Kapitel 26 [Eve]
Die Dunkelheit war erfrischend und es tat gut, nicht mehr von so vielen Gesichtern umgeben zu sein.
Cuinns Schritte, die vor mir knirschend durch den Schnee stapften, und seine dunkle Silhouette, die fast mit der Nacht verschwamm, leiteten mich durch die Finsternis.
Einzig und allein das matte Licht des Rubinpalasts beleuchtete unseren Weg über die glitzernden Eiskristalle, denn der Himmel war bewölkt und hatte die Sterne mit einem grauen Schatten umhüllt.
Eigentlich war ich müde, wollte einfach nur schlafen, doch nach dem Wahrheit-oder-Pflicht-Spiel hatte Cuinn mir mit einer unauffälligen Handbewegung bedeutet, mit ihm nach draußen zu gehen.
Er schien es eilig zu haben und mir war der angespannte Ausdruck, der sich vorhin über sein Gesicht geschlichen hatte, als er sich die Jacke übergeworfen hatte, nicht entgangen.
Ungeduldig beeilte ich mich, zu ihm aufzuholen, und warf ihm einen raschen Blick zu.
„Was ist los?", fragte ich misstrauisch, immer noch neben ihm her hetzend, denn er schien nicht vorzuhaben, irgendwann stehen zu bleiben. Erst als wir den Abgrund erreicht hatten, kam er zur Ruhe und drehte sich zu mir. Es war zu dunkel, weshalb ich lediglich die Konturen seines Gesichts und das Glänzen in seinen Augen erkennen konnte.
„Es gibt da etwas, über das ich mit dir sprechen muss", sagte Cuinn mit gepresster Stimme, in der eine solche Unruhe lag, dass ich zusammenzuckte und die Arme erwartend vor der Brust verschränkte.
„Ich will das alles hier nicht nur überleben, sondern würde auch sehr gerne erfahren, wer das alles macht", fuhr Cuinn unbeirrt fort. „Und vor allem, wieso. Was haben wir alle getan, dass er uns so etwas antun will? Haben wir alle hier vielleicht... etwas gemeinsam?"
Ich schwieg und meine Finger wanderten wie immer, wenn ich nachdachte, über meinen Nasenrücken. Mit schief gelegtem Kopf musterte ich Cuinn, der starr und reglos in der Dunkelheit stand.
„Naja, wir alle haben etwas in unserer Akte stehen, was niemand wissen soll. Jedenfalls sah jeder von uns geschockt aus, als er seine gelesen hat", meinte ich und kniff die Augen zusammen, während Cuinn langsam nickte und sagte: „Aber diese Geheimnisse... sie müssen doch irgendwie zusammenhängen. Der Täter hat uns alle schließlich gezielt ausgewählt."
„Das wissen wir noch nicht", wandte ich ein. „Es könnte auch ein Psycho sein, der einfach irgendwo herumgeschnüffelt und sich irgendwelche Leute mit Geheimnissen zusammengesucht hat, bei denen er diese kranke Sache abziehen kann."
„Ja, das kann sein", murmelte Cuinn und legte den Kopf in den Nacken. „Aber es könnte auch sein, dass er einen anderen Grund hat. Du weißt schon. So Sachen wie Eifersucht, Rache. Die typischen Mordmotive halt."
„Ich habe noch nie jemandem etwas so schlimmes angetan, dass sich jemand an mir rächen müsste", widersprach ich entschieden. „Ich weiß nicht, wie sieht's denn bei dir aus?"
Cuinn schwieg einen Moment, doch dann schüttelte auch er den Kopf und beugte sich leicht über den Abgrund, um in die Tiefe zu blicken. Ich konnte förmlich sehen, wie viel Überwindung es ihn kostete, den steilen Abhang hinabzusehen, und erinnerte mich daran, wie er mir vor ein paar Tagen von seiner Höhenangst erzählt hatte.
„Das ist auch eigentlich nicht der Grund, wieso ich mit dir sprechen wollte. Mir ist nämlich etwas aufgefallen", sagte Cuinn schließlich und löste seinen Blick vom Abgrund, der aufgrund der nächtlichen Dunkelheit, unendlich steil und tief wirkte und dessen Boden man kaum erkennen konnte. Seine dunklen Augen sahen mich eindringlich an.
