Kapitel 16 [Eve]
Als ich aufwachte, war vom nächsten Tag nicht mehr viel übrig, denn wir hatten alle bis spät mittags geschlafen. Wir verbrachten den restlichen Tag im Gemeinschaftsraum, verließen ihn nur in Gruppen, um uns die Beine zu vertreten und lernten uns gegenseitig besser kennen. In Anbetracht dessen, dass wir vielleicht bald alle sterben würden, waren wir seltsam ausgelassen und entspannt, doch mir entging nicht, dass jedes Mal, wenn jemand den Raum verließ, um auf Toilette zu gehen, ängstliche Blicke ausgetauscht wurden und sich die Gesichter erst wieder aufhellten, wenn die Person wohlbehütet zurück kam.
Ich unterhielt mich eine Weile mit Seraya über dies und jenes, sie war jedoch noch nicht wirklich gesprächig und hustete immer wieder mit verzogenem Gesicht. Ihre heisere Stimme klang resigniert und hoffnungslos, weshalb ich ihr etwas Ruhe gewährte und mich zu Cuinn setzte, der mit einem abwesendem Blick aus dem Fenster starrte und die Berglandschaft musterte.
Es dämmerte bereits und der Schnee auf den Gipfeln färbte sich orange wie auf dem Gemälde, das im Korridor hing. Seufzend ließ ich mich auf der anderen Seite der Couch nieder, während meine Augen ebenfalls über die Landschaftskulisse schweiften.
„Weißt du, ich habe zwar keine Platzangst, aber ich habe eine richtig schlimme Höhenangst", sagte Cuinn, ohne mich anzublicken. Ich hob eine Augenbraue.
„Ist das deine Art, mir zu sagen, dass du dich auch manchmal zum Affen machst, während im Nebenzimmer jemand gerade stirbt?" Cuinn schüttelte mit einem kleinen Lächeln den Kopf.
„Nein, das ist meine Art dir zu sagen, dass du nichts dafür kannst." Ein kleines Seufzen entwich meinen Lippen. „Ich weiß. Aber ich hasse es, Schuld an etwas zu sein, wenn ich weiß, dass ich etwas dagegen tun müsste und könnte."
„Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht, Eve? Wie konntest du nur?", hatten sie gesagt, mit zornigen, entsetzten, verletzten Gesichtern. „Du bist Schuld, verdammt! Du bist Schuld! Und jetzt geh uns aus den Augen!" Und ich wusste, dass sie Recht hatten. Dass ich auf ihn hätte aufpassen müssen.
Cuinns Augen wandten sich zu mir und ich konnte in ihnen sehen, dass er darauf wartete, dass ich weitersprach. Doch ich konnte nicht, die Worte blieben in meinem Rachen stecken.
„Ich weiß, wie du dich fühlst.", sagte er leise, woraufhin ich ihm am liebsten entgegen geworfen hätte, dass er keine Ahnung hatte, wie ich mich fühlte, doch irgendetwas in seinem Blick sagte mir, dass er es wirklich verstand, dass er das Gefühl von Schuld und Reue, das sich in den Magen einbrannte, kannte. Ich öffnete meinen Mund, doch ich brachte nur ein paar stammelnde Worte hervor, weshalb ich schlagartig verstummte.
„Habe ich dir die Sprache verschlagen, Eve?", fragte Cuinn amüsiert. Ich schluckte, wohl wissend, dass meine nächsten Worte wehtun könnten.
„Du weißt, wie es sich anfühlt Schuld zu sein?" Meine Stimme war leise, doch sie ließ einen Schatten über Cuinns gerade noch belustigtes Gesicht gleiten. Er wandte den Blick ab.
„Ich bin noch nicht so verzweifelt, dass ich mein Herz bei Fremden ausschütte", erwiderte er mit einer ungewöhnlich kalten Stimme, die mir einen leichten Stich versetzte, doch ich überspielte meine Enttäuschung und zuckte mit den Schultern.
„Tut mir Leid. Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Es ist mir auch eigentlich egal, ich meine, du hast ja Recht. Wir kennen uns kaum."
Cuinn schüttelte den Kopf und wirkte, als wolle er noch etwas sagen, seine Lippen kräuselten sich jedoch letztendlich nur zu einem kleinen Lächeln.
