Kapitel 13 [Daisy]
Ich musste irgendwann völlig erschöpft und unterkühlt eingeschlafen zu sein, denn als ich wieder aufwachte, lag ich in meinem Bett. Warme Sonnenstrahlen legten sich auf mein Gesicht und ich blinzelte, ehe ich mich aufrichtete. Alles schmerzte und meine Finger waren immer noch blau und kalt. Ich wusste nicht, welchen Tag wir hatten, doch ich vermutete, dass bereits der nächste Morgen angebrochen war. Ein Klopfen erklang und ich zuckte zusammen.
„Ja?", fragte ich vorsichtig und griff, ohne darüber nachzudenken, nach dem Kerzenhalter, der neben meinem Bett stand. „Ich bin's. Seraya. Ich wollte bloß wissen, wie es dir geht und ob du, naja, noch da bist." Ein nervöses Lachen entwich meiner Kehle, doch ich stellte den Kerzenhalter wieder ab und atmete tief durch. Die Person weiß zu viel über mich.
„Ich komme gleich", rief ich Seraya zu und lauschte ihren Schritten, die sich langsam von meiner Zimmertür entfernten. Erst dann erhob ich mich und streckte meine kraftlosen Glieder.
„Du solltest nicht so naiv sein, was die anderen Gäste angeht. Du weißt nicht, wer sie sind und was sie getan haben", hatte die Person gesagt. Und auch auf dem Zettel hatte es gestanden. Was dein Feind nicht wissen soll, das sage deinem Freunde nicht.
Doch worauf sollte das anspielen? Darauf, dass wir einen Verräter unter uns hatten? Ich lachte leise auf, meine Finger umklammerten den Henkel der Kleiderschranktür so fest, dass meine Knöchel weiß hervortraten. Mit fest aufeinander gepressten Lippen zog ich mir saubere Klamotten an und verließ mein Zimmer, nicht ohne vorher einen Blick in den Spiegel zu werfen.
Haut so weiß wie Schnee. Lippen so rot wie Blut. Und Haar...
Genug. Ich konnte jetzt nicht auch noch damit beginnen, überall diese verfluchten Märchen miteinzubringen. Doch das Zitat aus Schneewittchen war doch kein Zufall, oder? Es war auf mich bezogen.
Ich schlug die Tür hinter mir zu und schritt langsam den Korridor entlang, denn ich war nicht in Eile. Meine Gedanken rasten, doch ich konnte nicht klar denken. Diese unglaubliche Dunkelheit.
Was, wenn es irgendetwas mit dem Vorfall vor drei Jahren zu tun hatte? Was, wenn er... ?
Meine Hände verkrampften sich und mein Atem wurde schneller, als ich die Treppe hinabstieg. Stets darauf bedacht, mein Humpeln zu verbergen. Die Übrigen empfingen mich erleichtert, als ich im Gemeinschaftsraum ankam, doch ich nahm ihre Stimmen und ihre freundlichen Gesichter kaum wahr.
Denn ich sah es in ihren Augen.
Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die größte Lügnerin im ganzen Land? Ihr Frau Königin. Aber Schneewittchen in den Bergen, bei den sieben Zwergen ist noch tausend mal verlogener als Ihr. Das hatte auf dem Zettel gestanden. Und uns allen war klar, wer mit Schneewittchen gemeint war. Vertrauten sie mir nun nicht mehr? Waren sie misstrauisch?
Ruhig setzte ich mich an den Tisch und spürte eine unbändige Wut in mir aufkeimen. Noah lächelte mich beruhigend an, doch ich sah ihn nicht an.
„Ich möchte über den Zettel sprechen", sagte ich. „Wir haben gestern Abend schon darüber gesprochen", erwiderte Kai, woraufhin meine Augen schmaler wurden.
„Gestern Abend war ich aber nicht da, weil ich mich erholen musste. Ich möchte, dass ihr mir dann sagt, was ihr gestern alles besprochen habt." Meine Stimme bebte.
„Wir sind nicht wirklich weit gekommen", schaltete Eve sich ein, die mit kühlem Blick neben Cuinn saß und sich durch ihr aschblondes Haar fuhr. „Wir haben gerätselt, was diese ganzen Zitate bedeuten, aber wir wissen es einfach nicht."
