Kapitel 2 [Eve]
Hier war er also. Der Ort, der meine Probleme lösen wurde. Oder sie zumindest verschieben würde, sodass ich mir einen sorgfältigen Plan erstellen konnte, wie ich diese Probleme lösen würde. Manch einer würde es feige Flucht nennen, doch ich zog es vor, es sorgfältige Planung zu nennen. Ich mochte Pläne. Nicht, dass ich nicht spontan war. Ganz im Gegenteil, die Idee einer Reise in die Berge war mir gestern Abend gekommen, als ich über ein paar Texten gebrütet hatte und mir sehnlichst eine Auszeit gewünscht hatte. Und jetzt, achtzehn Stunden später stand ich hier, vor einem alten Holzhaus, das nicht ansatzweise wie ein Rubinpalast aussah, aber doch einen gemütlichen Eindruck machte.
„Manchmal hasse ich meine Spontanität", murmelte ich in meinen Schal rein, obwohl ich ganz genau wusste, dass dieser Urlaub zwar an sich spontan war, jedoch nur ein Vorwand war, dem eigentlichen Problem aus dem Weg zu gehen. Es war eiskalt, doch ich mochte den Winter. Besonders die Stille war schön, in ihr konnte ich endlich meinen Gedanken lauschen, die ich zuhause normalerweise unterdrückte.
Mit steifen Fingern klopfte ich an und vergrub mein frierendes Gesicht in den Wollschal, der nicht nur um meinen Hals geschlungen war, sondern auch meine hellblonden Haare bedeckte, die in so kalten Temperaturen sonst schnell austrockneten. Eine rothaarige junge Frau öffnete mir breit lächelnd. Neben ihr erblickte ich eine weitere schwarzhaarige, hochgewachsene Frau, die ebenfalls in meinem Alter zu sein schien. Ihre braunen Augen blickten mich einen Moment hoffnungsvoll an, ehe sie enttäuscht ermatteten. „Ist das deine Freundin?", fragte die Rothaarige an die Schwarzhaarige gerichtet, die den Kopf schüttelte, mich aber anschließend freundlich anlächelte.
„Wärt ihr so lieb und lasst mich rein?", fragte ich höflich und gab mir Mühe, nicht allzu genervt zu klingen. Entschuldigend trat die Rothaarige mir aus dem Weg. Ich knallte die Tür hinter mir zu und scannte den Raum ab. Nicht dass es in dem fast komplett leeren Raum wirklich etwas zu sehen gab. Ich stellte meinen kleinen Handkoffer ab, ehe ich mich aus meinem schwarzen, langen Mantel schälte, um ihn an den Garderobenständer zu hängen.
Etwas besänftigt wandte ich mich an die zwei Frauen. „Ich bin Eve. Wisst ihr, wo ich meinen Zimmerschlüssel herbekomme?" Die zwei Frauen stellten sich als Juna und Daisy vor und führten mich in das Zimmer, das der Gemeinschaftsraum zu sein schien. Ich warf einen kurzen Blick auf die Liste, die auf einem der Couchtische lag. Eve Moldwin. Zimmer 14, zweiter Stock. „Das ist lustig, wir scheinen fast alle im zweiten Stockwerk zu sein", bemerkte Juna, die neben mir aufgetaucht war und zweifellos ein Gespräch beginnen wollte, doch ich hatte weder die Kraft noch die Nerven mich jetzt über den letzten Klatsch zu unterhalten. Ich brauchte Ruhe. Ich schenkte ihr ein ehrliches aber etwas kühles Lächeln und deutete Richtung Treppe. „Ich gehe mal auf mein Zimmer."