„Du kannst erstaunlich gut deine Gefühle verbergen", sagte er mit einem selbstbewussten Blick, der mir verriet, dass er seine Fassung wiedergefunden hatte. „Ich muss zugeben... ich war überrascht, als wir dich im Badezimmer gefunden haben. So habe ich dich noch nie gesehen. So..."
Verletzlich. Schwach.
„Habe ich dir nicht schon einmal gesagt, dass du mich nicht kennst? Du hast doch keine Ahnung."
Ich kniff die Augen zusammen. Einen Moment erwiderte er meinen kühlen Blick mit einem neugierigen Funkeln, ehe er sich nach vorne beugte.
„Also gut. Du willst wissen, woran ich die Schuld trage", sagte er leise, und seine Mundwinkel zuckten. „Und im Gegenzug sagst du mir, von was ich gar keine Ahnung habe."
Ich zuckte mit den Schultern. „Also bist du doch verzweifelt genug, dass du dein Herz vor einer Fremden ausschüttest", stellte ich schlicht fest und konnte mir mein zufriedenes Grinsen nicht verkneifen. „Nein", erwiderte Cuinn. „Ich weiß lediglich wie man Geschäfte macht."
Ich nickte mit dem Kinn. „Du fängst an zu erzählen."
Mir entgingen sein kurzes Zögern und die Zweifel in seinen Augen nicht, doch im nächsten Moment räusperte er sich und sah mich selbstbewusst an.
„Ich hätte jemanden retten können", sagte er und sein Blick glitt in die Ferne, kam jedoch rasch wieder zu mir zurück. „Ich hätte einfach nur kommen müssen. Zum vereinbarten Ort, zur vereinbarten Zeit. So wie ich es versprochen habe." Er schluckte und lächelte, als würde es ihm nichts ausmachen, darüber zu sprechen, doch ich konnte das Glänzen in seinen dunklen Augen selbst im spärlichen Licht des Gasthauses erkennen.
„Aber ich bin nicht gekommen. Und diese Person...sie ist gestorben." Er schwieg einen Moment, erwiderte ohne zu blinzeln meinen Blick, doch ich wusste, dass er in Wahrheit weit weg war. Dort, wo ihn niemand beschützen konnte. In seinen eigenen Gedanken, die ihn mit Reue und Schuldgefühlen vergifteten, ihn zerfraßen wie Würmer einen Apfel.
Ich wollte irgendetwas Tröstendes sagen, doch was würden diese Worte bringen? Er blinzelte, dann legte er den Kopf schief.
„Und jetzt du, Eve. Was ist passiert, dass du dir selbst in einer Situation wie heute die Schuld gibst?" Meine Augen huschten hin und her. Verantwortung. Ich hasse dieses Wort und doch hatte ich sie und habe sie auch gestern getragen.
„Auch ich hätte jemanden retten können", sagte ich und ein leises, bitteres Lachen entschlüpfte meinen Lippen. „Ich habe ihn mitgenommen, habe ihn begleitet, weil er es sich so sehr gewünscht hat." Ein großer Teil von mir wollte wegblicken, Cuinns Blick ausweichen, doch ich zwang mich ihn anzusehen. Ich muss mit meinen Fehlern leben. „Es war meine Verantwortung, auf ihn aufzupassen, verstehst du? Es war meine Pflicht als... als große Schwester auf ihn aufzupassen."
Ein dicker Kloß hatte sich in meiner Kehle gebildet und meine Gedanken rasten, fragten, wieso ich über den Vorfall sprach, der mich kaputt gemacht hatte, wieso ich einem Fremden von dem schlimmsten Fehler meines Lebens erzählte.
„Aber weißt du, was ich stattdessen getan habe? Während mein kleiner Bruder gestorben ist?", ich lachte erneut verbittert auf und wollte Cuinn dazu auffordern, mich anzuschreien, mich für meinen Fehler zu verspotten, doch seine Miene war unleserlich, seine Augen ruhten auf mir und er lauschte schweigend meinen Worten.