„Es tauchen zwei Märchen auf, nicht wahr?", fragte ich, woraufhin Cuinn nickte. „Ja. Ein Zitat aus Schneewittchen, das allerdings statt tausendmal schöner, von tausendmal verlogener spricht. Und das Mädchen mit den Schwefelhölzern wird erwähnt."
„Ihr dürft nicht den letzten Satz vergessen", warf Noah ein und beugte sich vor. „Dort stand, ob wir das Märchen von Dornröschen und das von der Kleinen Meerjungfrau kennen."
„Der Schlüssel muss in diesen Märchen liegen", sagte ich entschieden und erhob mich. „Ich werde mir jetzt ein Märchenbuch aus dem Büro holen und die erwähnten Märchen durchlesen." Eve nickte zustimmend.
„Wir müssen vorsichtig sein", sagte Cuinn und seine Stimme klang so eisig kalt, dass wir alle für einen kurzen Moment schwiegen und regungslos der bedrohlichen Stille lauschten.
„Danke", flüsterte ich plötzlich und blinzelte mehrmals, ehe ich mich räusperte. „Danke, dass ihr mich gefunden habt." Ich schaffte es, ein Lächeln hervorzubringen. „Sonst wäre ich wohl tatsächlich erfroren, so wie das Mädchen mit den Schwefelhölzern."
Eve beugte sich leicht nach vorne und murmelte etwas vor sich hin. Ihre Augen ruhten auf mir. „Daisy", sagte sie eindringlich. „Lies dir bitte vor allem die am Ende genannten Märchen durch. Also, Dornröschen und die Kleine Meerjungfrau." Ich nickte leicht.
Es dauerte nicht lange, die ganzen erwähnten Märchen durchzulesen, doch schlauer wurde ich daraus nicht. Ich hatte mich an einen Fensterplatz des Gemeinschaftsraumes gesetzt, um in Ruhe das dicke Märchenbuch zu durchblättern. Es fühlte sich seltsam an. Wann hatte ich das letzte Mal Märchen gelesen?
Als sich jemand neben mich setzte, schnellte mein Blick instinktiv hoch, wie ein Reh, das von Jägern in die Enge getrieben war. Mein Körper entspannte sich wieder, als ich Cuinn entdeckte, der sich mir gegenüber niederließ. Etwas überrascht legte ich das Buch beiseite und musterte ihn.
„Hast du dich schon einmal gefragt, wie es dein Entführer geschafft hat, dich an einen dunklen Ort zu bringen, und dann unbemerkt im Schnee zu vergraben? Und das alles innerhalb höchstens einer Stunde?", fragte er, so gelassen, als würde er über das Wetter plaudern. Ich kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. „Im Gemeinschaftsraum saßen Paul und Juna. Sie hätten den Entführer und dich sehen müssen. Es sei denn..."
„Es sei denn es gibt einen anderen Weg aus dem Haus zu gelangen, ohne durch den Gemeinschaftsraum zu gehen", vervollständigte ich Cuinns Satz und massierte mir die Schläfen. „Es war grauenhaft", flüsterte ich schließlich. „Ich hatte Todesangst."
„Das kann ich verstehen", meinte Cuinn, dessen Augen aus dem Fenster gerichtet waren. „Deshalb müssen wir hoffen, dass das nicht noch einmal passiert."
„Eve glaubt, dass Dornröschen und die Kleine Meerjungfrau schon eine Anspielung auf die nächste Katastrophe sein könnte", erwiderte ich angespannt, woraufhin Cuinn knapp nickte. „Ja, deshalb ist es umso wichtiger, dass wir diese zwei Märchen verstehen. Sind darin irgendwelche Hinweise?" „Nicht wirklich", antwortete ich kopfschüttelnd. „Ich habe nichts Neues erfahren. Das sind ja auch Märchen, die eigentlich jeder kennt. Habt ihr gestern wirklich nichts herausgefunden, nachdem ich wieder eingeschlafen bin?"