„Das Geheimnis, das in meiner Akte stand, war im Groben das, was ich dir schon einmal erzählt habe. Du weißt schon, das mit meiner Cousine."
Er schluckte und obwohl seine Stimme fest und sicher klang, entnahm ich ihr ein leichtes Zittern. Ich nickte, ohne zu wissen, ob er es in dieser Finsternis überhaupt sehen konnte.
„Bei mir ist es auch das Geheimnis mit meinem Bruder", erwiderte ich leise und hoffte inständig, dass ich nicht allzu verletzlich wirkte.
Ja, und wenn schon?, verlangte eine Stimme in meinem Kopf zu wissen. Was ist schlimm daran, verletzlich zu sein?
Cuinn räusperte sich. „Jedenfalls ist mir vorhin, während wir Wahrheit-oder-Pflicht gespielt haben, etwas aufgefallen", er zögerte kurz, und auch wenn ich sein Gesicht kaum sehen konnte, wusste ich, dass er hin und her gerissen war, sich nicht entscheiden konnte, ob er die folgenden Worte wirklich sagen sollte.
„Seraya hat mich nämlich an jemanden erinnert."
Meine Augen wurden schmaler und durchbohrten Cuinn fragend. Alarmglöckchen begannen, leise in meinem Kopf zu schrillen, doch ich blendete sie gekonnt aus, um so ruhig wie möglich zu bleiben.
„Und bevor du fragst. Nein, ich weiß nicht, woher sie mir bekannt vorkommt", sagte Cuinn und schien sichtlich verzweifelt, seine Erinnerungen zu durchkämmen. „Nur die Art, wie sie auf dem Sofa saß und dich selbstsicher angegrinst hat, hat mich an irgendetwas – irgendjemanden – erinnert."
„Und deshalb glaubst du, dass wir alle miteinander zu tun haben, obwohl wir uns noch nie begegnet sind?", fragte ich nachdenklich, was Cuinn mit einem Nicken erwiderte.
Ich rief mir Serayas Gesicht in den Kopf, versuchte krampfhaft, herauszufinden, ob sie zufällig auch mir bekannt vorkam, doch ich konnte nach wie vor keine Ähnlichkeiten zu einer Person, der ich irgendwann mal begegnet war, erkennen.
„Wir müssen mit den Anderen reden", schlug ich vor, was Cuinn ein witzloses Lachen entlockte.
„Eve, erstens, interessiert niemanden das Motiv des Täters, sondern einzig und alleine die Frage, wie wir hier wegkommen", meinte er fast schon verspottend. „Und außerdem sollte man hier immer aufpassen, wem man etwas erzählt. Es könnte immerhin einen Verräter unter uns geben."
Seine eindringlichen Worte, bewirkten ein beunruhigtes Gefühl in meinem Bauch, denn auch, wenn ich es nicht wahrhaben wollte, hatte Cuinn Recht.
„Vertraust du mir denn, Cuinn?", fragte ich plötzlich aus dem Nichts, ohne darüber nachzudenken. Ich war dankbar für die Dunkelheit, denn sie verbarg meine geröteten Wangen.
Cuinn schwieg einen Moment lang, seine Augen lagen auf mir, ohne mich in der Finsternis wirklich sehen zu können.
„Ja", sagte er schließlich mit einer nicht deutbaren Stimme, ehe er sich zur Seite drehte und zum Rubinpalast blickte.
„Weil ich dich neulich gerettet habe und du das Gefühl hast, es mir schuldig zu sein?", wollte ich leise wissen.
„Nein. Sagt mir einfach nur mein Bauchgefühl."
Ich lachte auf. „Dein Bauchgefühl?"
„Ja, mein Bauchgefühl. Ich beiße mich nicht so auf Fakten fest wie du, Eve."
Ich konnte das belustigte Lächeln in Cuinns Stimme hören und musste unwillkürlich ebenfalls lächeln. Ich räusperte mich und wandte den Blick ab.
„Versuch dich daran zu erinnern, woher du Seraya kennst", sagte ich und gab mir Mühe, wieder ernst und entschieden zu wirken, doch meine Lippen wollten einfach nicht aufhören zu lächeln.
„Ich sag dir Bescheid, wenn es mir einfällt", erwiderte Cuinn und setzte sich langsam in Bewegung, um zurück zum Rubinpalast zu gehen, doch er blieb neben mir noch einmal stehen.
„Ich glaube nicht, dass du die Verräterin bist, Eve. Aber glaubst du das selbe auch über mich?" Ich wusste, wovon er sprach. Was er eigentlich meinte. Ich blieb reglos stehen, starrte in die Finsternis und horchte in die Stille, in der ich nur meinen eigenen Atem vernahm.
„Ja", sagte ich leise und war mir auf einmal unglaublich sicher. Ich richtete meinen Blick in die Richtung, wo seine Silhouette wartend verharrte. „Ich vertraue dir auch."
„Du vertraust mir", sagte er, als müsste er die Worte noch einmal überprüfen. „Und das, obwohl du dafür keine Beweise hast? Obwohl du nicht sicher wissen kannst, ob ich nicht vielleicht doch der Verräter bin?" Er beugte sich leicht zu mir und in dem spärlichen Licht konnte ich das selbstsichere Lächeln auf seinen Lippen erkennen. „Oder weißt du jetzt endlich, wie man seinem Bauchgefühl vertraut?"
Darauf wusste ich keine Antwort, denn meine Gedanken überschlugen sich, als Cuinn einen Schritt auf mich zu machte und mich musterte. Er sah aus, als wollte er etwas sagen.
„Wir sollten jetzt wahrscheinlich zurückgehen", meinte er schließlich, auch wenn er nicht so wirkte, als wären das wirklich die Worte, die er sagen wollte.
Ich nickte langsam und wartete darauf, dass Cuinn sich in Bewegung setzte, doch er tat es nicht. Stattdessen blickte er mich mit funkelnden, herausfordernden Augen an.
Ich machte einen kleinen Schritt auf ihn zu und in dem Moment, als ich die freudige Überraschung in Cuinns Augen sah, als er seine Hand nach mir ausstreckte, fing mein Blick hinter ihm eine Bewegung auf.
Eine schnelle. Hastige. Flüchtende Bewegung, die sich vom Rubinpalast entfernte.
Ich erstarrte.
Cuinn ließ seine Hand wieder sinken und in seinen Blick schlich sich eine Spur von gekränkter Verwirrung, doch ich deutete mit dem Finger rasch hinter ihn.
„Da rennt jemand", flüsterte ich mit großen Augen, woraufhin Cuinn herumfuhr und mit schmalen Augen die Umgebung scannte. Für einen kurzen Moment, fragte ich mich, ob mir meine Fantasie einen Streich gespielt hatte, doch nach genauerem Hinsehen, entdeckte ich das sich bewegende Etwas wieder in der Dunkelheit. Es war nur ein Schatten, der grobe Umriss eines Menschen.
Cuinn drehte sich kurz zu mir und obwohl sein Gesicht fast komplett in Finsternis getaucht war, wusste ich, dass er es auch gesehen hatte.
Ohne nachzudenken, setzte ich mich in Bewegung und begann, fast zeitgleich mit Cuinn, in Richtung des flüchtenden Schattens zu rennen.
Schon in der Schule war ich um einiges besser im Ausdauerlauf als im Sprinten, weshalb ich rasch an Geschwindigkeit verlor, doch ich biss die Zähne zusammen und verdrängte den stechenden Atem in meiner Brust.
Meine Beine flogen fast über den kalten, knarzenden Schnee, die kalte Luft strömte in meine Lungen. Ich verlor den Schatten immer wieder aus den Augen, ehe er wieder in meiner Sicht aufblitzte.
Keuchend erreichten Cuinn und ich das andere Ende des Grundstücks, wo, wie überall, ein Abgrund klaffte.
Und vom Schatten... war keine Spur.
Verwirrt blickte ich mich um, versuchte im spärlichen Licht die flüchtende Gestalt zu erkennen, doch sie war wie vom Erdboden verschluckt. Einfach weg. Cuinn trat zum Abgrund und blickte nach unten, als würde er es tatsächlich in Erwägung ziehen, dass die flüchtende Gestalt, sich einfach in die Tiefe gestürzt hatte.
„Sie kann doch nicht einfach verschwinden", flüsterte ich fassungslos, immer noch um mich blickend, während Cuinn sich nach unten gebeugt hatte und versuchte, etwas zu erkennen. Er drehte sich zu mir.
„Die Person ist gesprungen. Ganz sicher", sagte er leise, woraufhin ich den Kopf schüttelte.
„Wir haben es nicht gesehen", erwiderte ich entschieden. „Wir können es nicht sicher wissen."
Cuinn erhob sich ruckartig, ohne vom Abgrund wegzutreten. „Ich bin mir ganz sicher. Die Person war hier. Und dann war sie weg. Sie ist gesprungen", beharrte er und ich kniff die Augen zusammen. „Ach ja? Selbst, wenn es so wäre. Willst du ihr jetzt hinterher springen?"
Cuinn lächelte matt und blickte wieder zum Abgrund. „Nein. Aber ich merke mir die Stelle."
Mit verschränkten Armen beobachtete ich ihn dabei, wie er aus seiner Jackentasche einen Stift zog und ihn an der Stelle, wo er stand, kurz vor dem Abgrund, in den Schnee steckte, sodass man ihn nur sah, wenn man gezielt nach ihm suchte.
Mit skeptischem Blick betrachtete ich sein zufriedenes Gesicht, ehe ich in den Abgrund sah. Es war eine besonders steile Stelle, die senkrecht in die Tiefe fiel. Wir hatten ihr nie Beachtung geschenkt. Warum auch, wenn es eine Stelle gab, die weniger steil war, und an der wir auch vermutlich hinabgeklettert wären, hätte Cuinn uns nicht vom Gegenteil überzeugt.
Dieser richtete sich auf, und ich konnte in seinem Gesicht dieselbe Unzufriedenheit erkennen, wie auch ich sie gerade verspürte.
Das ist gerade unsere Chance gewesen. Wir hätten einen Täter fangen können.
Ein beunruhigender Gedanke nistete sich in meinem Kopf ein.
„Cuinn", meinte ich leise. „Denkst du die Person, die gerade geflohen ist, ist einer der Täter? Oder ist es einer von uns? Vielleicht haben die Anderen den Verräter unter uns enttarnt und er ist gerade geflohen... ." Cuinns Schultern spannten sich an und er nickte leicht. „Wir sollten zurück. Vielleicht ist etwas passiert."
Mit großen Schritten, eilten wir zum Haus, stürmten durch den hohen Schnee, als ein unangenehmer, nasser Schneeregen einsetzte und unsere ohnehin schon eingeschränkte Sicht, noch mehr verfinsterte.
Als wir zitternd und mit durch die Kälte geröteten Wangen die Haustür des Rubinpalasts öffneten und in den Korridor traten, schlug mein Herz vor lauter Angst. Ich wusste nicht, was uns erwarten würde.
Das Licht des Gangs blendete mich und ich musste mehrmals blinzeln, um wieder sehen zu können. Ich sah in Cuinns Augen eine unruhige Furcht, in Form von flackernden Schatten. Wir machten uns nicht die Mühe, die Schuhe auszuziehen oder uns aus unseren Jacken zu schälen, sondern stürmten sogleich in den Gemeinschaftsraum.
Der Kamin knisterte und Noahs Gitarre lehnte gelassen an einem Sofa. Überall standen Teetassen, lagen Kissen und Decken.
Ich wusste, dass etwas nicht stimmte, noch ehe ich den Raum betreten hatte, denn die unheilvolle Stille sagte genug.
Und als ich das leere, stille Zimmer betrat, war die Realisierung wie ein Schlag ins Gesicht.
„Wo sind die Anderen?", flüsterte ich und mir war das Zittern in meiner Stimme genauso egal wie die Hysterie, die in ihr schwang. Cuinn starrte fassungslos in den Raum, der so unscheinbar und normal wirkte, als würde jeden Moment eine Gruppe lachender, junger Menschen eintreten, um den Abend zu genießen.
Ich blinzelte, in der lächerlichen Hoffnung, die Anderen würden plötzlich wieder auftauchen, während Cuinn langsam zu einem Sofa trat und sich darauf niederließ.
„Vielleicht sind sie irgendwohin gegangen. In den ersten Stock. Oder in die Küche", sagte er leise, doch seine Worte klangen hoffnungslos und leer, als hätte selbst er, dessen Selbstüberzeugung immer und überall present war, inzwischen aufgegeben.
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