„Ich habe mich versteckt. Im Badezimmer. Weil ich jemanden gesehen habe, dem ich nicht begegnen wollte. Weil ich mich nicht getraut habe, ihm gegenüberzutreten, weil ich ein verdammter Feigling bin! Während ich mich versteckt habe, ist mein kleiner Bruder gestorben." Ich spuckte Cuinn meine Worte förmlich ins Gesicht, war selber überrascht über den verbitterten Zorn der in meiner Stimme lag. Meine Augenlider flatterten und ich atmete tief durch, ehe ich mir über den Nasenrücken strich, um mich selbst zu beruhigen.
Cuinn wirkte keinesfalls schockiert über meine wütende Hassrede, denn er legte den Kopf in den Nacken und starrte schweigend an die Decke.
„Ich wusste doch, dass du versuchst etwas zu verdrängen", murmelte Cuinn.
„Ja, ja, du hast immer Recht", erwiderte ich, ohne meinen Ärger zu verbergen, doch dann wurde meine Stimme versöhnlicher. „Es tat gut, jemandem davon zu erzählen", gab ich leise zu und entdeckte auf Cuinns Lippen ein Lächeln.
Seine Finger griffen an seinen Hals und er zog eine antik aussehende, goldene Kette unter seinem T-Shirt hervor. Der Anhänger war eine schlichte, winzige Kugel, die genauso golden wie die Kette selber war und mit filigranen Einkerbungen geschmückt war.
„Diese Kette hat sie mir geschenkt. Meine Cousine, weißt du. Am Tag vor ihrem Tod. Es war mein Geburtstag."
Er lächelte eins seiner seltenen, ehrlichen Lächeln, die nicht selbstbewusst sondern verletzlich wirkten. „Ich war damals sehr abwesend, habe nicht viel mit ihr unternommen und sie nur bei seltenen Familienfeiern gesehen. Sie hat mir die Kette gegeben und gesagt", Cuinn schluckte hörbar, „dass dieses Geschenk die Ketten, die sich um mein Herz gelegt haben, lösen soll. Sie hat gemeint, ihr käme es vor, als wäre mein Herz kalt und eisern geworden. Natürlich war das eher aus Spaß gemeint, aber ich weiß ganz genau, dass sie gehofft hat, dass unser Verhältnis besser wird. Sie hat mich direkt am nächsten Tag eingeladen. Damit wir einmal etwas zusammen unternehmen."
Gedankenverloren spielte Cuinn mit seiner Kette, während seine Augen auf mir ruhten. „Aber ich habe die Verabredung vergessen, weil mir noch am selben Tag eine sehr kurzfristige, berufliche Reise nach Südfrankreich angeboten wurde." Ein bitteres Lächeln umspielte Cuinns Lippen, in dem ich Scham und Selbsthass entdeckte. „Und da wird eine langweilige Verabredung mit der Cousine natürlich nebensächlich. Zu blöd aber auch, dass sie sich genau an dem Abend entschieden hat zu sterben."
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, weshalb ich ohne nachzudenken, nach Cuinns Hand griff und ihn eindringlich ansah.
„Du solltest dir nicht die Schuld geben, Cuinn", sagte ich, woraufhin Cuinn die Lippen verzog. „Du solltest doch von allen am allerbesten wissen, dass so etwas leichter gesagt als getan ist", meinte er, doch als ich etwas sagen wollte, unterbrach uns Juna mit leuchtenden Augen.
„Bevor wir schlafen gehen, können wir noch zusammen Tee trinken und Noah kann ein bisschen Gitarre spielen. Wir haben nämlich eine im Keller gefunden!", erzählte sie und ihre grünen Augen strahlten wieder optimistisch.
Wie macht sie das? Wie schafft sie es in solchen Momenten, das Schöne zu sehen?
Ich lächelte matt, versuchte mich zu freuen, doch mehr als ein „Ach, das ist aber...schön" brachte ich nicht hervor.
Als Juna wieder gegangen war, und Noah gerade dabei war, die Gitarre zu stimmen, zuckten Cuinns Mundwinkel belustigt. „Eigentlich bist du ja eine gute Lügnerin, Eve", meinte er, während er die Kette wieder unter seinem T-Shirt verbarg, als wäre sie ein kostbares Geheimnis. „Aber dein 'Ach, das ist aber...schön' war nicht einmal ansatzweise überzeugend."
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