Landschaftsbilder. Alle Wände in diesem Haus schienen mit ihnen zugepflastert zu sein, als würden wir uns nicht an einem Ort befinden, der selber eine der schönsten Landschaften war. Eine junge Brünette mit einem schweren Rucksack lief an mir vorbei und war scheinbar auf dem Weg nach unten. „Hi", grüßte sie mich und verlor dabei das Gleichgewicht unter dem schweren Gewicht ihres Gepäcks. Fast wäre sie rückwärts gefallen, doch ich ließ meinen Koffer fallen, um sie am Arm zu packen und wieder hoch zu ziehen. „Nach vorne lehnen", sagte ich knapp, was sie mit einem Grinsen quittierte. „Danke", meinte sie. „Ich bin etwas tollpatschig, was das angeht. Ich bin übrigens Seraya."
„Eve", erwiderte ich ein wenig zu halbherzig, doch das schien Seraya nicht im Geringsten zu stören. „Schade, dass wir nicht wirklich lange quatschen können", meinte sie und ihre haselnussbraunen Augen wirkten ehrlich bedauernd. „Ich würde mich gerne noch mit dir unterhalten, aber ich reise heute schon ab." Bevor sie an mir vorbeilief lächelte sie noch einmal. „Aber ich wünsche dir einen erholsamen Urlaub. Es ist sehr schön hier!" Ich nickte ihr dankend zu, ehe sie mit ihrem überdimensionalen Rucksack um die Ecke verschwand, um die Wendeltreppe nach unten zu nehmen. Ich wandte mich wieder um, packte meinen auf den Boden gefallenen Koffer und entdeckte bereits nach wenigen Schritten Zimmer 14.
Da die Tür offen war, ging ich davon aus, dass ich meinen Zimmerschlüssel drinnen finden würde. Das Zimmer war schön, auch wenn es mich sowieso nicht kümmerte, solange es ein Bad und ein Bett gab. Etwas unentschlossen, was ich als erstes tun sollte, begann ich, ein paar Kleider in den schmalen, dunkelbraunen Schrank zu sortieren, was ich jedoch schon nach wenigen Minuten abbrach. Eine stechende Leere machte sich in meinem Magen breit und ich entschloss mich, zuerst in der Küche nach etwas zu essen zu fragen, bevor ich mein Gepäck ausräumte.
Müde rieb ich mir über die Augen und bürstete meine blonden Haare, die leicht gerade bis zur Schulter reichten. Meine blauen Augen, die meistens grau wirkten, bohrten sich in mein Spiegelbild. Die Ähnlichkeit zu ihm war nicht übersehbar. Jeden Tag schien ich aufs Neue zu realisieren, dass ich nicht vor meinen Eltern wegrennen konnte, wenn ich sie jedes Mal im Spiegel erblickte. Ich sah aus wie mein Vater, bloß, dass ich das spitze Kinn und die Haarfarbe meiner Mutter hatte. Doch ansonsten war ich das bloße Ebenbild jenen Mannes, den ich lieben sollte, aber einfach nicht konnte. Ich hasste Spiegel.
Meine Lippen verzogen sich zu einem ironischen Lächeln und ich wandte mich von meinem Spiegelbild ab. Nicht, weil ich mich hässlich fand, sondern weil ich einfach nur meine Eltern vergessen wollte. Vergessen und hinter mir lassen, endlich mein eigenes Leben führen.
Ich schälte mich aus meinem T-Shirt und warf mir einen Pullover über das schwarze Top, ehe ich meine Zimmertür öffnete und wieder in den Flur trat, um endlich etwas essen zu gehen. Im Gang stand ein blonder Mann, der soeben dabei war, das Fenster im Korridor zu öffnen. Kalte Luft strömte in meine Richtung und ich konnte nicht verhindern, dass mein ganzer Körper erzitterte.
„Wieso machst du das Fenster auf?", fragte ich den jungen Mann, der beim Klang meiner Stimmer herumfuhr. „Es hat minus zehn Grad draußen und ich habe kein Interesse daran, mich in meinem Urlaub zu erkälten." Ich war verärgert, zwang mich jedoch ruhig und distanziert zu bleiben. Der Mann zuckte mit den Schultern. „Es ist stickig hier drin", erwiderte er und ich konnte klar und deutlich den provokativen Unterton in seiner Stimme hören. Ich zuckte mit den Schultern und wandte mich ab, denn auch wenn ich große Lust hatte, ihm meine Meinung zu sagen, gewann mein hungernder Magen, der sich nach nichts mehr sehnte als einem belegten Brot und Salat.
