinen blassen Schimmer.
Dabei möchte ich so viel sein. Selbstsicher, Rebellisch, Mutig, Verrückt, Liebenswürdig, Optimistisch, Pessimistisch. Aber statt mich zu entscheiden bin ich von allem ein bisschen. Oder gar nichts. Und das macht mich fertig. Ich möchte außergewöhnlich sein, aus der Menge herausstechen und nirgendwo dazugehören. Und dafür bin ich zu normal.
Probier's doch einfach aus, flüstert eine Stimme in meinem Kopf. Doch dafür bin ich nicht mutig genug und rede mir ein, ich wäre zu gefesselt von den Menschen um mich herum, die mich als eine bestimmte Person kennen. Deren Bild von mir ich nicht zerstören möchte. Wahrscheinlich, weil sie dann enttäuscht von mir wären. Weil sie dann denken würden, sie kennen mich nicht und sich von mir abwenden würden. Aber das will ich nicht.
Ich kann doch nicht einfach eine andere Lampe anknipsen. Ihr Licht würde sowieso trotzdem auf die altbekannten Teile fallen. Heißt das, diese Teile sind mein Ich? Aber da ist zwischen den verrückt-normalen-optimistischen Backsteinen ja auch noch die Fugenmasse aus Melancholie, Andersartigkeit und Kratzbürstigkeit, die ab und zu in den Vordergrund tritt. Wer versteht mich denn, wenn mein Ich sich nicht entscheiden kann? Sich vielleicht gar nicht entscheiden will, weil ihm alles zu gewöhnlich ist.
Ich habe das Gefühl, jeder um mich herum weiß genau, wer er ist. Sie haben alle ihre spezielle Art, etwas, was sie auszeichnet. Ist es töricht oder klug, die Hoffnung zu haben, das ich so etwas auch habe und nur nicht sehen kann? Aber selbst wenn mir ein anderer sagen würde, was er sieht, wäre es vielleicht nicht das Richtige. Vermutlich wäre es mir wieder zu normal. Manche wollen in der Menge verschwinden, ich möchte anders als die Menge sein. Nicht besser, nur anders.
Ab und zu stelle ich mir vor, wie es wäre, noch einmal von vorn zu beginnen. Jetzt an einen anderen Ort zu ziehen und neue Menschen kennen zu lernen. Vielleicht wäre es dann leichter, einfach ich zu sein und nicht irgendwer für irgendjemanden. Bin ich dieser irgendwer für irgendjemanden? Oder kann es mich nur durch diesen irgendjemand geben?
Ich male mir aus, wie ich mich einem fremden Menschen vorstelle. Ich glaube, ich würde sagen: Hey, ich bin Swea. Du kannst mich nicht definieren.
Und in dem Moment wird mir klar, dass es das ist. Dass ich nicht herausfinde, welche Eigenschaft auf mich zu trifft, weil ich in keine Schublade passe. Wozu sich selbst einem Wort zuzuordnen, wenn man doch einfach ein neues erfinden kann?
Ich muss nicht anders werden, um anders zu sein. Denn es ist meine Art, widersprüchlich zu sein. Wenn man mich genau kennt, dann merkt man, dass ich nicht in der Menge untergehe. Dann sieht man nicht nur die Backsteine, sondern auch die Fugenmasse.
Und man merkt, dass die Mauer nur mit der der Fugenmasse funktionieren kann.
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