Meine Stimme klang zögernd, doch ich wollte es wissen. Was, wenn sie mir nicht mehr vertrauten, bloß wegen so einem dummen Zettel, den ein Psychopath hinterlassen hatte?
„Nein, wir verschweigen dir wirklich nichts", sagte Cuinn, doch er konnte natürlich auch lügen. „Glaub mir, niemand hat eine Ahnung, was diese Märchen zu bedeuten haben. Nicht einmal Eve."
„Eve hasst Märchen ja auch."
„Wirklich, tut sie das?" Cuinns Lippen formten ein kleines Lächeln. „Das wundert mich irgendwie nicht."
„Habe ich ihr auch gesagt", sagte ich grinsend. „Wenn Märchen in Zahlen und Gleichungen geschrieben wären, würde sie sie aber bestimmt mögen."
„Ich tue jetzt einfach mal so, als hätte ich das alles nicht gehört", erklang eine Stimme aus dem anderen Ende des Raumes. Eve stand im Türrahmen und ihr sonst ernstes Gesicht wirkte amüsiert, als sie zu uns trat und sich neben mir niederließ. Cuinn hob fragend eine Augenbraue, als er in Eves Händen einen Schnellhefter entdeckte. „Was ist das?", wollte er interessiert wissen und auch ich beugte mich neugierig nach vorne, um einen Blick darauf zu erhaschen.
„Das ist ein Grundplan des Hauses", erwiderte sie und Cuinns braune Augen leuchteten auf. „Hier finden wir vielleicht den Gang, über den der Entführer zu Daisy gelangt ist, ohne gesehen zu werden!"
Eve nickte zufrieden und deutete mit ihrem Finger auf die Zeichnung. „Hier ist die Treppe, die vom Gemeinschaftsraum ausgeht. Das Problem ist, ich sehe keine andere Treppe, die in den zweiten Stock führen könnte."
„Vielleicht ist der Entführer geflogen", schlug Cuinn vor. „Wer weiß das schon, wir sind hier immerhin in einem verdammten Märchen gelandet." „In einem verdammt gruseligen Märchen", fügte Eve hinzu.
„Oder er ist an einem Seil in eines der Gästezimmer geklettert", meinte ich nachdenklich, woraufhin sich Eves Augen aufhellten. „Ja, das klingt auf jeden Fall logischer als Cuinns Idee mit dem Fliegen", sagte sie, woraufhin Cuinn eine gespielt beleidigte Miene aufsetzte, die jedoch kurz darauf von einem freudigen Aufleuchten ersetzt wurde.
„Wisst ihr, was mir gerade aufgefallen ist?" Er deutete mit dem Finger auf den Zettel mit den Märchenzitaten, der neben mir lag. „Es kann natürlich auch Zufall sein, aber eines dieser Märchen ist immer von Hans Christian Andersen und das Zweite von den Gebrüdern Grimm."
„Also, wer die Gebrüder Grimm sind, weiß ich noch, aber wer zur Hölle ist Hans Christian Andersen?", unterbrach Eve ihn, woraufhin Cuinn sie zufrieden ansah. „Es fühlt sich gut an, etwas besser zu wissen als du", meinte er, wurde dann jedoch wieder ernst. „Er ist ein berühmter Märchenschreiber. Das Interessante ist, dass seine Märchen sehr oft schlecht enden."
„Stimmt", murmelte ich. „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern erfriert am Ende. Und die Kleine Meerjungfrau stürzt sich ins Meer." Wir schwiegen einen Moment, ehe Cuinn sich räusperte. „Daisy. Du bist fast erfroren, hätten wir dich nicht gefunden." Ich nickte wie benommen und starrte ihn an.
„Sie ist das Mädchen mit den Schwefelhölzern", flüsterte Eve blinzelnd und ihre Fingerspitzen berührten schockiert ihre Schläfe. „Was passiert noch einmal mit der Kleinen Meerjungfrau?"
„Sie stürzt sich ins Meer", sagte Cuinn leise und wir wechselten erschrockene Blicke.
Bitte lieber Gott, betete ich stumm. Lass uns nicht Recht mit unserer Vermutung haben. Lass uns bitte nicht Recht haben...
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