„Cuinn", rief er mir hinterher und ich warf ihm noch einmal einen gleichgültigen Blick zu. „Cuinn?"„Ja, Cuinn. So heiße ich." Seine Mundwinkel zuckten, als er das Fenster noch weiter öffnete und genießerisch einatmete. „Frische Bergluft ist wirklich das Beste, nicht wahr, Eve?"
Ich blieb stehen und blickte ihm unbeeindruckt in die Augen, doch in meinem Kopf drehte sich ein Rädchen nach dem Anderen, während ich versuchte mich daran zu erinnern, ob und woher Cuinn mich kannte.
Ein breites Lächeln bildete sich auf seinen Lippen. „Nein, wir kennen uns nicht", antwortete er auf die Frage, die in meinem Kopf herumspukte, während mein kühler Blick auf ihm lag. „Ich weiß deinen Namen, weil du der letzte Gast auf der Gästeliste bist, der bis vor kurzem noch nicht da war und ich alle anderen bereits beim Namen kenne. Also musst du Eve sein", meinte er und meine Gedanken kamen wieder zur Ruhe. Mist, hätte ich mir auch denken können.
Ich zuckte mit den Schultern. „Lüfte doch bitte in deinem eigenen Zimmer, wenn du die Bergluft so liebst, Cuinn. Mir ist egal, was du in Zimmer 18 treibst, solange ich im Flur nicht erfriere."
Ich ließ es mir nicht anmerken, doch ich genoss die Genugtuung, als ich für einen kurzen Moment Verwirrung in Cuinns braunen Augen entdeckte.
Ich lächelte leicht. „Du bist nicht der Einzige, der auf Gästelisten die Namen und Zimmernummern lesen kann", meinte ich und sein kurzer Moment der Unsicherheit war wieder verschwunden, als er begriff, woher ich seine Zimmernummer kannte. Seine Mundwinkel zuckten amüsiert, doch er schwieg und ich wandte mich nun wahrscheinlich zum zehnten Mal um, um endlich etwas Essbares ausfindig zu machen. Ich spürte Cuinns Blick in meinem Hinterkopf, doch es machte mir nichts aus.
Nichts machte mir etwas aus. Ich war einfach nur hier, um Ruhe zu finden und zu überlegen, wie ich mein kleines Problemchen lösen konnte. Leider war dieses Problem nicht so wie die Probleme, die ich aus dem Physikstudium kannte.
Denn dieses hier war anders. Ich konnte es nicht mit Logik lösen, auch mein analytisches Denken half mir wenig.
Alles, was ich brauchte war der Mut, meinen Eltern gegenüber zu treten. Und wie es aussah besaß ich diesen Mut nicht. Denn sonst wäre ich nicht hier, feige versteckt, unter dem Vorwand eine Pause zu machen.
Der kalte Wind, der durch das geöffnete Fenster drang, sauste durch den Korridor und ließ meinen gesamten Körper erzittern. Vielleicht waren es aber auch die Erinnerungen, die mir die Luft nahmen. Zu viele Erinnerungen.
„Die Gravitationskonstante multipliziert mit dem Produkt beider Massen", flüsterte ich lautlos physikalische Formeln vor mich hin, um die Bilder aus meinem Kopf zu drängen, und schlang meine Arme um meinen zitternden Oberkörper. „Dividiert durch den Abstand der Massenmittelpunkte im Quadrat", mein Flüstern erstarb und ich zwang mich, wieder meine kalte Maske aufzusetzen, „ergibt die Anziehungskraft zweier Körper nach dem newtonschen Gravitationsgesetz." Genau genommen war es keine Maske, die ich trug, als ich mit ausdruckslosem Blick auf die Wendeltreppe zusteuerte.
Denn die Kälte war schon längst ein Teil von mir.
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