Kapitel 5 [Daisy]
Ich wusste nicht, was ich tat, wusste nicht, was geschah. Alles, was ich sehen konnte, war, dass die Brücke weg war. Wie ausradiert, als hätte es sie nie gegeben. Ich hörte mir selber kaum zu, als ich beruhigend auf Seraya einredete, doch mein Blick ruhte wie paralysiert auf der Stelle, wo eine Hängebrücke hätte sein müssen. Ich entdeckte Eve und Cuinn, reglos in den Abgrund starrend, und lief mit zittrigen Beinen auf sie zu.
„W...was ist passiert?", fragte ich und blickte in zwei Augenpaare, die nicht weniger entsetzt schimmerten als ich es war. „Wart ihr hier, als das hier passiert ist? Wa..."
„Ja, wir waren hier", fiel mir Cuinn ins Wort, während Eves Augen hin und her huschten, als suche sie nach einer Erklärung für das Geschehene.
„Seraya war auf der Brücke", erklärte sie. „Die Brücke, sie...sie ist eingestürzt und hätte Cuinn sie nicht festgehalten, wäre sie...wäre sie..." Eve beendete ihren Satz nicht, doch wir alle wussten, was Seraya nun wäre. Meine Hände begannen unwillkürlich zu zittern.
Inzwischen waren auch Paul und Noah aus dem Haus gekommen, verwirrt und schockiert. Das waren wir alle. Zu acht standen wir nun da, im nassen Schnee, und die Kälte schien auf einmal unser kleinstes Problem zu sein. Fassungslose Blicke wurden ausgetauscht und Serayas unaufhörliches Schluchzen hallte laut in unseren Köpfen wider, ohne leiser zu werden. Juna strich behutsam über Serayas Rücken, während Kais Augen zornig geweitet waren, als würde er einen Schuldigen unter uns suchen. Pauls Gesicht war unnatürlich blass und er schien sich jeden Moment zu übergeben.
„Und was jetzt? Wir stecken hier fest, verdammte Scheiße!", durchbrach Kai nun diese schmerzhafte Stille. Juna funkelte ihn an. „Dir ist schon klar, dass Seraya gerade fast in den Abgrund gestürzt ist, oder? Könntest du mal ein wenig einfühlsamer sein?" Kais Kiefermuskeln spannten sich an, als würde er jeden Moment auf Juna losgehen, doch Noah trat zwischen sie. „Jetzt beruhigt euch mal! Das hilft jetzt echt niemandem!"
Ich nickte zustimmend und trat wieder zu Seraya, dessen Schluchzen nun verebbt war. Ihre Augen starrten ausdruckslos in die Leere und als ich ihr die Schulter tätschelte schien sie es kaum wahrzunehmen. „Aber jetzt mal im Ernst, ohne Serayas Schock kleinreden zu wollen, wir stecken hier wirklich fest", warf Paul ein und erntete sogleich einen vorwurfsvollen Blick von Juna, woraufhin er etwas verunsichert auf den Boden blickte.
„Ach echt? Ist mir noch gar nicht aufgefallen, dass die verdammte Brücke da unten fünfzig Meter in der Tiefe liegt", sagte Cuinn und seine Stimme triefte nur so von Ironie, doch Eve schüttelte entschieden den Kopf. „Beruhigt euch jetzt mal alle, ok?" Ihre Stimme klang ruhig, doch ich konnte in ihren Augen die Angst sehen. „Wir suchen jetzt im Haus nach einer Ansprechperson und fragen nach einem Satellitentelefon, das es hier garantiert gibt. Dafür brauchen wir keinen Empfang. Und dann kümmern wir uns darum, dass wir hier mit dem Hubschrauber rausgeholt werden, in Ordnung?"
Einige nickten, während Andere nicht reagierten, was im Grunde aufs Gleiche hinauslief, denn uns allen war klar, dass das die einzige Möglichkeit war. Langsam legte sich die Spannung wieder und Juna griff behutsam nach Serayas Hand. „Komm. Ich mach dir einen Tee." Seraya antwortete nicht, doch ließ sich von Juna in Richtung Haus begleiten, während alle Anderen reglos stehenblieben. „Eve hat Recht. Wir sollten jetzt nach so einem Satellitentelefon suchen", meinte ich bestimmt und dennoch vorsichtig, um mich nicht als nächstes Ziel von Kais wüsten Beschimpfungen zu machen, doch dieser presste die Lippen aufeinander und stapfte wortlos zum Haus. Langsam kam wieder Bewegung in alle.
„Wie kann eine Brücke einfach so einstürzen?", fragte Noah neben mir, eher an sich selber gerichtet, doch ich blickte ihn ratlos an, während wir zum Rubinpalast zurückgingen. „Ich weiß es nicht. Ich schätze, der Architekt hat irgendeinen schwerwiegenden Fehler gemacht, der sich aber erst ein paar Jahre später gezeigt hat... ." Das war die einzig mögliche Erklärung. Noah atmete tief durch, als müsse er sich zusammenreißen, nicht durchzudrehen. Er nickte. „Stell dir mal vor, was für ein Glück Seraya und wir alle hatten. Es hätte auch passieren können, wenn jemand mitten auf der Brücke steht. Derjenige hätte keine Chance gehabt." Ich zuckte leicht zusammen, konnte mich jedoch zu keiner Antwort durchringen.
„Das wird schon", sagte Noah und gab sich redlich Mühe, aufmunternd zu klingen. Ich lachte witzlos auf. „Ja. Das wird schon."
„Ne, ernsthaft, es muss hier im Gasthaus schließlich ein Satellitentelefon für Notfälle geben", sagte Noah, der den bitteren Ton in meiner Stimme nicht überhört hatte.
„Ich weiß schon. Du hast ja Recht. Meine Nerven sind einfach am Ende", erwiderte ich seufzend. Noah sagte nichts, weshalb ich ihm einen raschen Blick zuwarf. Seine Augen verweilten auf dem Dach des Rubinpalastes und ich bemerkte, dass seine Fäuste geballt waren. Ich folgte seinem Blick, doch da war nichts. Einfach nur ein gewöhnliches Dach. „Was siehst du?", wollte ich ratlos wissen, woraufhin Noah zusammenzuckte und mich anblickte, als wisse er nicht, wovon ich sprach. „Nichts", erwiderte er kühl. „Tut mir leid", fügte er hinzu, als er seinen schnippischen Ton bemerkte.
Er lächelte leicht. „Ich schätze mal, meine Nerven sind auch am Ende.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro