Kapitel 33 [Daisy]
Ich wusste nicht, wohin die andere Gestalt Eve und Cuinn geführt hatte. Was sie mit ihnen tun würde.
Ich nahm kaum wahr, wie wir durch den dunklen Gang geführt wurden, denn meine Sinne schienen wie benebelt zu sein.
Immer und immer wieder blitzte Levins Gesicht in meinem Kopf auf. Er war stets da. Irgendwo ganz hinten in meinen Gedanken, und doch schaffte er es immer wieder sich in den Vordergrund zu drücken.
„Er verdient dich nicht", hatte Celine mir damals gesagt, als ich einmal bei ihr übernachtet hatte, nachdem er mal wieder einen "Fehler" gemacht hatte. „Merkst du nicht, dass er sich immer für die selben Sachen entschuldigt und dann letztendlich nichts an sich ändert?"
Und sie hatte Recht. Natürlich hatte sie Recht. Sie war Celine. Sie hatte mich von Anfang an vor ihm gewarnt. Levin hatte Risiko und Gefahr bedeutet und ich hatte es geliebt, bis ich realisierte, dass es niemals gut enden konnte.
Aber niemals hatte ich damit gerechnet, dass das geschehen würde, dass er so weit gehen würde.
Und scheinbar schien hier jeder etwas mit diesem Vorfall zu tun zu haben. Jeder hier kannte Levin. Jeder, verdammt.
Ein Schmerz flammte in meiner Schulter auf, als der Maskierte mich hinter Kai durch eine geöffnete Tür stieß und ich unsanft auf dem harten Kachelboden auftraf.
Wie aus einem Traum erwacht, rappelte ich mich auf und wollte etwas sagen, doch die Tür wurde bereits mit einem Knall zugeworfen. Fluchend stieß ich meine Handfläche gegen das harte Holz und ein kleiner Teil von mir genoss das schmerzhafte Brennen auf der bloßen Haut.
„Die Tür ist abgeschlossen", flüsterte ich, woraufhin Kai schnaubte. „Natürlich ist sie das."
Ich eilte zum Fenster des Zimmers, versuchte es zu öffnen, doch es war ebenfalls verschlossen. „Wir könnten es einschlagen", schlug Kai vor und näherte sich ebenfalls der Glasscheibe, doch ich fuhr herum und funkelte ihn an. „Und dann? Was dann? Wir sind im zweiten Stock! Hier hängt kein Seil. Wir würden uns etwas brechen. Und außerdem, selbst für den unmöglichen Fall, dass wir da unten unversehrt ankommen", ich schluckte und musterte Kai, dessen dunkle Augen hilflos umherschweiften, „wohin sollen wir gehen?"
Kai antwortete nicht und ließ seine Fingerknöchel knacken. „Also bleiben wir hier. Und warten auf das, was die da draußen mit uns vorhaben?"
„Vielleicht ist das alles ja nur eine Reality TV Show?", schlug ich vor und scheiterte kläglich bei dem Versuch, die Situation zu lockern.
Kai raufte sich die Haare, sein Blick war wild, seine Füße stets in Bewegung, als würde er sich davor fürchten, einen Moment zur Ruhe zu kommen, um der Stille zu lauschen.
Mit starrer Miene beobachtete ich, wie seine unruhige Erscheinung immer hoffnungsloser wurde, bis er sich auf dem schmalen Bett niederließ und auf einmal reglos Löcher in die Wand starrte.
„Es tut mir Leid." Ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass die Worte aus meinem Mund kamen.
Kai hob seinen Blick und sah mich mit einem abwesenden Ausdruck in den Augen an. „Was tut dir Leid?"
Ich lehnte noch immer an der Wand am Fenster. „Ich habe vorhin bemerkt, wie du mich angesehen hast, als ich gesagt habe, dass ich mit Levin zusammen war. Dass ich die Tänzerin war, die damals auf der Bühne stand, als alles passiert ist. Ich habe den Hass in deinen Augen gesehen." Ich zögerte kurz, ehe ich hinzufügte: „Das tut mir Leid. Dass er dir das angetan hat. Was auch immer es war." Kai erwiderte meinen Blick schweigend, ehe er sich erhob und zu mir trat.
„Es war meine Mutter, weißt du. Sie stand damals im Weg, als er zur Bühne... zu dir stürmen wollte. Er hat sie zur Seite gestoßen. Sie war sehr krank, sie hatte bereits viele OPs hinter sich, hatte vor nicht allzu langer Zeit einen Autounfall mit schweren inneren Verletzungen. Sie hat Ballett geliebt. Und sie ist bei dem Sturz gestorben", sagte Kai und über seine Augen legte sich ein glitzernder Schleier. „Er hat sie getötet."
Kai befeuchtete sich seine Lippen und sein Blick wurde wieder klarer, während er mich eindringlich ansah. „Aber dich trifft keine Schuld."
Seine Worte klangen ehrlich und ich genoss es, sie zu hören, sie fühlten sich an wie damals, als Celine mir als Überraschung die Reise nach Alaska geschenkt hatte. Noch besser sogar. Und doch dachte ein kleiner Teil von mir noch immer, dass ich sie nicht verdiente. Ich verdiente die Vergebung nicht. Denn auch, wenn ich nicht diejenige war, die all das getan hatte... es war wegen mir geschehen. Levin war wegen mir zur Aufführung gekommen. Mit der Absicht, mir wehzutun. Wenn ich doch nur nie...
„Dann war deine Mutter die Frau, die in den Medien war. Sie hieß doch... Catherine oder so etwas, nicht wahr?", fragte ich und verfluchte mich selber dafür, dass ich so tat, als wüsste ich ihren Namen nicht. Ich hatte die Namen jedes Opfers im Schlaf gemurmelt. Hatte mir ihre Bilder im Internet angesehen. Hatte mich gefragt, was sie jetzt, in diesem Moment wohl tun würden, was sie wohl mit ihrem Leben angefangen hätten, wenn sie nicht gestorben wären.
Was wäre wohl aus dem kleinen Jungen, Steve, geworden? Er würde in diesem Alter vermutlich die Grundschule beendet haben. Er würde schreiben und rechnen lernen und er würde stolz erzählen, dass er Sänger oder Polizist oder Schauspieler werden wollte. Oder vielleicht auch Tänzer.
Ich hatte irgendwo jemandem den Sohn genommen. Den Sohn, der noch sein Leben vor sich hatte.
Mir traten Tränen in die Augen und ich spürte, wie Kai mir eine Hand auf die Schulter legte.
Und was wäre aus der jungen Frau geworden? Sofia, so hieß sie. Sie hatte vermutlich irgendwo gearbeitet. Sie hatte vielleicht einen Freund oder eine Freundin. Vielleicht hatte sie Pläne gehabt, eine Weltreise zu machen, oder ein Unternehmen zu gründen.
„Es tut mir Leid", flüsterte ich erneut und wollte zurückweichen, doch Kai hielt mich fest. „Daisy, hör mir zu. Es war nicht deine Pflicht das zu verhindern. Es war nicht deine Aufgabe, ihn zu einem besseren Menschen zu machen." Kais Stimme war so ruhig, so mitfühlend, wie ich sie noch nie gehört hatte. „Du hast auch wegen ihm gelitten."
Nicht genug, wollte ich sagen. Zu viel.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, doch Kai schien es auch nicht von mir zu erwarten.
„Vor ein, zwei Jahren war ich noch voller Hass", sagte er leise. „Da hätte ich auch dich gehasst. Obwohl du nicht einmal etwas getan hast. Ich hätte dich gehasst, einfach nur, weil du das eigentliche Ziel von Levins Anschlag warst und es stattdessen Andere getroffen hat. Aber jetzt", er lächelte ganz leicht, „hasse ich dich nicht, Daisy. Und du solltest das auch nicht."
Ich blinzelte, unfähig auszudrücken, wie viel mir Kais Worte bedeuteten, unfähig ihre Bedeutung überhaupt zu verstehen. „Danke, Kai." Ich umarmte ihn etwas holprig und musste lachen und er begann ebenfalls zu lachen.
Es fühlte sich so leicht an, als hätte ich erst jetzt nach all den Jahren verstanden, wie man richtig atmete.
„Du bist wirklich eine gute Freundin, Daisy", sagte Kai und ich lächelte. „Du bist auch ein ganz passabler Freund. Wobei ich dir meistens für deine Kommentare eine runterhauen will...", erwiderte ich scherzhaft, doch meine Augen zeigten mehr als deutlich, wie viel es mir bedeutete, dass Kai mich als Freundin sah, wie viel mir diese Freundschaft bedeutete.
„Und wer glaubst du, tut das alles?", fragte Kai schließlich. „Levin ist tot. Aber es muss irgendetwas mit ihm zu tun haben."
„Ich weiß es nicht", erwiderte ich leise. „Es muss jemand sein, der ihm nahesteht. Der ihn rächen will."
„Und wer könnte das sein? Du kanntest ihn hier wahrscheinlich am besten."
„Ich kannte ihn nicht wirklich." Meine Stimme war kühler als ich beabsichtigt hatte, weshalb ich mich räusperte. „Seine Familie war nicht gut. Sie haben ihn nicht gut behandelt, also denke ich nicht, dass ihn jemand von ihnen rächen wollen würde."
Kai massierte sich gedankenverloren die Schläfe und wollte gerade etwas sagen, als das Geräusch von knisterndem Papier die Stille erfüllte. Wir fuhren beide in Richtung Tür herum.
Ein Blatt war durch den Türspalt geschoben worden.
Meine Hände zitterten, als ich es auseinander faltete und wir uns über die schörkelige Schrift beugten.
„Ihr habt doch hoffentlich kein gutes Ende erwartet, oder? So enden schließlich die meisten Märchen. Bald wird jeder von euch das bekommen, was er verdient."
Kai und ich sprachen nicht mehr.
Wir saßen die ganze Nacht lang auf dem Boden, Rücken an Rücken. Ich war hungrig und müde und nickte irgendwann ein, doch immer wieder fuhr ich nach oben, starrte in den düsteren Raum und fragte mich, ob nicht alles besser gewesen wäre, wenn Levin seinen Anschlag präziser geplant hätte.
Dann wäre der Balken über der Bühne auf mich gefallen, anstatt auf den armen, unschuldigen Jungen.
Dann wäre Levin nicht aufgesprungen, um mich anzugreifen, dann hätte er nicht all die unschuldigen Menschen getötet.
Und dann wären die Anderen auch vermutlich nie hier auf diesem Berg gefangen genommen worden.
Vergeben und Vergessen.
Ich lachte leise und verbittert und schlief wieder ein, ohne den bitteren, sauren Geschmack der Schuld von meiner Zunge zu bekommen.
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